Herzensangelegenheit

Autor: Anny
veröffentlicht am: 29.12.2014


„Der Sinn des Lebens“? 10.300.000 Ergebnisse in 0,26 Sekunden. Wie kann man so viele Erklärungen in so kurzer Zeit für eine so komplexe Frage finden? 10.300.000 Antworten, obwohl es nur 7.275.029 Menschen auf der gesamten Welt gibt. Darf man mehr als nur eine Antwort auf diese Frage haben? Dürfen und vor allen haben schon Kinder eine Antwort auf diese Frage? Muss man nicht eine meterlange Liste von Erfahrungen haben, um sagen zu können, dass man eine Antwort gefunden hat? Gibt es überhaupt eine Antwort?
Fragen über Fragen. Antworten über Antworten. Aber keine scheint mir die Richtige zu sein. Keine die für mich richtig ist. Am Ende eines jeden Lebens, das ist sicher, steht der Tod. Doch jedes Ende ist auch ein Anfang. Also ist der Tod ein Anfang. Ein Anfang für was? „Ende ist Anfang und gar nicht schlimm.“ Aber ist es nicht schwer anzufangen? Weiß man, wenn man tot ist, dass man jetzt anfangen muss oder wie ist das? Vielleicht ist das ja wie ein Instinkt. Wie der Instinkt zu überleben. Der Instinkt der greift, wenn der zum Überleben gebrochen ist. So oder so ähnlich.
Ich habe mir nie Gedanken über das Sterben gemacht und vor allem nicht über das was danach kommt. Was vermutet wird, das kommt. Wenn überhaupt etwas kommt. Warum sollte man sich mit 18 auch schon Gedanken über solche Dinge machen. Heutzutage wird der Durchschnitt doch sehr viel älter als 18. Ich hab das ganze Leben noch vor mir, warum dann Zeit für sowas verschwenden. Mit 18 macht man sich Gedanken über Mädels, Partys, Studium oder Ausbildung und vor allem über das hier und jetzt. Wenn man dann aber seit Wochen nur Arzttermine im Kalender markieren kann, anstatt die Partys und Dates, die man eigentlich markieren wollen würde und quer durch das Land reist um Spezialisten aufzusuchen, anstatt einen aufregenden Roadtrip mit seinen besten Kumpels zu unternehmen, ja dann macht man sich Gedanken über solche Dinge. Extrem wird es dann, wenn keiner der zahlreichen Arztbesuche Aufschluss und Heilung bringt. Dann fragt man sich, was ist eigentlich der Sinn des Lebens. Was kommt nach de m Tod. Vielleicht einfach leben und das was man tut aus voller Freude zu tun, alles auf sich zukommen zu lassen. Weniger Suchen, mehr Finden. Aber was finden? Mir fehlt verdammt noch einmal die Zeit um etwas zu finden.
Wenn ich mich umsehe, sehe ich nur weiße Wände, weiße Fliesen. Der Raum wirkt steril, ist er sicherlich auch, immerhin ist es ein Krankenhauszimmer. Als ob man im Nichts schwebt, wo die Zeit nie vergeht, aber auch sonst niemand außer mir ist. Die Tür geht auf und der Arzt betritt das Zimmer. „Sie sind endlich wach. Eine Gute und eine Schlechte Nachricht.“, sagt er und sieht mich eindringlich an. „Die schlechte, ich sterbe und die gute, aber erst in einem Jahr?“, sage ich mehr als dass ich frage. „Nicht ganz. Die Gute ist, wir wissen was ihnen fehlt. Die schlechte, sie haben einen Monat. Maximal.“ Der Arzt beginnt zu erläutern was ich mich womöglich töten wird, was mich hier in diesem beschissenen kleinen sterilen Raum langsam, nein schnell, aufrisst und mich letztendlich krepieren lassen wird. Ich höre gar nicht zu, sehe nur gedankenlos an die Wand. Eigentlich ist es mir egal, da ich ohnehin nur diesen einen Monat habe. Was nützt mir zu wissen, was genau mich tötet. Es änder t ja nicht die Tatsache, dass ich sterbe. „Es sei denn, sie bekommen innerhalb dieses Monats ein Spenderherz.“, endet der Arzt und erregt so meine Aufmerksamkeit. Ein Spenderherz. Ein Herz eines anderen Menschen. Der Motor des Körpers. Die Maschine, die ihn zum Funktionieren bringt. „Wie komme ich an ein Spenderherz?“, frage ich ruhig. Es erschreckt mich wie ruhig ich geworden bin, wie gleichgültig. Ich habe alles so einfach hingenommen, mich nicht gewehrt. Vielleicht war das falsch. Vielleicht hätte ich kämpfen sollen. Vielleicht bin ich auch einfach nur realistisch. „Nun ja, es gibt eine Liste. Es gibt Menschen die schlimmer dran sind als sie?“, antwortet der Arzt ohne meine Frage wirklich zu beantworten. „Ich bekomme kein Herz, nicht in einem Monat.“, sage ich wissend und sehe ihm direkt in die Augen. Dort ist kein Funkeln, kein Licht, keine Hoffnung. Schwarz, trüb, traurig und doch aussagekräftig. „Es tut mir leid.“, sagt er Arzt. Es klingt wie einstudiert, es kommt ganz
automatisch aus ihm heraus. Wie oft er diese Worte schon benutzt haben muss. Wenn man Worte so oft benutzt, werden sie nicht irgendwann wertlos? Sicherlich tut es ihm leid, dass ich sterben muss, aber wird es nicht irgendwann zur Routine Menschen sterben zu sehen? Hört die Anteilnahme nicht irgendwann einfach auf? Und vor allem ist es erfüllend solche Nachrichten zu überbringen? Sieht so sein Sinn des Lebens aus? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich könnte das nicht, anderen Menschen zu sagen, dass sie in einem Monat sterben werden. Es ist nicht einfacher zu verkünden, dass man selbst sterben wird?
1 Monat. 4 Wochen. 30 Tage. 720 Stunden. 43200 Minuten. 2592000 Sekunden.
So sieht die Realität aus, so viel Zeit bleibt mir. So wenig Zeit bleibt mir.
Ich frage mich, ob es meiner Familie und meinen Freunden auch so klar ist, dass ich sterben werde? Und vor allem, dass weniger Zeit bleibt, als jemals gedacht. Sie rechnen bestimmt mit 10 Jahren, die pessimistischen vielleicht mit 3 Jahren. Aber es ist ein Monat. Nur einer. Nur noch einer.
Ich habe beschlossen mich selbst aus dem Krankenhaus zu entlassen. Hier gibt es keine Hilfe mehr für mich. Ich habe auch beschlossen die Medikamente abzusetzen, sie retten mich sowieso nicht. Ich habe beschlossen Nachhause zu gehen.

3 Wege nachhause zu kommen. Ich rufe meine Eltern an, ich fahre Bus oder ich laufe. Meine Eltern will ich nicht anrufen, weil ich noch nicht weiß was ich ihnen sagen soll. Der Bus? viele Menschen, stickige Luft, unzufriedene Gesichter, alte zerbrechliche Menschen, schreiende Schulkinder. Nein, nicht der Bus. Also laufe ich. Bei weitem der umständlichste Weg und vor allem der anstrengendste. Wenn das Herz nach und nach von einem Tumor zerfressen wird, vielleicht nicht die beste Idee, aber die belebenste. Der Wind pfeift mir um die Ohren, ich höre das Rauschen des Sees, der unweit von mir durch die ganze Stadt fließt. Ich höre die Vögel zwitschern und die Schwalben fliegen tief. Es wird regnen heute. Ich bin gedankenverloren ohne an etwas zu denken. Ich bin leer. Lebensmüde. Immer wieder stelle ich mir selbst die Frage, ob ich das überhaupt überleben will und wann ich angefangen habe aufzugeben. Haben die anderen mich auch aufgegeben oder bin nur ich es? Langsam biege ich in un sere Straße ein. Ich sehe unser großes Haus, den prächtigen Vorgarten. Meine Mutter war schon immer sehr stolz auf ihn, sie hegt und pflegt ihn. Unser Auto steht in der Einfahrt. Meine Eltern sind also zuhause und ich weiß immer noch nicht was ich sagen soll. An der Tür fällt mein Blick auf das Klingelschild. „Tom, Kathi und Tobias Beyer.“ Was sie wohl mit meinem Namen machen werden. Ihn streichen oder ein komplett neues Klingelschild kaufen? Vielleicht lassen sie es auch so, obwohl es Schwachsinn wäre und jeden der zu Besuch kommt unnötig an meinen Tod erinnern würde. Nur unnötige Schmerzen. Ich öffne die Tür und trete ein. In dem Moment habe ich mir überlegt, einfach so zu tun als ob ich aus der Schule Nachhause komme. Als wäre nichts. Dass das nicht funktioniert war mir eigentlich klar, aber im Moment neige ich zu unlogischen Handlungen. „Tobias! Warum bist du nicht im Krankenhaus?“, fragt meine Mutter entsetzt und bleibt stocksteif stehen. „Warum bist du es nicht?“, frag e ich kalt. Dies sollte kein Vorwurf sein, sie tut alles was sie kann und ich kann verstehen dass sie es nicht erträgt mich an den zahlreichen Schläuchen und Geräten angeschlossen zu sein. Dass sie langsam genug hat quer durch das Land zu reisen und sich immer nur Sorgen zu machen. Vielleicht wäre sie froh, wenn das alles ein Ende hätte. Es platzte einfach so aus mir heraus und ich sehe wie schuldig sie sich fühlt. Mein Vater betritt das Zimmer, er war im Garten. Er trägt nämlich noch seine Gartenhandschuhe und die dreckigen Schuhe. Wie kann er seelenruhig im Garten arbeiten? Seine Liebe zu Blumen habe ich noch nie verstanden. Blumen sind schön, ohne Frage, aber wohl das Vergänglichste das ich kenne. Egal wie sehr man sie pflegt, egal wie sehr man auf sie achtete, sie verblühen, werden grau, sterben. Vielleicht sind wir Menschen den Blumen ähnlicher als ich immer dachte. „Tobias.“, sagt er und ich weiß genau, dass er sich ebenfalls fragt, warum ich hier bin, aber er spricht es nicht aus. Muss er auch gar nicht, man kann es ganz deutlich in seinem Gesicht sehen. „Hab mich selbst entlassen.“, sage ich knapp und ziehe meine Schuhe aus. Mein Verhalten muss seltsam, unlogisch, lebensmüde auf sie wirken. Für mich ergibt die ganze Arzt-Heilungs-Hoffnungs-Kacke aber keinen Sinn mehr, erscheint mir absurd. Sie sagen nichts, sondern stehen einfach nur da und starren mich an, als wäre ich ein Geist. Der Geist, der ich schon bald sein werde. Hätten normale Eltern nicht gefragt, warum ich mich entlassen habe? Ob ich hier bin, weil ich geheilt bin? Wahrscheinlich verstehen sie weit mehr, als ich erwartet habe und wahrscheinlich ist es ihnen klarer als sie womöglich selbst dachten. Ihr Kind wird sterben. Tragisch, dass sie nicht noch eins haben. Irgendwie klingt der Gedanke sarkastisch. Sie haben sich immer noch ein Kind gewünscht, aber es hat nie geklappt. Und jetzt verlieren sie mich und ich mache mich etwas darüber lustig, dass sie keinen Ersatz für mich h aben. Einen Ersatz wie sie ihn immer haben. Ein Ersatzrad für das Auto. Ein Ersatzkind für das Kind. Hätten sie ein Ersatzherz würde das Ersatzkind überflüssig sein, haben sie aber nicht. Ich sehe auf die Uhr, es ist erst um 8 Uhr morgens. Wann bin ich denn aus dem Krankenhaus gegangen? Ich erinnere mich nicht. „Ich gehe zur Schule, wir schreiben nächste Woche eine Klausur und ich muss einiges aufholen.“, sage ich und ziehe mir meine Schuhe doch wieder an und verlasse das Haus. Ohne Rucksack, ohne Schulbücher, nicht einmal einen Stift habe ich dabei. Warum ich zur Schule gehe? Ich weiß es selbst nicht so genau, vielleicht gibt mir die kleinste Aussicht auf Routine ein Stückchen von meinem Leben zurück. Vielleicht gibt mir eine Rückkehr in mein altes Leben meinen Lebenswillen wieder. Ich betrete den Schulhof und habe das Gefühl, dass mich jeder anstarrt. Es ist als wäre ich erst gestern hier gewesen. „Tobias?“, schreit es hinter mir. Warum ist jeder so erschrocken, wenn er me inen Namen sagt. Ich drehe mich um und sehe ein bekanntes Gesicht. Es ist Steve, einer meiner besten Freunde. Er bleibt ungefähr einen Meter vor mir stehen und sein Gesicht wird blass. Er sieht aus, als hätte er einen Geist gesehen, so wie meine Eltern. „Du bist wieder da.“, bemerkt er. „Ja, hab mich selbst entlassen.“, sage ich. „Hey hör zu, wir wollten dich besuchen und so ?“, fängt er an zu stammeln. Stimmt, er hatte mich nie besucht. Auch meine anderen Freunde hatten mich nie besucht. „Steve!“, ruft es freudig hinter mir. Ein blondes Mädchen hüpft freudig an mir vorbei und küsst Steve. Erst jetzt erkenne ich wer es ist. „Oh Gott, Tobias!“, schreit sie auf und hält sich die Hände vor den Mund. Es ist Laura, meine Freundin. Nein, scheinbar meine Ex-Freundin. Steves neue Freundin. Verdammt noch einmal wie lange war ich weg? „Tobias? ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll?“, beginnt Steve erneut. „Du lagst im Koma, wir wussten doch nicht dass du aufwachen würdest!“, beginnt
Laura an zu weinen. Im Koma? Ich erinnere mich nicht im Koma gelegen zu haben. Plötzlich höre ich die Sirene eines Krankenwagens und 3 Männer kommen aufgeregt auf mich zu. Einer davon ist mein Arzt. „Was zur Hölle machen sie denn hier, Herr Beyer!“, schreit er fast. „Ich habe mich entlassen und wollte zur Schule gehen. Ich schreibe nächste Woche eine Klausur.“, sage ich ruhig. „Sie haben sich nicht entlassen, sie können sich gar nicht entlassen. Sie sind heute erst aus dem Koma erwacht, wie können sie überhaupt gerade stehen!“, versucht er mir klar zu machen. Ich sehe an mir herunter und stelle fest, dass ich gar keine Schuhe tragen, sondern nur solche Schlappen, die man im Krankenhaus trägt, auch trage ich keine Kleidung, sondern nur einen Krankenhauskittel. Wie kann das sein, ich habe doch mit dem Arzt gesprochen! Er sagte ich habe einen Monat. Ich kann nicht mehr zwischen Wahr und Falsch entscheiden. Was ist nur passiert. Das Bild verschwimmt langsam vor mir und ich fall e in mir zusammen.








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