Eine zweite Chance

Autor: KleinesBabe
veröffentlicht am: 05.12.2004




Biep! Ich schaltete den Computer ein. Ungeduldig wartete ich, bis er langsam hochfuhr. ,,Mach, blöde Kiste!’’, schimpfte ich. Ich wollte so schnell wie möglich chatten. Mich in das Gewühl der Leute flüchten, die eigentlich bloß virtuell zu sehen waren. Chatten war für mich das Einzige, was mich vor dem Alltag retten konnte. Dem grausamen Alltag, den ich jeden Tag aufs Neue erleben musste. Ach, wenn doch nur Tobias da wäre... Mein lieber, süßer Tobias... Wo bist du nur? Warum hast du mich verlassen? Wir waren doch so glücklich... Tränen liefen mir die Wangen hinunter. Tränen der Wut und Verzweiflung. Drei Monate lang ging es gut, zwischen Tobias und mir. Wir hatten uns auf dem Schulfest letzten Jahres kennen gelernt und waren Freunde geworden. Bis wir uns dann verliebt hatten. Drei Monate... Und jetzt war Alles vorbei... Ich konnte nicht mehr. Tränen tropften auf das Keyboard. Ich versuchte nicht, es zu verhindern. Sollte die Kiste doch kaputt gehen, das brachte mir meinen Tobias auch nicht zurück! Ich schaltete den Computer wieder ab. Es war das erste Mal seit einer Woche, wo ich nicht am Computer saß und chattete. Ich mochte nicht mehr leben! Ich musste etwas tun, sonst wurde ich noch verrückt! Raus, nur raus! Ich rannte in den Flur, riss meine Jacke von der Garderobe und hastete aus dem Haus. Die Treppenstufen hinunter, aus der Einfahrt, in eine kleine Seitenstraße. Ich hörte nicht auf zu rennen. Bis ich mich völlig aus der Puste ins Feld fallen ließ. Ich starrte hinauf in den Himmel. Einen wolkenlosen Himmel. So kalt und leer fühlte sich jetzt auch mein Herz an. Ich spürte den kalten Boden unter mir, der langsam meine Kleider durchnässte. Aber das machte mir nichts aus. Mir war Alles egal. Ich schloss die Augen und sah Tobias’ Gesicht vor mir. Wie er lächelte. Ganz zärtlich gab er mir einen Kuss auf den Mund. ,,Mädchen, steh auf! Sonst erkältest du dich noch!’’ Ich schreckte hoch. Ein älterer Mann stand auf einen Stock gestützt am Feldrand und schaute mich tadelnd an. ,,Was machst du denn hier ganz alleine? Und warum liegst du auf dem Boden? Es ist ziemlich kalt heute, lauf schnell nach Hause, damit du dich nicht erkältest!’’ Ich stand auf. Ohne den Mann auch nur eines Blickes zu würdigen, ging ich in Richtung Stadt. Ich spürte den ratlosen Blick des Mannes in meinem Rücken. Aber ich konnte mich nicht umdrehen. ,,Hey Mädchen, komm gut nach Hause!’’, rief er mir noch nach. Aber ich konnte nicht antworten. Stattdessen rannte ich. Ich rannte, aber in die falsche Richtung. Erst tief im Wald blieb ich stehen. Tränen tropften auf den feuchten Waldboden. Ich fiel auf die Knie. ,,Ach Tobias...’’, schluchzte ich, ,,Bitte komm zu mir zurück!’’ Es knackte im Gehölz. Ich blickte nicht auf. Sollte mich doch jemand mitnehmen, mich entführen, mich umbringen! Dann müsste ich dieses Leid nicht mehr ertragen... Aber es war kein vermummter Kidnapper, der mich töten wollte, sondern der alte Mann von vorhin. ,,Kleines, was machst du denn hier?’’, fragte er, ,,Willst du denn gar nicht dach Hause gehen?’’ ,,Nein...’’, schluchzte ich, ,,Ich will zu meinem Tobias!’’ ,,Liebeskummer?’’, fragte er mitfühlend, ,,Das kenne ich. Ist schlimm, Kleines, aber es geht wieder vorbei, bestimmt!’’ ,,Nein...’’, heulte ich, ,,Es wird nie mehr so, wie es einmal war!!’’ ,,Ach Quatsch, das wird schon wieder!’’ Er hob mich mit erstaunlicher Kraft auf die Beine. ,,Komm mit mir nach Hause, dann mache ich dir eine heiße Schokolade!’’ Ich nickte. Ich brauchte jetzt jemanden zum Reden, auch, wenn mich dieser Opa bestimmt nicht verstehen würde.
Der Mann wohnte in einem kleinen Häuschen, mit winzigem Garten. ,,Ist nicht sehr groß, ich weiß, aber mir reicht’s, besucht mich ja sowieso fast nie jemand.’’ Er verschwand in der Küche. ,,Setz dich doch und fühl dich wie zu Hause! Und dann kannst du mir erzählen, was dich bedrückt.’’ Ich bewunderte die Güte dieses Mannes und im selben Moment tat es mir leid, dass ich zuvor so unfreundlich zu ihm gewesen war. ,,Also, es fing Alles damit an, dass ich Tobias auf dem Weihnachtsfest meiner Schule kennen lernte...’’, fing ich an. Ich zögerte. ,,Erzähl ruhig weiter, Kleines, lass dich nicht stören!’’, murmelte er. ,,Ich, äh...’’, stotterte ich. Und auf einmal sprudelte Alles aus mir heraus; wir er mich angesprochen hatte, wir zum aller ersten Mal miteinander geredet hatten, unser erster Kuss, unsre gemeinsamen Stunden, einfach Alles. Der Mann hörte mir aufmerksam zu, bis ich schließlich damit endete, wie er mir dann einfach in der Schule gesagt hatte, dass es aus wäre. ,,Tragisch, sehr tragisch...’’, murmelte er. ,, Und er hat dir noch nicht mal gesagt, warum er Schluss gemacht hat?’’ ,,Nein...’’, flüsterte ich. Er setzte sich zu mir auf die Couch. ,,Sieh mal, Kleines... Im Leben gibt es viel Höhen und Tiefen. Man erlebt glückliche Momente, aber auch harte Zeiten. Ich bin schon alt, ich kenne das... Aber merk dir Eins: Es geht immer weiter, egal, wie aussichtslos die Lage scheint! Schon bald wirst du einen neuen Jungen kennen lernen, der mindestens genauso süß ist, wie dein Tobias, glaub mir! Ich spreche aus Erfahrung...’’ Doch ich konnte das nicht glauben. ,,Nein, Tobias ist der einzige Junge für mich, ich will nicht ohne ihn leben!’’, schrie ich. Der Mann verzog keine Miene. ,,Ach Kindchen, warte nur ab, es wendet sich Alles zum Guten...’’ Ich stand auf. ,,Ich muss jetzt los, es wird schon dunkel.’’, sagte ich. Ich wollte nur weg, von dem gütigen alten Mann. Er war mir ein bisschen zu gütig geworden. ,,Na okay Mädchen... Aber ich bringe dich noch ein Stückchen nach Hause, damit du mir keine Dummheiten machst!’’, sagte er und zwinkerte mir zu.

,,Nicole, da bist du ja!’’ Meine Mutter schloss mich erleichtert in die Arme. ,,Wo warst du denn? Wir haben uns solche Sorgen gemacht!’’ ,,Ist schon okay, sie hat nur einen alten Mann nach Hause begleitet.’’, beruhigte Herr Janson (so hieß der alte Mann) sie. ,,Vielen Dank, dass sie sie nach Hause gebracht haben, Herr Janson!’’, meinte meine Mutter. ,,Nichts zu danken...’’, wehrte er ab, ,,Sie ist ein nettes Mädchen.’’ Und lächelte mir zu.

Später, in meinem Zimmer, musste ich an die Worte des alten Janson denken und musste mir eingestehen, dass sie mir langsam gar nicht mehr so unglaubhaft vorkamen. Vielleicht gab es irgendwo da draußen doch noch einen Jungen, der mich liebte und den ich auch liebte. Und der mich nie verlassen würde...

Fünf Minuten später saß ich auch schon am Computer und lockte mich bei meinem Lieblingschat ein: Kuschels. Ich hatte eine Idee. Warum auch nicht? Ich gab in das Feld unten den Befehl ,,BLINDDATE’’ ein und wartete. Keine zwei Sekunden später teilte mir Karl, der Butler mit, dass ein Blinddate für mich gefunden worden war. Ich war neugierig und klickte auf ,,ANNEHMEN’’. Gleich darauf wurde ich in einen separaten Raum ,,gebeamt’’, wo mein ,,Blinddate - Partner’’ auf mich wartete. ,,Hallo’’, schrieb er. ,,Hi’’, antwortete ich. ,,Wollen wir chatten?’’, fragte er. Ich antwortete: ,,Klar, warum nicht?’’ Wir chatteten eine Weile, bis er plötzlich frage: ,,Hast du einen Freund?’’ Ich antwortete erschrocken: ,,Nein, hatte ich vor Kurzem, aber der hat mich verlassen...’’ Völlig überrascht war ich, als er meinte, ihm wäre das Selbe passiert, nur, dass er seine Freundin hatte verlassen müssen. Da kam mir ein Verdacht. ,,Wie hieß denn deine Freundin?’’, fragte ich. ,,Nicole’’, antwortete er sofort. Mir rutschte das Herz in die Hose. ,,Und warum musstest du sie verlassen?’’, fragte ich. ,,Weil es nicht anders ging’’, kam die Antwort zurück. Jetzt musste es raus. ,,Und warum ging es nicht anders? Warum konnten wir nicht einfach zusammen bleiben?! Es war doch so schön, so wie es war...’’ Schweigen am anderen Ende der Leitung. ,,Noch da?’’ fragte ich ungeduldig. ,,Nicole?’’ ,,Ja, ich bin es...’’, tippte ich mit Tränen in den Augen ein. ,,Oh... Tut mir leid... Ich wollte dich nicht verletzen...’’, kam es zurück, ,,Aber ich konnte nicht anders... Mein Kumpel hat mich erpresst... Er kann dich nicht leiden, deswegen hat er gedroht, mir, wenn ich dich nicht verlasse, etwas unterzujubeln, Drogen oder so... Damit ich dann angeschwärzt werde... Ich wollte es nicht, glaub mir... Es hat mir mindestens genauso weh getan, wie dir... SORRY, ehrlich!!’’ Stille. Ich wusste nicht, was ich jetzt noch sagen sollte. Er hatte mich verlassen, weil sein Kumpel ihn mit Drogen anschwärzen wollte?! So viel war ich ihm also wert... Das war zuviel. Ich konnte nicht mehr. Tränen tropften auf das Keyboard und nahmen mir die Sicht. Ich schoss den Computer ab und rannte hinaus. Aus dem Haus, zu Janson. Er war der Einzige, der mir jetzt helfen konnte.
An seinem Haus angekommen hämmerte ich so kräftig an die Tür, dass ein Hund in der Nachbarschaft anfing zu knurren. Janson öffnete und rief entsetzt: ,,Kindchen, was ist denn passiert? Komm rein!’’ Ich stürmte in den Flur. ,,So und jetzt beruhigst du dich erst mal und erzählst mir ganz genau, was passiert ist.’’ Er drückte mich auf einen Stuhl. ,,Tobias...’’, schluchzte ich, ,,Er hat mich verlassen... wegen... seinem Freund... Der kann mich nicht leiden... und wollte ihm... Drogen unterjubeln... damit er... angeschwärzt wird...’’ Janson schaute mich entsetzt an. ,,Beruhige dich, Kindchen, Alles wird gut!’’ Er legte den Arm um mich. ,,Du denkst jetzt bestimmt, du wärst ihm nicht viel wert... Weil er dich wegen einer Drohung verlassen hat... Aber ich war selbst mal in so einer verzwickten Lage... Und glaub mir, ich habe das Mädchen damals sehr geliebt...’’ Ich schaute auf. ,,Hat sie ihnen damals verziehen?’’ ,,Nein, leider nicht...’’ Janson war auf einmal wie verwandelt. Er sah ziemlich traurig aus. ,,Ich wollte damals keine andere Frau, ich hatte eine, mit der ich auch einen Sohn bekommen habe... Ich habe sie wirklich sehr geliebt... Bis sie dann vor drei Jahren gestorben ist...’’ ,,Das - Das tut mir leid...’’ Ich hatte aufgehört zu weinen. Die Worte des alten Janson hatten mich sehr gerührt. ,,Ach was! Ich bin auch so ganz glücklich!’’, sagte Janson und lächelte. ,,habe ja meinen lieben, kleinen Enkel.’’ Auf einmal öffnete sich die Hintertür. ,,Oh, das wird er sein.’’, sagte Janson. Mir bleib das Herz stehen. In der Tür stand... ,,Tobias!’’, rief ich und fiel ihm in die Arme. ,,Es tut mir so leid, Tobias!’’, schluchzte ich, ,,Ich hätte nie sauer auf dich sein dürfen!’’ ,,Ach was meine Kleine!’’, wehrte er ab, ,,Ich kann dich verstehen... Aber glaub mir, mir ist es jetzt ganz egal, ob mir mein Kumpel Drogen unterjubelt... Für dich würde ich sogar ins Gefängnis gehen!’’ Glücklich umarmte ich ihn. Der alte Janson stand daneben und lächelte. ,,Eine hübsche Freundin hast du da!’’, sagte er an Tobias gewandt, ,,Und sehr nett! Pass gut auf sie auf!’’ Und damit verschwand er in die Küche. ,,Ich werde dich nie mehr gehen lassen, meine Süße!’’, versprach er, Nie mehr!’’ Schließlich kamen wir uns näher und versanken in einem leidenschaftlichen Kuss, der nie mehr enden sollte...









© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz