Aventurin - Your innocent Eyes (Repost)

Autor: Ascaeldor
veröffentlicht am: 03.12.2014


~Prolog~
„Es ist nicht leicht, Kind zu sein! Es ist schwer, ungeheuer schwer. Was bedeutet es, Kind zu sein? Es bedeutet, dass man ins Bett gehen, aufstehen, sich anziehen, essen, Zähne und Nase putzen muss, wenn es den Großen passt, nicht wenn man es möchte. Es bedeutet ferner, dass man, ohne zu klagen, die ganz persönlichen Ansichten eines x-beliebigen Erwachsenen über sein Aussehen, seinen Gesundheitszustand, seine Kleidungsstücke und Zukunftsaussichten anhören muss. Ich habe mich oft gefragt, was passieren würde, wenn man anfinge, die Großen in dieser Art zu behandeln.“ (Astrid Lindgren)
„Es ist nicht leicht, Kind zu sein; es ist schwer, ungeheuer schwer. Doch schwerer ist es Kind zu bleiben und gar unmöglich, wieder zu einem zu werden.“
(Kati)


„Ich weiß es nicht!“
„Was soll das heißen, du weißt es nicht? Du musst doch wissen, ob...“
„Catherine, ich kann es dir nicht sagen, denn ich weiß es nicht.“
Larry drehte ab und wagte es nicht auch nur einen Blick auf seine verzweifelte Frau zu werfen. Die stand geschockt und regungslos an der Küchenzeile, das Gesicht tränenverschmiert und ihre Stirn in nachdenkliche Falten geworfen. Ihre Hand umklammerte die Rolle mit dem Küchenpapier, mit dem sie eben noch über das Ceranfeld gewischt hatte, so fest, dass ihre Finger bereits schmerzten. Er wusste es also nicht. Wie sollte sie sich mit dieser Antwort zu Frieden geben? Innerhalb weniger Sekunden stellte er mit dieser Antwort die gesamte Beziehung in Frage. Die ganze Ehe stand auf Kipp.
„Und was gedenkst du jetzt zu tun?“ Eine Träne perlte an ihrer Wange herunter und stürzte leise zu Boden.
Larry zuckte mit den Schultern und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Er schloss die Tür hinter sich und der Schlüssel drehte sich leise. Catherine wusste genau, dass er dieses Zimmer heute nicht mehr verlassen würde. Egal, was sie tun würde, diese Tür würde für sie heute verschlossen bleiben. Wie konnte es nur so weit kommen? Es ging lediglich um einen gemeinsamen Urlaub. Doch wie so oft hatte Larry keine Zeit, um mit ihr mal wieder ein paar schöne Dinge zu unternehmen. Wie oft hatte sie versucht mit aller Kraft das Zerbröckeln der Ehe zu verhindern, doch jedesmal schaffte er es ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. Am Boden zerstört warf Catherine die Küchenrolle auf die Arbeitsplatte und blickte starr zum Fenster heraus. Es war ein kalter Wintermorgen, die Sonne war noch nicht einmal aufgegangen und ein langer Arbeitstag lag noch vor ihr.
Die Straßenlaterne vor dem Haus der MillerŽs war schon seit Monaten kaputt, doch reparieren wollte sie wohl niemand. Die Lichtkegel der anderen Lampen fielen kalt auf den Asphalt der Straße und Catherine zog ein eisiger Schauer über den Rücken. Was für ein schrecklicher Beginn für einen Tag, der noch so anstrengend werden würde.
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und versuchte die Fassung zu bewahren. Zielsicher lief sie durch die große Wohnung, direkt ins Schlafzimmer, um sich dort für die Arbeit fertig zu machen. Aus dem Wohnzimmer vernahm sie LarryŽs Schritte zum Bad, das Knarren der Tür. Schließlich die Spülung der Toilette und seine Schritte zurück ins Arbeitszimmer. Indes schlüpfte sie in ihre cremefarbene Bluse und ihren schwarzen, knielangen Rock. Nachdem sie sich vor dem Spiegel begutachtet hatte, warf sie einen Blick auf die Uhr und geriet in Eile. Sie war spät dran. Das Gespräch mit ihrem Mann hatte sie vollkommen aus der Bahn geworfen und sie hatte wohl die Zeit vergessen. Hastig lief sie zur Garderobe, schlüpfte in ihren Mantel und eilte zu ihrem Wagen.
Nach zwanzigminütiger Fahrt erreichte sie das Parkhaus, welches direkt gegenüber ihrer kleinen Modeboutique stand und stellte ihren Wagen ab. Um kurz vor neun schloss sie die Tür zu ihrem Laden auf und atmete tief durch. Prüfend blickte sie über die vielen Kleiderständer, versicherte sich, dass die Schaufensterpuppen vernünftig aussahen und ob ihr Make up den morgendlichen Streit einigermaßen überlebt hatte.
Hinter dem Ladentisch standen zwei große Kartons, die CatherineŽs Blicke auf sich zogen. Verärgert warf sie ihre Stirn in Falten. Sie hatte Nina doch gesagt, dass diese Ungetüme noch ausgeräumt werden müssen. Und doch standen sie immer noch da herum und versperrten den Weg zur Kasse. Nina würde etwas erleben können, wenn sie aus dem Urlaub zurück kam.
Catherine packte kurzerhand die neuen Kleider und Blazer aus und machte die Kartons klein, als es schellte und eine Stammkundin in ihr Geschäft trat.
„Guten Morgen Miss Gardener! Sie sind heute aber früh dran.“
„Guten Morgen Kindchen. Ja, in meiner Wohnung halte ich es nicht lange aus. Wissen Sie, nebenan die Miss Leoni, ich habe es Ihnen immer gesagt, da stimmte etwas nicht.“
„Ja, ja. Das haben Sie. Und? Konnten Sie etwas in Erfahrung bringen?“
„Sicher!“ Miss Gardener, eine reiche, ältere Dame mit weißem, vollem Haar und dickem Pelzmantel, hob bestimmt den Zeigefinger. „Sie ist tot. Ich habe es selbst gesehen. Der Bestatter war da und hat die Leiche der Frau aus der Wohnung geholt. Sie glauben nicht, wie mulmig mir zu Mute war, Kindchen.“
„Ich kann es mir vorstellen.“ Catherine nickte ihr zustimmend entgegen und nahm ihr den schweren Mantel ab.
„Ich habe immer gesagt, dass nebenan etwas nicht in Ordnung ist. Die war mir viel zu ruhig!“
„Aber Sie hatten sich doch so beschwert, weil sie Ihnen keine Ruhe lassen wollte? Hatten Sie sich nicht so doll gestritten?“
„Allerdings! Weil sie mich beleidigt hat! Sie sagte immer, ich wäre so hochnäsig...“
„...und aufgeblasen. Ja das sagten Sie.“
„Ach...“ Miss Gardener begann zu lachen und atmete schwer. „Ich habe Ihnen diese Geschichte schon so oft erzählt, dass Sie schon fast mitreden könnten, Kindchen.“
„Dafür müssen Sie sich nicht entschuldigen.“
„Ich werde alt. Langsam werde ich vergesslich. Erst heute morgen konnte ich meinen Schlüssel nicht finden. Den ganzen Morgen habe ich gesucht und wo lag er?“
Catherine zuckte mit den Schultern und blickte die alte Dame fragend an.
„Na auf der Kommode im Flur. Da, wo ich ihn immer hinlege.“ Wieder lachte sie mit ihrem schweren Atem auf und schüttelte den Kopf. „Ihr Morgen war sicher nicht so anstrengend was?“
„Nein.“ Catherine schüttelte den Kopf und blickte schnell in eine andere Richtung. Es ziemt sich schließlich nicht, vor der Kundschaft in Tränen auszubrechen. Doch egal, wie weit sie ihren Kopf auch weg drehte, Miss Gardener entging nichts.
„Sie sehen nicht gut aus. Stimmt etwas nicht Kindchen?“
„Nein, alles ist in Ordnung. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Sachte zuckte Miss Gardener mit den Schultern und kurz darauf wühlten sich beide durch die Berge an Kleidern und Hosen.
So war es immer. Catherine nahm sich für jeden Kunden Zeit und beriet ihn ehrlich. Ihrer Vorstellung nach gab es nichts Schlimmeres, als falsch beraten zu sein. Egal um was es ging. Gegen achtzehn Uhr Abends schloss sie ihren Laden und setzte sich an die Abrechnung. Viel hatte sie heute nicht verkauft, aber das war auch kein Wunder. Seitdem die Stadt diese riesige Baustelle an der großen Kreuzung errichtet hatte, verirrte sich kaum noch jemand zu ihr in den Laden. Doch das Geschäft musste laufen, denn es war im Moment ihre einzige Geldquelle. LarryŽs Bücher verkauften sich nur schleppend, fast gar nicht. Auf der letzten Auflage war er sogar sitzen geblieben. Von zehntausend gedruckten Werken wurden nur knapp dreihundert verkauft. Eine Katastrophe, woraufhin ihm der Verlag kurzerhand gekündigt hatte. Das Ganze lag ein gutes Jahr zurück und bisher hatte er es nicht geschafft sich wieder in das Arbeitsleben zu integrieren.
„Nur drei Stücke.“ murmelte Catherine traurig vor sich hin. „Und die waren auch noch reduziert.“ ergänzte sie sich selbst und legte ihre fertige Kassenabrechnung in den kleinen Safe im Hinterzimmer des Ladens. Nachdem sie auch die Geldkassette dort verstaut hatte, schaltete sie überall das Licht aus und verließ ihr Geschäft.
Es schneite heftig und die Straße war menschenleer. Ein trostloser Sonntag stand ihr bevor und bei dem Gedanken daran, dass sie das Gespräch von heute Morgen noch einmal anschneiden musste, wurde ihr flau. Allerdings wollte sie sich auch nicht einfach mit einem „Ich weiß es nicht.“ abspeisen lassen.
Also fuhr sie auf direktem Weg nach Hause. Sie parkte ihren Wagen und suchte angestrengt nach dem Wohnungsschlüssel. Im Haus wurde sie noch von einer jungen Frau angerempelt, die wohl keine Zeit hatte, sich dafür zu entschuldigen. Doch Catherine hatte andere Sorgen. Sie betrat ihre Wohnung und entdeckte sofort, dass Larry wohl in der Küche saß. Sie legte ihren Mantel ab und sammelte sich kurz.
„Larry, können wir reden?“
„Eigentlich nicht.“ Seine Augen waren ausdrucksloser denn je. Sie suchten etwas, an denen sie sich festhalten konnten und wurden schließlich an der Kaffeemaschine fündig.
„Ich muss das von heute morgen mit dir klären. Es lässt mir keine Ruhe.“
„Ich habe dir bereits heute Morgen gesagt, dass ich es dir nicht so einfach beantworten kann. Ich brauche Zeit, um über alles nachzudenken.“
„Was gibt es denn da nachzudenken? Larry! Wir sind verheiratet. Wir haben den Bund der Ehe geschlossen, weil wir uns lieben. Willst du mir jetzt sagen, dass das nicht mehr so ist?“
„Das gleiche hast du mich heute Morgen gefragt und ich sage dir auch jetzt, dass ich es nicht weiß.“
Verbittert krampfte sich CatherineŽs Hand zu einer Faust und sie unterdrückte die Tränen. Wieso hatte sie es nicht bemerkt? Wieso hatte sie nicht gemerkt, dass er an ihr und der Ehe Zweifel hatte? War sie so blind gewesen? Catherine verstand die Welt nicht mehr, die an ihr vorbeigeflogen zu sein schien. Sie hatte es einfach nicht bemerkt.
„Oder hast du eine andere?“ hörte sie sich selbst sagen und blickte ihren Mann fragend an. Doch Larry schüttelte verständnislos den Kopf und erhob sich.
„Ich muss arbeiten. Ich habe heute noch nicht viel geschafft.“
Mit diesem Satz verabschiedete er sich von ihr und verschwand wieder in seinem Arbeitszimmer. Fassungslos ließ Catherine sich auf den Küchenstuhl nieder und starrte auf seine Zimmertür. In letzter Zeit hatte er dort sein neues Reich eingerichtet. Um seinen Computer stapelten sich Verpackungen vom Chinarestaurant und Schnellimbissen. Zusammen gegessen hatten sie seit ewig langer Zeit nicht mehr. Catherine rieselte es wie Schuppen von den Augen. Vielleicht war es das, was er vermisste. Hastig warf sie einen Blick auf die Uhr und zog sich schnell ihren Mantel wieder an. Die Supermärkte hatten noch gut zwei Stunden geöffnet.
Schnell machte sie sich auf den Weg und kaufte alles, was sie für ihr Vorhaben brauchte. Ungeduldig reihte sie sich an der Kasse in eine Schlange ein.
„Mama, Mama! Darf ich?“ Ein kleines, blondes Mädchen zupfte ungeduldig an dem Mantel ihrer Mutter herum und zeigte auf die Brauseflasche im Einkaufswagen.
„Aber nur einen Schluck. Sonst hast du nachher wieder Bauchweh.“
Sie überreichte ihrer Tochter die aufgeschraubte Flasche und das Mädchen sog hastig die süße Flüssigkeit in ihren Mund. Catherine konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Auch wenn es schmerzhaft war, solche Szenen bei anderen zu sehen, denn wie sehr hatten sich ihr Mann und sie ein Kind gewünscht, doch es wollte einfach nicht klappen.
„Warum guckt die so?“
Verschreckt kehrte Catherine aus ihren Gedanken zurück und blickte zu dem kleinen Mädchen, die auch sie anstarrte.
„So etwas sagt man nicht, Kim!“ tadelte ihre Mutter sie schnell. „Entschuldigen Sie bitte. Sie ist immer sehr schnell mit dem Mund und denkt manchmal nicht nach.“
„Ach, keine Ursache. Weißt du kleine Kim, ich fand deine blonden Haare so toll, deshalb habe ich dich so angestarrt. Es tut mir Leid.“
Das Mädchen nickte ihr verstohlen zu und versteckte sich rasch hinter ihrer Mutter. Catherine wäre am Liebsten im Erdboden versunken doch die Mutter des Mädchens lächelte ihr sanft zu und drehte den Kopf wieder weg.
Auf dem Parkplatz des Supermarktes saß Catherine noch einige Minuten schweigend in ihrem Wagen. Gedanklich kalkulierte sie ihre monatlichen Ausgaben durch. Larry würde sein großes Auto verkaufen müssen, wenn es nicht bald wieder aufwärts ging mit ihrem Geschäft. Kaum hatte sie das zu Ende gedacht, hasste sie sich dafür. Warum war sie nicht in der Lage für sich und ihn zu sorgen? Schließlich hatte er es doch auch gekonnt. Ganze zwei Jahre hatte er sie mit durchbringen können, denn sie fand einfach keine Arbeit. Doch dann kaufte sie ihrer Freundin, die nach Mexiko auswandern wollte, die Boutique ab und es ging aufwärts. Schnell gewann sie feste Stammkundschaft, die regelmäßig wieder kam. Auch Miss Gardener war eine gern gesehene Kundin, denn wenn sie kam, verkaufte Catherine meist reichlich Kleider und Accessoires. Doch heute hatte Miss Gardener gar nichts gefunden und war unverrichteter Dinge wieder gegangen. Gleich nächste Woche würde Catherine im Lager anrufen und die gesamt
e E-Serie, die sie bestellt hatte, wieder stornieren. Etwas junges, frisches musste her. Insgesamt musste sich etwas ändern und morgen sollte es sofort losgehen. Sie fasste neuen Mut, blickte kurz in den Rückspiegel und startete den Motor. Zwanzig Minuten später erreichte sie ihre Wohnung und schloss hoch motiviert die Tür auf. Alles war dunkel und sie seufzte enttäuscht auf. Nachdem sie die Sachen in der Küche verstaut hatte, warf sie einen Blick ins Schlafzimmer, doch das Bett war unberührt. Larry schlief also wieder auf der Couch im Arbeitszimmer, zwischen den Fastfoodverpackungen, den ganzen Zeitungen und den drei Aschenbechern, die er überall deponiert hatte. Jedesmal, wenn seine Zimmertür sich öffnete zog der Qualm in die Wohnung und Catherine stellten sich die Haare zu Berge. Ihr Mann war schon immer starker Raucher und eigentlich störte sie sich sehr daran, doch ihm zuliebe hatte sie ihn nie darauf angesprochen und er hatte sie ja auch nie danach gefragt.
Die Enttäuschung aber auch die Anspannung fielen langsam von ihr ab und sie machte es sich in ihren Wohlfühlsachen auf der Couch bequem, um sich in ihr Buch zu vertiefen. Ein Thriller, den sie Seite für Seite verschlang, wenn Zeit dazu war. Gerade, als sie sich in einer der gruseligen Szenen befand, wurde sie durch eine leise Stimme in die Realität zurück geholt. Sie legte das Buch neben sich und lauschte angestrengt dem Wispern. Schließlich stand sie auf und schlich zur Tür des Arbeitszimmers. Behutsam legte sie ihren Kopf mit dem Ohr an die Tür und schloss die Augen. Sie hörte LarryŽs Stimme, verstand jedoch nicht, was er sagte. Alles klang so verschwommen und weit weg. Mit wem telefonierte er jetzt? Es war doch schon nach zehn?
Catherine schüttelte verständnislos den Kopf und ging zurück zum Sofa, um weiter zu lesen. Sie würde ihn einfach morgen danach fragen, denn jetzt war viel wichtiger, wer der Mörder in ihrem Buch war.

Die Sonnenstrahlen knallten unweigerlich in CatherineŽs Gesicht und unsanft kam sie zu sich. Ihr Nacken war steif und ihr tat der Rücken weh. Blinzelnd schaute sie sich um.
ŽIch bin auf dem Sofa eingeschlafen.` ging es ihr durch den Kopf und sie strich sich über die schmerzende Stelle am Nacken.
`Larry!Ž war ihr nächster Gedanke und sie schoss von der Couch hoch. Sie klopfte an seine Tür und wartete, doch er antwortete ihr nicht. Schließlich drückte sie die Klinke herunter und öffnete die Tür. Sein Zimmer war leer und wieder stand sie enttäuscht allein zu Hause und wusste nicht wohin mit ihrer deprimierenden Stimmung. Nachdem sie die ganze Wohnung abgesucht hatte, sank sie auf die Couch zurück und verfiel in Selbstmitleid. Wenigstens einen Zettel hätte er ihr da lassen können. Doch so wusste sie nicht wo er war und wann er wieder kommen würde. Sie wartete den ganzen Tag, putzte, wusch die Wäsche und sah fern. Als Larry gegen vier noch immer nicht zu Hause war entschloss sie sich ihn anzurufen. Sie wählte seine Nummer in das Telefon ein und wartete auf das Freizeichen. Es klingelte und klingelte, doch er nahm nicht ab. Gerade, als sie auflegen wollte hob er ab.
„Hallo?“ zischte er in die Leitung, wohlwissend, wer am anderen Ende war.
„Larry? Ich bin es. Ich... ich wollte dich fragen, wann du nach Hause kommst.“
„Das weiß ich noch nicht, wieso?“
„Ach, nur so.“
„Ich denke so gegen acht.“
„Ist gut. Tja, dann also bis dann.“
„Ja, bis dann.“
Sie vernahm das Klicken in der Leitung und legte den Hörer zurück auf die Gabel. Seit wann waren sie sich nur so fremd geworden? Dieses Telefonat war erschreckend eisig und Catherine gruselte sich fast schon vor sich selbst. Aber wenn er gegen acht zu hause ankommen würde, wäre die Überraschung bereits fertig und er hätte einen Grund sich zu freuen. Gegen sechs Uhr stellte sie sich hoch motiviert in die Küche und bereitete ein drei Gänge Menü. Mit glänzenden Augen holte sie den Braten aus dem Ofen. Er war genau richtig, goldbraun und saftig. So, wie Larry ihn mochte. Sie richtete den Esstisch her, holte das teure Besteck und Geschirr heraus und zündete um kurz nach acht die Kerzen an.

„Madeleine, ich muss zurück. Ich habe meiner Frau gesagt, dass ich gegen acht zu Hause sein werde. Jetzt ist es schon kurz nach neun.“
Larry zog sein Jackett an und knöpfte seine Hose wieder zu, doch Madeleine ließ nicht locker und knöpfte sie prompt wieder auf.
„Lass sie doch. Du bist doch nicht ihr Hund. Nur weil sie sagt, dass du um acht zu Hause sein musst, heißt das noch lange nicht, dass du ihr hörig sein musst. Du kannst hier bei mir schlafen, wenn du willst.“
„Das ist lieb gemeint, aber bei uns hängt ohnehin der Haussegen schief. Ein ander Mal, ja Liebes?“
Sachte drückte er ihr ein Kuss ins Haar und knöpfte seine Hose wieder zu. Wehleidig sah Madeleine ihm nach, wie er ihre Wohnung verließ und ließ sich auf ihr Bett fallen.
Larry stieg in seinen wuchtigen Geländewagen und startete den Motor. Er warf einen prüfenden Blick in den Spiegel und wischte hastig MadeleineŽs Lippenstift von seinem Mund. Gemächlich steuerte er seine Wohnung an. Schon von der Straße aus erkannte er, dass in der Küche das Licht brannte und verdrehte genervt die Augen.
Kurz darauf betrat er die Wohnung. Es roch nach Schweinebraten und Rotkohl und er runzelte irritiert die Stirn. Flüchtig warf er einen Blick auf den Esstisch und anschließend auf die Uhr. Es war kurz vor halb elf, die Kerzen auf dem Tisch waren vollkommen abgebrannt, das Essen war schon lange kalt und Catherine hatte es nicht angerührt. Weinend stand sie in der Küche und spülte den Bratentopf ab.
„Du hast gekocht?“ warf er in den Raum und nahm am Tisch Platz.
„Das Essen ist bereits kalt und ungenießbar.“ kam es frustriert von ihr zurück.
„Dann stellen wir es eben in die Mikrowelle?“
„Ich habe keinen Hunger mehr, aber ich werde dir gern etwas fertig machen.“
Sie nahm einen Teller, platzierte das Essen darauf und verschwand damit wieder in der Küche. Kurz darauf röhrte die Mikrowelle auf und wieder plätscherte das Wasser im Spülbecken.
„Gibt es einen Grund, warum du gekocht hast?“
„Ich dachte nur, wir könnten mal wieder gemeinsam essen und uns normal unterhalten.“
„So? Über was denn?“
Er griff nach der Rotweinflasche im Weinkühler und schenkte sich etwas in sein Glas.
„Über uns. Und über den Urlaub, den du nicht wolltest. Mir war nicht klar, wieso du dagegen warst. Aber das ist jetzt nicht mehr wichtig.“
Mit einem Schrillen piepen schaltete sich die Mikrowelle ab und Catherine nahm das nun wieder heiße Essen, um es Larry zu servieren.
„Danke.“ entgegnete er ihr trocken und begann zu essen.
„Wo warst du denn den ganzen Tag?“
„Wieso willst du das wissen?“
„Na hör mal, ich bin deine Frau. Ich werde dich doch fragen können, wo du gewesen bist.“
Catherine lugte mit dem Kopf aus der Küche in die Essecke und blickte ihren Mann schweigend an.
„Ach, hier und da. Ich war in der Stadt, habe mir die Schaufenster angeschaut.“
Noch immer blickte sie ihn an.
„Und? Hast du nichts passendes gefunden?“
„Ich habe ja nichts gesucht. Ich wollte nur gucken.“
Hastig schlang er das Essen in sich hinein und kippte den teuren Wein hinterher. Nach kurzer Zeit war der Teller und die Flasche Wein geleert und Larry erhob sich von seinem Stuhl.
„Ich gehe dann mal in mein Arbeitszimmer. Ich muss noch einiges aufarbeiten.“
Catherine nickte ihm lediglich zu und stieg auf den Stuhl in der Küche, um den Bräter zurück auf den Schrank stellen zu können. Sie war noch nicht wieder ganz auf dem Boden, als seine Tür zu fiel und der Schlüssel sich im Schloss drehte.
Viele dicke Tränen quollen aus ihren Augen hervor und verzweifelt rutschte sie an der Küchenzeile entlang zu Boden.
Warum nur? Wie konnte er sie nur so dreist anlügen? Niemals würde er einfach nur so in die Stadt gehen und schon gar nicht, um sich lediglich die Schaufenster an zu sehen. Viel brennender als die Frage, wo er war, war die Frage, ob er allein dort war. Zweifel machten sich in ihr breit und sie versuchte die Contenance zu wahren. Vielleicht bildete sie sich auch nur alles ein und er war wirklich in der Stadt, um sich die Schaufenster anzusehen. Doch Catherine wusste all zu gut, dass sie sich damit selbst belog. Mit einem Stück Küchenkrepp trocknete sie ihre Tränen und stand wieder auf. Sie räumte den Tisch ab und warf den Rest des Essens in den Müll. Weder bedankt hatte er sich, noch hatte er sie für das leckere Menü gelobt. Nichts. Er war einfach aufgestanden und hatte sich in sein Zimmer zurück gezogen. In ihr kochte die Wut hoch und in ihrer Hand zersprang das teure Bleikristallglas. Laut klirrten die Scherben auf und Catherine zuckte schmerzerfüllt zusammen. Ein Blutstropfe
n fiel zu Boden und ein weiterer machte sich zum Absturz bereit. Schnell hielt sie ihre Hand unter fließendes Wasser und wusch die kleine Schnittwunde aus. Nachdem sie sie mit einem Verband versorgt hatte, kehrte sie die Scherben weg und schaltete überall das Licht aus. Und wie schon so oft legte sie sich allein in das große Ehebett und schloss die Augen.
Hatte er eine andere? Und wenn ja, wer war sie? Wie sah sie aus? Wie alt war sie und war sie hübsch? War sie sogar hübscher als Catherine? Unruhig schlief sie ein und wachte mehrmals schweißgebadet auf. Die vergangene Woche war schon schrecklich, wie sollte erst die neue werden? Wieder schloss Catherine die Augen und schaffte es endlich bis zum Morgen durchzuschlafen.
Um halb sieben schrillte der Wecker auf und Catherine erhob sich, wie benebelt aus ihrem Bett. Nur schwer konnte sie ihre Augen öffnen und zuordnen, wo sie war. Sie machte sich rasch frisch und kleidete sich ein. Eine Bluse in blassem rosa und eine lange schwarze Stoffhose. In Strümpfen schlich sie durch die Wohnung und machte sich erstmal einen Kaffee.
Larry war auch diese Nacht nicht ins Bett gekommen. Wie lange hatte sie eigentlich schon allein in diesem riesigen Bett geschlafen? Und warum hatte sie das vorher nie gestört?
Kurz pustete sie in die Tasse und genoss das bittere schwarze Getränk. Wie jeden Morgen blickte sie zum Fenster heraus. Die Straßenlaterne vor dem Haus der MillerŽs war noch immer kaputt. Aber wer hätte sie auch an einem Sonntag reparieren sollen? Jeden Tag wurde es schon ein wenig früher hell und schon bald würde die Sonne bereits am Himmel stehen, wenn Catherine ihre Augen aufschlug.
Sie leerte ihre Tasse zügig und schlüpfte in ihre Highheels. Nachdem sie sich ihren Mantel angezogen und ihre Handtasche gepackt hatte, machte sie sich wie immer auf den Weg zur Arbeit. Heute war schon etwas mehr los auf den Straßen und sie erreichte ihr Geschäft genau pünktlich, um es zu öffnen. Der Vormittag zog sich wie Kaugummi und nur wenige Leute verirrten sich in ihren Laden. Kurz vor elf klingelte das Telefon und sie nahm hastig ab.
„Larry?“ fragte sie außer Atem und presste den Hörer an ihr Ohr.
„Äh, Catherine?“ hörte sie eine ihr bekannte weibliche Stimme sagen und ihre anfängliche Anspannung fiel von ihr ab.
„Am Apparat.“ entgegnete sie der Frau am anderen Ende.
„Ich bin es, Linda.“
„Ach Linda! Lange nichts von dir gehört. Wie geht es dir?“
„So weit ganz gut. Ich wollte fragen, ob wir heute vielleicht zusammen zu Mittag essen wollen?“
„Naja, ich bin allein im Laden. Wir müssten dann hier essen.“
„Kein Problem. Soll ich was vom Chinesen mitbringen?“
„Oh ja. Sehr gern.“
„Was willst du?“
„Ich nehme die Ente süß sauer.“
„Gut, dann komme ich gegen eins bei dir vorbei. Ich muss unbedingt etwas mit dir besprechen.“
„Äh, nun, ja. Ist gut.“
„Also, bis dann.“
„Ja, bis dann.“
Nachdenklich ließ sie den Hörer auf die Gabel fallen und blickte auf die Straße. Auf der anderen Seite stand ein junger Mann mit einer Horde Kindern, die sich alle an der Hand hielten. Wieder schob sich ein schmerzliches Lächeln auf ihr Gesicht und sie beobachtete ihn, wie er die kleinen den Gehweg entlang lotste. Die Kinder lachten und schrien, sodass sie ihre Stimmen bis in ihren Laden vernehmen konnte und auch der Mann schien Freude mit ihnen zu haben.
Traurig seufzte Catherine auf und sah sich in ihrem Laden um. Sie wollte ja noch ihre Bestellung stornieren. Das würde sie jetzt sofort tun. Sie wählte die Nummer des Lagers und wartete auf das Freizeichen.

Linda hupte und fluchte sich durch den dichten Verkehr. Diese Baustelle inmitten der großen Kreuzung war echt die Hölle. Alle benahmen sich wie Tiere, niemand nahm Rücksicht auf den anderen und es wurde gehupt, gepöbelt und mit dem Stinkefinger gezeigt, was das Zeug hielt. Vollkommen entnervt bog sie schließlich in das Parkhaus ein und stellte ihren Wagen ab. Auf dem Rücksitz lagen überall Krümel von Keksen und Salzstangen. Es war zum verrückt werden. Ihr Sohn Julian hatte wirklich Talent was das Beschmutzen und Bekleckern von LindaŽs Hab und Gut anging und so kehrte sie notdürftig mit ihrer Hand über die Sitzpolster ihres Wagens, um zumindest die gröbsten Krümel zu beseitigen. Schließlich schnappte sie sich die Tüte mit dem Essen und eilte in CatherineŽs kleine Modeboutique.
„Hallo Süße!“ strahlte sie ihr entgegen und erblickte eine Frau, die niedergeschlagen und müde aussah.
„Hallo Linda.“ lächelte Catherine ihr angestrengt entgegen und kam auf sie zu.
„Du siehst aber gar nicht gut aus, stimmt etwas nicht?“
„Nein, alles halb so wild.“
„Du siehst aus, als hättest du Stress?“
„Naja, nicht ganz. Larry und ich hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit.“
„Meinungsverschiedenheit?“ wiederholte Linda ungläubig und stellte das Essen in dem kleinen Hinterzimmer des Ladens ab.
„Was war denn los?“
„Nun, ich hatte gedacht, dass wir mal wieder in den Urlaub fahren sollten.“
„Aber das klingt doch toll?“
„Larry hat abgelehnt. Er ist sich nicht sicher, ob er mich noch liebt.“
„Bitte?!“ Linda ließ sich auf den Stuhl neben sich nieder und blickte Catherine entsetzt an. „Wollt ihr euch jetzt scheiden lassen?“
„Nein, natürlich nicht. Ich denke, er macht da gerade so eine Phase durch. Seit er seinen Job verloren hat, ist er komisch geworden.“
„Das ist doch jetzt schon über ein Jahr her? Hat er denn nichts neues finden können?“
„Leider nein.“ Catherine zog die Alufolie von der Kunststoffschale ab und sog den leckeren Duft des Essens ein. „Ich weiß gar nicht, ob er sich überhaupt noch bewirbt. Ich habe nur sehr selten Briefe für ihn in der Hand. Er geht ja nie zum Briefkasten. Willst du meinen Reis? Ich mag den nicht.“
„Schieb rüber.“
Catherine nahm neben Linda Platz und sie schlangen hastig das Essen herunter. Niemand betrat den Laden, alles war unangenehm still, bis auf den Lärm der Baumaschinen, der die ganze Straße entlang wummerte.
„Was wolltest du denn mit mir besprechen?“
„Ach ja!“ Linda hob ihre Gabel in die Luft und drückte sich die Hand vor den Mund, nachdem ein paar Reiskörner auf den Tisch gefallen waren. „Es ist wegen Julian.“
„Wieso? Ist er krank?“
„Nein, nein. Es ist nur. Also ich habe ja diese Stelle in der Marketingabteilung von Shivas. Wir haben jetzt eine neue Firma unter Vertrag genommen und die wollen Möbel nach Japan verkaufen. Ich habe den Auftrag bekommen.“
„Das klingt doch gut!“ strahlte ihr Catherine entgegen und stopfte sich ein Stück Ente in den Mund.
„Ja, natürlich, es ist großartig. Ich darf es nicht vermasseln. Jedenfalls muss ich die Möbel in Japan anpreisen und an den Mann bringen, wenn du verstehst?“
„Sicher und?“
„Ich kann Julian schlecht mitnehmen. Ich muss für drei Wochen weg und ich kann die Tagesmutter nicht für einen knappen Monat jeden Tag bei mir zu Hause antanzen lassen. Das schaffe ich finanziell nicht.“
„Linda, ich würde dir gern aushelfen, aber im Moment bin ich selbst knapp bei Kasse.“
„Das meine ich nicht. Ich hatte eher daran gedacht, dass du Julian nehmen...“
„Oh Halt! Moment! Ich soll Julian für drei Wochen zu mir nehmen? Wie stellst du dir das vor? Ich habe auch eine Arbeit. Ich kann ihn ja schlecht mit in den Laden nehmen?“
„Kannst du dir nicht frei nehmen?“
„Unmöglich! Nina hat bereits Urlaub. Dann müsste ich die Boutique schließen, das kommt nicht in Frage.“
„Ich verstehe dich ja, aber kannst du da nicht irgendetwas machen? Tagsüber ist Julian doch sowieso im Kindergarten? Vielleicht dass Larry Julian um drei dann immer abholt? Er muss doch nur so lange aufpassen, bis du nach Hause kommst?“
„Larry? Aha!“ entfuhr es ihr ironisch spitz und sie hängte ein gekünsteltes Lachen hinten an. „Larry hat von Kindern so viel Ahnung, wie vom schminken. Das weißt du doch.“
„Es ist doch nur für drei Wochen. Bitte Catherine. Wenn ich nicht nach Japan fliege, verliere ich den Auftrag und mir geht sehr viel Geld durch die Lappen.“
„Linda hör zu. Ich würde dir wirklich gern helfen und wäre es nur über das Wochenende, wäre es sicher kein Problem, aber Nina kommt erst nächste Woche wieder zurück und vorher kann ich dir nicht helfen.“
„Aber das passt doch ganz gut? Ich meine ich muss erst nächsten Mittwoch los! Bitte sag ja!“
Catherine zog die Augenbrauen zusammen und grübelte. Julian war ein süßer Fratz, sie mochte ihn schon vom ersten Tag an.
„Also ich weiß nicht.“
„Bitte!“ Verzweifelt blickte Linda ihre Freundin an.
„Hach, also gut. Drei Wochen also?“
„Ja genau.“
„Gut, ok. Ich mache es.“
„Oh danke!“
Linda sprang auf und fiel Catherine stürmisch um den Hals. Zentnerweise fielen ihr die Steine vom Herzen und sie ließ sich wieder auf ihren Stuhl nieder.
„Du tust mir wirklich einen großen Gefallen. Ich bringe dir Julian dann am Dienstag Abend vorbei ja?“
„Ja, ja. Meinetwegen. Dir muss aber klar sein, dass ich dann noch einen bei dir gut habe. Immerhin nehme ich dafür meinen gesamten Jahresurlaub.“
„Aber sicher doch.“
Linda kramte in ihrer Handtasche herum und holte zwei Gläser und eine Piccoloflasche Sekt heraus.
„Was willst du denn damit?“
„Na anstoßen! Was sonst?“
Sie entkorkte die Flasche und schenkte sich und ihr etwas ein.
„Auf meinen ersten großen Auftrag!“
„Auf deinen Auftrag!“ lächelte Catherine ihr entgegen und stieß mit ihr an.
Ein paar Minuten später klingelte die Glocke an der Eingangstür und Catherine sprang eilig auf.
„Ich komme!“ rief sie freundlich und wischte sich mit der Serviette über den Mund.
„Ich gehe dann mal wieder. Du hast sicherlich noch gut zu tun.“
„Ist in Ordnung.“
Beide nahmen sich noch kurz in den Arm und Linda verließ rasch das Geschäft.
„Guten Tag Miss Hoover.“ Der Postbote grinste sie freundlich an und legte ein Paket und ein paar Briefe auf den Ladentisch. „Heute ist es nicht so viel.“
„Das ist gut.“ lächelte sie ihm entgegen und quittierte ihm den Empfang.
Den gesamten restlichen Tag verbrachte sie damit, das Paket aus zu packen und die neue Ware an einem der Kleiderständer zu hängen und zu drapieren.
Kurz nach Feierabend schloss sie gefrustet ihren Laden ab und setzte sich wieder an die Abrechnung. In der Kasse herrschte gähnende Leere. Nicht ein Teil hatte sie verkauft. Nachdem sie die Geldkassette eingeschlossen hatte, widmete sie sich den Briefen. Das meiste war nur Werbung und landete gleich im Müll. Nur ein Brief bereitete ihr Kopfzerbrechen. In Fettschrift stand `MahnungŽ in der Überschrift und Catherine wurde es mulmig. Sie hatte die Miete für den Laden noch nicht überwiesen. Und zwar die für den vergangenen Monat. Von der Miete für diesen Monat ganz zu schweigen. Sie blickte auf die Zahl, die unter dem Strich heraus kam. Mehr als zweitausend Dollar standen noch aus. Zwei ganze Monatsmieten. Sie lehnte sich zurück und rechnete. Was konnte sie einsparen? Hatte sie etwas, dass sie verkaufen konnte?
Das erste, was ihr in den Sinn kam, war LarryŽs Wagen. Eine Protzkarre, die sich nicht mal in der Anschaffung lohnte, denn ihr Mann war nur selten damit unterwegs und Catherine schon gar nicht. Ihr war es nicht möglich mit diesem Wagen einzuparken. Kein Wunder, das Auto hatte Überbreite. Solche Parklücken mussten erst gebaut werden.
Sie biss sich auf die Unterlippe. Niemals würde Larry dieses Auto verkaufen wollen. Als nächstes kam ihr ihr eigenes Auto in den Sinn. Doch es war schon so alt. An wen sollte sie es denn verkaufen? Zweitausend Dollar war es allemal nicht wert. Frustriert blies sie sich durch das Gesicht und ihre schwarzen Haare wirbelten durch die Luft.
Sie warf sich ihren Mantel über die Schultern und verließ das Geschäft. Wieder kam sie nach Hause und alles war dunkel. Larry hatte sich schon wieder in seinem Zimmer verschanzt. Essen musste er sich gemacht haben. Die Küche sah aus, wie ein Schlachtfeld. Von Aufräumen hatte er noch nie etwas gehalten. Dafür war ihm Catherine gut genug. Also putzte sie um neun Uhr Abends noch die Küche und ging erschöpft zu Bett. So ging es fast jeden Tag. Am Sonntag traf sie Larry morgens noch an, bevor er das Haus verlassen konnte und bat ihn um ein kurzes Gespräch. Er war kalt und abweisend und bemängelte ständig, dass er doch keine Zeit hätte. Jedoch nahm er sich fünf Minuten und setzte sich zu Catherine an den Tisch.
„Was gibt es denn so dringendes?“
„Ich wollte dir nur sagen, dass wir ab Dienstag Abend Julian hier haben werden, für drei Wochen.“
„Julian?“ wiederholte er und dachte angestrengt nach. „Kenne ich nicht.“
„Julian? Natürlich kennst du ihn. Das ist der Sohn von Linda. Er ist vier, erinnerst du dich?“
„Linda?“
„Also, ich bitte dich Larry. Du kennst doch wohl noch Linda?“ Zornesfalten legten sich auf CatherineŽs Stirn und sie blickte ihren Mann strafend an.
„Bevor sie auf das Dorf gezogen ist, war sie eine meiner besten Freundinnen! Sie war doch fast wöchentlich bei uns?“
„Ach die kleine mit den blonden, kurzen Haaren?“
„Ja genau die.“
„Und wieso soll ihr Sohn bei uns bleiben?“
„Weil sie mich darum gebeten hat. Sie muss geschäftlich verreisen und kann sich nicht um ihn kümmern.“
„Dann soll sie sich eben eine Tagesmutter suchen.“
„Das hätte sie auch gemacht, aber so viel Geld hat sie eben nicht. Ich dachte, du würdest dich freuen?“
„Warum sollte ich mich freuen? Ich spiele doch nicht den Babysitter für wildfremde Gören!“
„Wildfremd? Das schlägt dem Fass ja den Boden aus, Larry! Schalt doch zur Abwechslung mal dein Hirn ein und denk nach, bevor du etwas sagst. Du hast den Jungen damals selbst in den Armen gehalten!“ Wutentbrannt schlug Catherine mit der Faust auf den Tisch. Wie konnte er solche Sachen nur vergessen? Waren sie ihm denn gar nicht wichtig gewesen? Noch immer stierte sie ihren Mann wütend an.
„Sag etwas!“
„Mach doch, was du willst. Ich habe keine Zeit mich um den Jungen zu kümmern. Ich muss arbeiten.“ Er winkte mit der Hand ab und stand auf.
„Arbeiten?!“ kreischte sie ihm nun entgegen und sprang von ihrem Stuhl auf. „Du arbeitest?! Zeig mir doch mal, was du in dem letzten Jahr, indem du arbeitslos warst, geschafft hast! Ich möchte Ergebnisse sehen. Bewirbst du dich überhaupt noch?!“
„Schrei hier nicht so herum!“
„Ich gehe seit einem Jahr allein arbeiten und habe Mühe uns durch zu bringen und du?! Du kannst mir nicht mal dabei helfen einer Freundin einen Gefallen zu tun!“ Langsam ließ sie sich wieder auf den Stuhl fallen und schnaufte wild auf. „Was ist nur aus dir geworden? Ich erkenne dich nicht wieder.“
„Du hast gut reden. Jeden Tag in deinem Modebüdchen stehen und mit alten, reichen Damen quatschen, das nennst du arbeiten? Dass ich nicht lache!“
„Aber es bringt mir Geld! Geld, dass wir beide bitter nötig haben! Ich stehe bereits zwei Monatsmieten im Rückstand! Kannst du mir mal verraten, wie ich die bezahlen soll?! Ich kann es nicht, ich habe kein Geld mehr! Und was ist mit dir?“
„Woher soll ich so viel Geld nehmen?“
„Keine Ahnung. Vielleicht, indem du dir eine Arbeit suchst?!“
„Ich suche doch schon die ganze Zeit. Im Moment haben die Verlage einfach kein Interesse an neuen Autoren.“
„Dann nimm eine andere Arbeit an! Ist doch nicht für ewig!“
„Ich habe nicht so hart an meinen Werken geschuftet, dass ich am Ende eine Maurerkelle schwinge.“
Wutentbrannt stieß Catherine einen spitzen Schrei aus und schlug nochmals mit der Faust auf den Tisch.
„Du bist unbelehrbar, Larry.“
„Und du vergeudest meine Zeit, Catherine.“
Er erhob sich von seinem Stuhl und ließ sie allein in der Wohnung zurück. Was für ein gelungenes Wochenende.
Catherine setzte sich ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Und wieder verbrachte sie den Sonntag allein und traurig zu Hause, während Larry seinen Terminen nachging.

Kurz nach halb neun klingelte es Sturm und Catherine stürmte aus der Küche zur Sprechanlage.
„Ja? Hallo?“
„Hey Süße, wir sind es.“ hörte sie Linda sagen und drückte auf den Summer.
Kurz darauf stand Linda mit Julian auf dem Arm vor der Tür. Im Schlepptau einen Koffer, der doppelt so groß war, wie das Kind, das wild mit den Armen wedelte.
„Tante Cathy!“ jubelte der kleine Blondschopf und strahlte sie breit an.
„Hallo Julian. Du bist aber groß geworden. Lass dich drücken!“
Julian rutschte von LindaŽs Armen direkt in die von Catherine und kicherte laut auf, als die ihn kitzelte.
„Kommt erstmal rein. Wollt ihr etwas trinken?“
„Für mich nicht, danke. Mein Flug geht in dreieinhalb Stunden. Ich muss mich also beeilen.“
„Ich dachte, du fliegst erst morgen?“
„Das hatte ich auch gedacht, aber die Firma hat den Flug schon für heute Abend gebucht.“ Linda runzelte die Stirn und stellte ihre Tasche vor der Garderobe ab.
„Ich habe dir eine Liste gemacht. Darauf stehen alle Telefonnummern, die für dich wichtig sein könnten. Mich erreichst du im Notfall auf meinem Handy. Julian darf nicht so viel Süßes essen, sonst dreht er immer so auf. Aber das weißt du ja.“
„Hmm.“
„In dem Koffer sind JulianŽs Spielsachen und seine Kleidung. Er hat die Kollektion selbst zusammengestellt, also dürfte nichts fehlen. Außerdem lasse ich dir noch Geld da.“
„Was? Ach Quatsch, das musst du nicht!“
„Doch, sicher. Hier.“ Sie zog einen Hundert Dollar Schein aus ihrem Portemonnaie und überreichte ihn Catherine. Widerwillig nahm sie das Geld an und verstaute es in ihrer Geldbörse.
„Die Adresse vom Kindergarten habe ich dir auch aufgeschrieben. Er macht um neun auf und schließt gegen sechzehn Uhr. Allerdings hole ich Julian immer schon gegen drei ab.“
„So soll es dann wohl auch bleiben, nicht?“
„Wäre schon nicht schlecht.“
„Also gut.“
„So kleiner Mann. Und dass du mir auch artig bist. Mach Tante Cathy keinen Kummer hörst du?“
Eifrig schüttelte er seinen Kopf und strahlte seine Mutter an.
„Also gut. Dann werde ich jetzt gehen.“
„Jetzt schon?“
„Ja ich muss. Zwei Stunden vor Abflug muss ich ja schon am Schalter sein.“
Gedankenversunken nickte Catherine ihr zu.
„Wo ist Larry eigentlich?“
„Keine Ahnung. Er ist schon den ganzen Tag nicht da.“
„Na, du bist genau so allein wie ich was? Nur dass ich Single bin und du eben verheiratet.“
Traurig nickte sie Linda zu.
„Nun lass mal den Kopf nicht hängen. Das ränkt sich schon wieder ein, hmm?“
„Ja, du hast Recht. Komm, ich bringe dich zur Tür.“
Die beiden verabschiedeten sich mit einer Umarmung und Julian gab seiner Mutter noch einen Kuss bevor sie eilig los stürmte.
„Linda! Deine Handtasche!“ rief Catherine ihr noch nach und wedelte mit besagtem Gegenstand hin und her.
„Oh man, ohne die wäre ich aufgeschmissen. Danke.“
Sie nahm die Tasche und eilte die Treppen herunter. Unten angekommen stieg sie in das Taxi und raste mit ihm davon.
Catherine drehte sich zu dem Jungen um und blickte ihn fragend an.
„So, und was wollen wir beide jetzt machen?“
„Spielen!“
„Und was möchtest du spielen?“
„Pokémon!“
„Pokémon? Und wie spielt man das?“
„Ich bin dein Trainer und du bist mein Pokémon. Du musst die Aquaknarre machen!“
„Ich muss was?“

Lachend und kreischend rannten die beiden den ganzen Abend durch die Wohnung und spielten alles, was sich Julian wünschte. Um kurz vor zehn brachte sie ihn in das Gästezimmer und richtete das Bett für ihn her.
„Darf ich meine Nachtlampe auch haben?“
„Deine Nachtlampe? Wo ist die?“
Ratlos zuckte er mit den Schultern.“
„Hast du sie denn eingepackt?“
„Weiß nicht.“
„Hmm, na warte. Ich suche sie.“
Catherine durchwühlte den ganzen Koffer, konnte aber keine Lampe finden. Angestrengt dachte sie nach und holte kurzerhand die Nachttischlampe aus ihrem Schlafzimmer.
„Wird die hier auch gehen?“
Zaghaft nickte der Junge ihr zu.
„Morgen werden wir in der Stadt eine schöne Nachtlampe für dich kaufen, ja?“
„Au ja!“ seine Augen begannen zu strahlen und er hüpfte fröhlich im Bett herum.
„So, nun ist aber Schluss. Schlaf gut und wenn etwas ist, ich bin im Zimmer nebenan.“
„Gute Nacht Tante Cathy.“
„Gute Nacht Julian.“
Sie schaltete die Deckenlampe aus und schloss leise die Tür. Bereits nach ein paar Minuten war er eingeschlafen und Catherine widmete sich wieder ihrem Buch. Gegen elf fiel ihr Blick auf die Küchenuhr. Larry war noch immer nicht zu Hause. Erbost zogen sich ihre Augenbrauen zusammen und sie versuchte sich auf ihr Buch zu konzentrieren. Für eine Weile gelang es ihr auch, doch als gegen halb zwölf das Schloss der Wohnungstür klickte, blickte sie wieder auf.
Larry kam betrunken in die Wohnung getorkelt und machte sich sofort am Kühlschrank zu schaffen.
„Wo warst du so lange?“ fragte sie ihren Mann gepresst und stierte ihn wütend an. „Du hättest wenigstens Linda noch verabschieden können. Sie hat nach dir gefragt.“
„Welche Linda?!“ maulte er ihr lautstark entgegen und Catherine presste angestrengt ihren Finger aus den Mund.
„Sei nicht so laut, der Junge schläft!“
„Junge?!“ wiederholte er schroff und rülpste kräftig.
„Du bist ekelhaft, Larry.“
„Wenn es dir nicht passt, dann hau doch ab! Dumme Schlampe.“ lallte er und öffnete eine Flasche Bier.
„Meinst du nicht, dass es für heute reicht?“
„Halt deinen Mund!“ Bestimmend richtete er seinen Zeigefinger auf sie und versuchte sie anzusehen, doch sein Blick verdoppelte sich ständig und er schüttelte ratlos den Kopf.
Unbemerkt öffnete Julian die Tür zu seinem Zimmer und rieb sich müde die Augen. Er hatte etwas gehört und war neugierig. In der Küche entdeckter er seinen Onkel, den er eigentlich nicht so gern mochte. Zumindest nicht so gern, wie seine Tante Cathy.
„Wenn Julian aufwacht, bist du Schuld!“ flüsterte Catherine ihm laut entgegen und legte das Buch ab. „Du solltest jetzt auch schlafen gehen.“
Sie stand auf und nahm ihm die Flasche aus der Hand.
„Du hast mir nichts zu sagen! Was denkst du, wer du bist?!“ brüllte er sie an und eine Fahne von Schnaps und Bier wehte ihr entgegen.
„Larry, ich bitte dich, sei nicht so laut!“
„Halt deine Klappe!“
Er holte mächtig aus und klatschte ihr seine Hand mitten ins Gesicht. Geschockt blickte sie ihn an, doch seine Augen starrten sie nur kalt und hämisch an. Ein diabolisches Lachen entfuhr ihm und er nahm die Flasche Bier wieder an sich. Aufgeschreckt durch JulianŽs Wimmern drehte Catherine sich zu dem Jungen um.
„Hey, Kleiner!“ rief sie und lief auf ihn zu. Sanft schloss sie ihn in seine Arme und verschwand mit ihm im Gästezimmer.
Es dauerte ewig, bis sie ihn beruhigt hatte und er wieder eingeschlafen war. Ihre Wange schmerzte und auch über sie fiel die Müdigkeit her. Also machte sie sich bettfertig und schlüpfte unter ihre Decke. Larry hatte sich wieder in sein Zimmer eingeschlossen und hörte laute Musik. Es dauerte nicht lange, bis Catherine Julian im Nebenzimmer schreien hörte und so stand sie wieder auf, um ihn zu sich zu holen.
Nach einer halben Stunde waren beide eingeschlafen und eng aneinander gekuschelt.

Um halb acht klingelte der Wecker und Catherine löste sich aus JulianŽs Umarmung. Er schlummerte noch tief und fest und so ließ sie ihn weiter schlafen. Endlich war auch bei Larry Ruhe eingekehrt und sie atmete erleichtert auf. Der erste Kaffee am Morgen schmeckte bitter-süß wie immer und war schnell getrunken. Heute hatte sie ja Zeit und machte sich gleich noch einen zweiten. Nachdem sie auch diese Tasse geleert hatte, weckte sie Julian sachte auf.
„Komm kleiner Mann. Anziehen, Zähne putzen und dann ab in den Kindergarten.“
Ausdruckslos blickte er sie an und nickte schließlich. Sie half ihm beim Anziehen und Zähne putzen und warf sich ihren Mantel über die Schultern. Im Auto angekommen blickte Julian sie fragend an.
„Hat er dir weh getan?“
„Hmm?“ geschockt blickte sie zu ihm herunter.
„Onkel Larry, hat er dir weh getan?“
„Das ist nicht so schlimm Julian. Eigentlich darf man so was nicht machen, aber es tut nicht mehr weh.“
Der Junge nickte ausdruckslos und Catherine startete den Motor. Hoffentlich würde er im Kindergarten auf andere Ideen kommen. Nach zwanzig Minuten Fahrt erreichten sie einen recht idyllischen Stadtteil und schließlich auch den Kindergarten. Catherine nahm Julian an die Hand und führte ihn ins Haus.
„Willst du mal meine Gruppe sehen?“ strahlte er sie endlich wieder an und sie nickte ihm erleichtert zu.
An der Hand zog er sie durch das Gebäude und stoppte vor einer Glastür, die über und über mit Marienkäfern beklebt war.
„Hier ist deine Gruppe?“ fragte sie ihn interessiert und er nickte ihr strahlend zu.
„Ich bin bei den Marienkäfern. Den hier habe ich gebastelt.“
„Also das ist auch der schönste von allen, echt.“
„Wirklich?“
„Aber natürlich. Sieh doch mal, der ist doch der tollste!“
Fröhlich quiekte er ihr entgegen und öffnete die Tür zum Spielzimmer. Die Gruppe bestand aus sechs weiteren Kindern und mit ihnen zusammen saß ein junger Mann und spielte auf der Gitarre einige Kinderlieder.
„Vince!“ rief Julian freudig und stürmte auf ihn zu. Catherine staunte nicht schlecht, als dieser sich umdrehte. Das Gesicht kannte sie doch. Das war doch der gleich junge Mann, der vor ein paar Wochen vor ihrem Geschäft mit einer Gruppe Kindern unterwegs gewesen war. Er kam mit Julian auf den Arm auf sie zu und strahlte sie freundlich an.
„Guten Morgen. Sie sind sicher Miss Hoover oder?“
„Ja richtig.“
„Miss Bellentaine hatte mich bereits darüber unterrichtet, das Julian für eine Weile bei Ihnen wohnt.“
„Das stimmt, Mister?“
„Taylor. Vince Taylor.“ wiederholte er und strahlte sie wieder an.
„Nett Sie kennen zu lernen.“ Relativ zugeknöpft streckte sie ihm die Hand entgegen und errötete etwas, als er ihr einen sanften Kuss darauf hauchte. Angestrengt strampelte Julian hin und her.
„Ich möchte runter.“ maulte er los und zog einen Schmollmund. Sofort ließ Vince ihn aus seinen Armen gleiten und Julian lief zu der restlichen Gruppe, die mit Malstiften bewaffnet über die leeren Papierseiten herfielen.
„JulianŽs Mutter hat ihn immer gegen fünfzehn Uhr abgeholt. Schaffen Sie das zeitlich auch?“
„Ja ich denke schon. Falls mir etwas sehr dringendes dazwischen kommt, melde ich mich natürlich bei Ihnen.“
„In Ordnung. Soll ich Ihnen meine Nummer noch aufschreiben oder haben Sie die bereits?“
„Die habe ich, aber danke trotzdem.“
Sie blickte an ihm vorbei zu Julian, der mit einem anderen Jungen gerade Pokémon spielte.
„Viel Spaß Julian! Die Tante geht jetzt.“ Doch der Junge reagierte gar nicht und Catherine blickte ihn etwas irritiert an.
„Machen Sie sich nichts draus. Seiner Mutter ergeht es jeden Morgen so.“
„Oh, na dann!“ lachte sie ihm entgegen und machte Kehrt. „Bis heute Nachmittag!“
„Ja, bis dann.“
Zügig verließ sie den Kindergarten und stieg wieder in ihren Wagen. Sehnsüchtig erinnerte sie sich an ihre Kindheit. Ihr Kindergarten war natürlich nicht so groß und modern, aber sie hatte mit ihren Freunden immer viel Spaß gehabt und sicher gefiel es Julian auch sehr gut. Und Vince schien ein recht netter und liebevoller Erzieher zu sein, obwohl sie sich schon ein wenig wunderte. Ein Mann als Kindergärtner, das sah man ja nicht alle Tage.
Catherine zuckte mit den Schultern und machte sich auf den Heimweg. Nachdem sie die ganze Wohnung geputzt hatte, bereitete sie schon das Abendessen für sich und den Jungen vor und blickte nachdenklich aus dem Fenster. In der letzten Nacht war der Streit zwischen ihr und Larry ziemlich eskaliert. Allerdings war er auch betrunken und wusste wohl nicht was er tat. Sie strich sich mit der Hand über die Wange, als ihre Aufmerksamkeit auf einen Bautrupp geleitet wurde, der wohl endlich die ausgefallene Laterne reparieren wollte.
„Wurde auch Zeit.“ murmelte sie vor sich hin und wandte sich vom Fenster ab. Kurze Zeit später klingelte das Telefon und Catherine hob ab.
„Hoover?“
„Catherine? Ich bin es, Nina. Kannst du schnell in den Laden kommen?“
„Wieso? Was gibt es denn?“
„Der Zulieferer ist da und will die neue E-Serie abladen, aber ich dachte du hättest sie storniert.“
„Das habe ich auch!“ zischte Catherine leicht erbost ins Telefon. „Lehne die Lieferung einfach ab.“
„Er lädt aber schon aus und er meinte auch, dass er keine Quittung für den Empfang benötigen würde. Der Mann ist wirklich unmöglich. Komm bitte und sprich ein Machtwort ja?“
Catherine verdrehte die Augen und stimmte schließlich zu. Eilig lief sie zu ihrem Wagen und raste zu ihrer Boutique. Vor dem Laden stand noch immer der große LKW aus dem der Fahrer mit grimmigem Gesichtsausdruck die Kleiderständer holte.
„Hey Sie da!“ rief Catherine leicht angesäuert und wedelte mit der Hand in der Luft herum. „Sie sollten das doch gar nicht liefern!“

Linda wählte nervös immer und immer wieder die gleiche Telefonnummer, doch es hob keiner ab. Mit Mühe hatte sie sich in die kleine Kabine gequetscht und versuchte nun vom Flieger aus zu telefonieren. Sie hatte extra bis ein Uhr morgens gewartet, weil sie wusste, dass es bei Catherine dann so gegen zehn sein musste. Sie versuchte sie schon seit gut zehn Minuten zu erreichen und endlich nahm jemand den Hörer ab.
„Hoover.“ hörte sie eine extrem schlecht gelaunte Männerstimme in die Muschel sagen.
„Larry? Hier ist Linda.“ flüsterte sie angestrengt, um die anderen Passagiere nicht zu wecken.
„Linda?“ wiederholte er und rieb sich seinen schmerzenden Kopf. „Sie müssen sich verwählt haben.“ flötete er und legte einfach wieder auf.
Linda ballte ihre Hände zu Fäusten. Dieser Typ wusste wohl nicht, wie lange es dauerte, bis sich endlich eine Verbindung aufgebaut hatte, wenn man ein Auslandsgespräch führen wollte, das über zig Kontinente hinweg führte. Wieder wählte sie die Nummer ein und wartete auf das Freizeichen und wieder ging dieser forsche Larry an den Apparat.
„Hoover.“ maulte er sichtlich genervter in den Hörer.
„Larry! Wo ist Catherine, ich muss mit ihr reden!“
„Catherine? Keine Ahnung, zur Arbeit schätze ich.“
„Zur Arbeit? Ich dachte, sie hätte sich frei genommen?“
„Woher soll ich dass denn wissen?!“ brüllte er in den Hörer. „Bin ich ein Orakel?!“
„Schon gut! Hast du ihre Handynummer?“
Kurz knackte es in der Leitung und Linda vernahm, dass Larry den Hörer abgelegt hatte. Sie blickte sich in der Maschine um. Die Lichter waren auf ein Minimum gedimmt und spendeten nur wenig Licht. Die Passagiere schliefen, nur von ihrem Platz aus strahlte es etwas, da sie ihr Notebook nicht abschaltet hatte. Nach einiger Zeit nahm er ihn wieder auf.
„Hast du was zu schreiben?“
„Ja.“
Er gab ihr die Nummer durch und legte prompt wieder auf. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen Catherine ihr Kind anzuvertrauen. Sie hatte ja von dem Streit zwischen sich und ihrem Mann erzählt, aber dass er so schroff war, hatte Linda nicht gedacht.
Sie sah aus dem Fenster des Flugzeugs und warf einen Blick über die fast schwarzen Wolken. Müde war sie überhaupt nicht, im Gegenteil. Sie wunderte sich, dass alle anderen so hervorragend schlafen konnten, nur sie nicht.
Sie wählte CatherineŽs Nummer in das Kreditkartentelefon und wartete. Rauschen, ein Knacken, wieder Rauschen und endlich das Freizeichen.
„Hallo?!“ zischte Catherine am anderen Ende in den Apparat.
„Catherine? Ich bin es, Linda.“
„Linda!“ ihre Stimmung verbesserte sich rasch und ihre Stimme nahm wieder humane Züge an. „Bist du schon gelandet?“
„Nein, ich rufe vom Flugzeug aus an. Wie geht es Julian? Wo bist du? Ich konnte dich zu Hause gar nicht erreichen?“
„Ach ich stehe gerade in meinem Laden und ärgere mich über diesen pampigen Lieferanten. Der hat mir eine Kollektion geliefert, die ich storniert hatte, weißt du?“
„Achso. Und? Hat er sie wieder mitgenommen?“
„Nach endlosen Diskussionen, ja.“
„Wie geht es Julian?“
„Ach dem geht es gut. Er ist bereits im Kindergarten und amüsiert sich dort.“
„Hat Mister Taylor noch irgendetwas gesagt?“
„Wer?“
„Sein Gruppenleiter?“
„Ach DER Mister Taylor. Nein, nichts besonderes. Er hat nur gefragt, wann ich den kleinen wieder abhole.“
„Na dann ist ja gut. Ich hatte mir ein wenig Sorgen gemacht. Wir sind bereits durch zwei Gewitter geflogen und ich konnte einfach nicht schlafen.“
„Oh wie schrecklich. Ich glaube, mir wäre sofort übel geworden.“
„Naja es geht. Catherine, ich rufe dich nochmal an, wenn ich im Hotel bin, meine Kreditkarte glüht bereits.“
„Oh natürlich! Weißt du schon, wann ihr landet?“
„Der Flug hat glaube ich eine halbe Stunde Verspätung. Ich denke ich werde dich gegen fünf amerikanische Zeit nochmal anrufen. Bist du dann zu Hause?“
„Aber sicher doch.“
„Gut, also bis dann.“
„Ja bis dann und einen angenehmen Flug dir noch.“
Linda hängte erleichtert den Hörer zurück auf die Gabel und zog ihre Kreditkarte aus dem Telefonapparat. Alles war in Ordnung. Ihre anfängliche Unruhe legte sich und so presste sie sich an den unzähligen Sitzen vorbei, um zu ihrem Platz zu kommen. Der Bildschirmschoner ihres Notebooks hatte sich bereits eingeschaltet und sie klappte den Monitor herunter. Ein paar Stunden Schlaf konnten nicht verkehrt sein. Sie setzte ihre Schlafbrille auf und atmete erleichtert auf.

„Zu spät, zu spät, zu spät!“ rief Catherine immer und drückte auf das Gaspedal. Es war bereits zehn vor halb fünf, als sie endlich den Kindergarten erreichte und geschafft aus ihrem Auto sprang. Hoffentlich gab das keinen Ärger. Stundenlang hatte sie erst mit dem Lieferanten diskutiert und dann rief auch noch eine empörte Frau aus dem Lager an und maulte sie an, warum sie die Annahme verweigert hatte. Atemlos drückte sie die Tür zum Kindergarten auf und lief durch das Gebäude. An der Glastür mit den Marienkäfern blieb sie stehen und klopfte sachte an.
„Herein.“ hörte sie Vince rufen und öffnete die Tür. Er saß allein mit Julian am Tisch und lobte das Bild, welches er gemalt hatte.
„Entschuldigen Sie bitte, Mister Taylor, aber es gab Probleme in meinem Laden und ich habe die Zeit total verschwitzt.“
„Keine Ursache.“ Er stand auf und blickte sie fragend an. Von dem morgentlichen Strahlen war nichts, aber auch nichts übrig geblieben und Catherine fühlte sich sichtlich ertappt.
„Es wird nicht wieder vorkommen.“
„Tante! Da bist du ja! Ich dachte schon, du willst mich nicht mehr.“
„Was? Ach Julian. Komm her.“
Sie ging auf die Knie und schloss den Kleinen in ihre Arme.
„Ich werde für den Ihnen entstandenen Schaden natürlich aufkommen.“ pflichtete sie Vince bei und blickte ihm entschuldigend in die Augen.
„Das ist wirklich kein Problem. Julian und ich haben uns gut amüsiert.“
„Das ist schön zu hören.“
„Wir waren heute auf dem Spielplatz!“ warf Julian in die Runde und klatschte in die Hände.
„Und? Hattet ihr Spaß?“
„Und wie!“ seine Augen weiteten sich und strahlten Catherine groß an.
„Hol deine Jacke Julian.“ entgegnete sie ihm und gab ihm einen Klaps auf den Hintern. Eilig rannte der Junge aus dem Zimmer und Catherine richtete sich wieder auf.
„Ich weiß, dass es mich nichts angeht, aber Julian hat heute so etwas angedeutet, Miss Hoover.“
Vince räumte die Stifte zurück in einen kleinen Koffer und stellte ihn in einem Regal ab.
„Ich verstehe Sie nicht. Was meinen Sie mit „angedeutet“?“
Mit einem Stofftiger in der Hand drehte er sich zu ihr und blickte auf den Boden.
„Julian meinte, dass sie gestern einen Streit hatten und Ihr Mann Sie geschlagen hätte.“
Sofort röteten sich CatherineŽs Wangen und ein riesiges Schamgefühl kochte in ihr hoch, was sie dazu brachte, mit den Zähnen zu knirschen.
„Sie haben Recht, es geht Sie tatsächlich nichts an.“
„Ich wollte nur fragen, ob es Ihnen gut geht.“
„Es geht mir hervorragend. Danke.“ entgegnete sie ihm gekränkt und war im Begriff zu gehen.
„Meinen Sie, dass das für Julian der richtige Ort ist? Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, aber meinen Sie nicht auch, dass Kinder so etwas nicht mit erleben sollten?“
CatherineŽs Wut wandelte sich in Trauer und Ohnmacht. Was hätte sie denn tun sollen? Sie war über LarryŽs Handlung selbst so überrascht, dass sie in dem Moment nicht wusste, was richtig und was falsch ist.
„Ich habe es mir nicht ausgesucht, Mister Taylor!“ Sie betonte seinen Nachnamen besonders kräftig und drehte sich noch einmal zu ihm um. „Aber ich werde in Zukunft versuchen, Julian aus diesen Sachen heraus zu halten. Wünschen Sie mir Glück, dass es mir beim nächsten Mal besser gelingt!“
Abrupt drehte sie sich um und verließ das Spielzimmer, um Julian an der Hand zu nehmen und zum Ausgang zu schleifen.
„Ich muss mich noch verabschieden!“ rief Julian ihr zu und zerrte an ihrem Arm.
„Du siehst ihn morgen bereits wieder. Und jetzt komm.“
„Nein! Tante, bitte warte! Vince ist doch mein Freund!“
„Aber morgen bist du auch wieder hier. Keine Angst, du siehst ihn schon wieder.“ Unerbittlich zog sie Julian hinter sich her und sie näherten sich dem Ausgang.
„Aber ich will nicht zu Onkel Larry! Er tut dir weh!“
Sofort stoppte Catherine und blickte den Jungen entsetzt an. Der riss sich aus ihrer Hand los und rannte zurück zu Vince.
Tränen rannen ihr über das Gesicht und sie kramte nach einem Taschentuch, um sie zu trocknen. Julian hatte also alles vom Streit mitbekommen. Wie schrecklich. Was musste das für ein Anblick gewesen sein? Und was würde Linda ihr sagen, wenn sie erfuhr, was vorgefallen war? Nie wieder würde sie ihren Sohn in CatherineŽs Obhut geben. Es war eine Katastrophe.
Hastig wischte sich Catherine die salzigen Tropfen aus dem Gesicht und rückte ihren Mantel zurecht.
„Julian komm bitte. Wir fahren in die Stadt und ich hole dir einen großen Becher Eiscreme.“ rief sie durch den Flur. Hand in Hand traten Julian und Vince aus dem Spielzimmer. Der Kleine hielt seinen Finger an den Mund und überlegte.
„Eis?“ wiederholte er etwas ungläubig und legte den Kopf schief.
„Ja genau. Na komm.“
Sie streckte ihm die Hand aus und lächelte ihm sanft entgegen. Julian nickte und kam auf sie zu.
„Wenn ich merken sollte, dass es Julian bei Ihnen nicht gut geht, ergreife ich entsprechende Maßnahmen Miss Hoover.“ Vince bedachte sie mit einem starren und kalten Blick. Verunsichert nickte sie ihm zu und verschwand mit Julian aus dem Kindergarten.
Nachdem sie im Supermarkt einen großen Becher Eis gekauft hatten, machten sie sich auf den Heimweg. Hastig schloss Catherine die Wohnungstür auf und hechtete zum Telefon, das unermüdlich schellte.
„Hoover?“ hechelte sie in den Hörer.
„Catherine!“ Linda kochte. „Es ist kurz vor sechs! Warum erreiche ich dich nicht?! Ich versuche schon seit über einer Stunde bei dir anzurufen! Wo ist Julian?“
„Linda, entschuldige! Wir, wir waren noch einkaufen. Ich habe die Zeit aus den Augen verloren.“
„Und warum gehst du dann nicht an dein Handy?!“
„Es ist wahrscheinlich noch auf stumm gestellt. Linda es tut mir Leid. Mach dir keine Sorgen, hier ist alles in bester Ordnung.“
„Ich will mit meinem Sohn reden!“
„Ja ist gut, warte hier.“
Catherine legte den Hörer auf den Telefontisch und blickte sich suchend nach dem Jungen um. Der stand gerade in der Küche und steckte den Becher mit dem Eis ins Gefrierfach.
„Julian! Lass nur, ich mache das gleich selbst. Komm schnell her, deine Mama ist am Telefon.“
„Mama?“ wiederholte er und seine Augen begannen zu strahlen. Freudig hob er den Hörer an sein Ohr.
„Mama?“
„Hallo Julian.“

Catherine schloss indes das Eisfach und holte die vorbereitete Lasagne aus dem Kühlschrank. Eine halbe Stunde bei einhundertachtzig Grad sollte genügen und so stellte sie die Auflaufform in den Backofen und schaltete ihn flux ein.
Sie eilte ins Badezimmer und schminkte sich rasch ab. Nachdem sie auch in ihre Wohlfühlsachen geschlüpft war, atmete sie erleichtert auf und warf einen Blick auf die Lasagne. Julian hing noch immer am Telefon und lachte leise auf. Wieder durchfuhr sie ein stechender Schmerz, wenn sie das Kind so betrachtete. Er hatte einen blonden Schopf und große, blaue Augen, die mehr sagen konnten, als tausend Worte. Sie strahlten so jung und frisch und waren durch nichts einzutrüben.
„Mama ich glaube es gibt Essen.“ hörte Catherine ihn sagen und nickte ihm lächelnd zu.
„Dann gib mir die Tante Cathy nochmal kurz.“
„Ist gut. Ich hab dich lieb!“
„Ich dich auch mein Schatz! Bis bald.“
„Tschüss!“
Er nahm den Hörer und hielt ihn Catherine hin.
„Hallo?“ hauchte sie schuldbewusst hinein.
„Catherine, sei mir nicht böse, dass ich eben so forsch zu dir war.“
„Ist schon gut, du hattest ja Recht. Es kommt nicht wieder vor.“
„Ach lass das. Ist doch in Ordnung. Ich hatte mir nur Sorgen gemacht und ich reagiere immer über, das weißt du doch.“
„Ja ich weiß.“
„Ich werde mich jetzt erstmal etwas von dem Flug erholen und melde mich die Tage nochmal. Eine Zeit sollten wir lieber nicht ausmachen. Wenn ich Glück habe, erreiche ich dich und wenn nicht, dann eben nicht.“
„Also Linda!“ empörte sie sich, doch die lachte nur leise auf.
„MachŽs gut Catherine. Und danke nochmal.“
„Schon gut und viel Erfolg.“
„Tante! Der Backofen raucht!“ rief Julian ihr zu und zeigte auf den Qualm in der Küche.
„Linda ich muss Schluss machen, das Essen fackelt ab!“
„Ist gut. Bis bald.“
Catherine schmiss den Hörer auf die Gabel und riss die Tür des Backofens auf. Dunkler Qualm stieg ihr entgegen und sie hustete schwer.
„Erstmal Fenster auf.“ murmelte sie und riss selbiges schnell auf. Die Lasagne war hin. Die Käseschicht war schwarz und die Soße längst verkocht. Gefrustet kaute sie auf ihrer Unterlippe herum und überlegte.
„Heißt das jetzt, dass wir hungrig schlafen müssen?“ fragte Julian und wedelte mit der Hand vor seiner Nase herum, um den Rauch nicht einzuatmen. Besorgt blickte sie zu ihm herunter und schüttelte den Kopf.
„Magst du Pizza?“
„Und ob!“ entgegnete er ihr prompt und Catherine nahm ihn an die Hand. Sie nahmen auf der Couch Platz und sie wälzte ein dickes Telefonbuch.
„Was möchtest du drauf?“
„Salami!“
„Nur Salami?“
Sachte nickte er ihr zu und grinste.
„Gut ok.“
Sie wählte die Nummer vom Pizzaservice `DiabloŽ und gab ihre Bestellung durch. Eine knappe halbe Stunde später klingelte es bereits an der Tür und sie nahm das warme Essen entgegen.
„Setz dich schon an den Tisch, ich schneide die Pizza schnell klein und komme dann auch.“
„Ist gut.“
Etwas unbeholfen, aber zielsicher zog sich Julian an dem großen Holzstuhl hoch und setzte sich gespannt an den Tisch. Seine Augen leuchteten, als Catherine die Pizza vor ihm abstellte. Bei Mama durfte er so etwas nicht essen, aber bei Tante Cathy war es toll. Hier durfte er sogar Pizza und Eis essen.
`Eis!Ž schoss es ihm durch den Kopf.
„Darf ich nachher noch ein Eis?“
„Sicher doch. Nun iss aber erstmal deine Pizza.“
Hastig stopfte er die Stücke in sich hinein und auch Catherine ließ es sich schmecken. Wie lange hatte sie schon keine Pizza mehr gegessen? Es mussten bereits Jahre vergangen sein. Larry hatte sie doch immer zum Pizza essen abgeholt. Sie war blutjunge siebzehn, er war schon einundzwanzig. Und jeden Samstag waren sie Pizza essen. Er hatte sie immer gegen acht mit dem roten neunundsechziger Ford Mustang seines Vaters abgeholt und war mit ihr ins Bilbao, eine kleine Pizzeria gefahren. Und wie immer hatte sie sich für eine Speciale entschieden. Genau wie heute. Salami, Schinken und Pilze. Angestrengt starrte sie auf ihre Pizza.
„Schmeckt es dir nicht Tante?“ unterbrach Julian sie und sie kehrte aus ihren Gedanken zurück.
„Doch doch! Es schmeckt sehr gut.“
„Ich mag keine Pilze.“
„Aber sie sind wirklich lecker. Hast du sie schon mal probiert?“
„Nein, die sehen komisch aus.“
„Möchtest du mal versuchen? Wenn du sie nicht magst, spuckst du sie wieder aus.“
„Mama sagt, dass man Essen nicht ausspucken soll.“
„Julian, wenn einem etwas nicht schmeckt, dann spuckt man es aus. So habe ich das immer gemacht und du darfst das bei mir auch.“
Er griff über den Tisch und fischte sich einen Streifen Champignon von ihrer Pizza. Nachdem er einen knappen Millimeter davon abgebissen, geschluckt und sich nicht daran vergiftet hatte, steckte er ihn komplett in den Mund.
„Und?“
„Schmeckt komisch.“
„Willst du ausspucken?“
Doch Julian schüttelte den Kopf und schluckte den Pilz herunter.
„Würdest du wieder Pilze essen?“
Bestimmt schüttelte er den Kopf.
„Aber zumindest hast du ihn probiert.“
Kurz lächelte er und schob sich das letzte Stück seiner Minipizza in den Mund. Mit noch vollen Backen erhob er wieder das Wort.
„Darf ich jetzt ein Eis?“
„Ich mach dir was in eine Schale. Wollen wir nach dem Essen wieder Pokémon spielen?“
Bestimmt nickte er ihr zu und lächelte seinen kindlichen Charme heraus.
Sie reichte ihm die kalte Nachspeise und setzte sich wieder zu ihm an den Tisch. Seine Augen strahlten das Eis an und hastig schlang er es herunter, als plötzlich die Wohnungstür aufsprang und Larry ziemlich zerknirscht in die Küche trat. Julian blieb das Eis fast im Hals stecken und er rührte sich nicht mehr.
„Hallo.“ fuhr er die beiden trocken an. Sein Blick raste von den Pizzaschachteln zum Tisch und zu den beiden. „Wo ist meine?“ fragte er genervt.
„Ich wusste nicht, wann du nach Hause kommst. Ich dachte es wäre besser keine für dich zu bestellen, sie wäre doch längst schon kalt.“
„Dann mach jetzt was zu Essen.“
„Aber Tante Cathy wollte mit mir gleich Pokémon spielen!“
Ausdruckslos stierte Larry den Jungen an und grummelte leise.
„Und was soll dann der Onkel essen?“ fragte er ihn forsch.
„Eis!“ Freundlich reichte er Larry seine Schale, doch der kochte vor Wut. Bösartig schlug er dem jungen die Schale aus der Hand und leise tropfte das Eis von der Wand auf den Boden.
„Bist du komplett verrückt geworden?! Was fällt dir ein nach ihm zu schlagen?!“
Catherine nahm Julian in den Arm und legte schützend ihre Hand auf seinen Kopf. Laut schluchzte der auf und krallte sich in ihre Bluse.
„Ich komme nach Hause, bin fertig, weil mein Tag so anstrengend war und ich bekomme Eis angeboten?! Als Abendessen?!“ keiferte er laut los und Julian zuckte verschreckt zusammen.
„Schrei doch nicht so! Du machst dem Kleinen Angst!“ Suchend raste CatherineŽs Blick durch die Wohnung. Wo hatte sie den Zettel nur gelassen?
„Du wirst jetzt schnellstens etwas zu Essen machen oder ich drehe durch!“
„Ist ja gut, ich werde dir etwas machen, aber bitte schrei nicht mehr. Julian, geh ins Schlafzimmer spielen. Tante Cathy kommt gleich.“
„Nein bitte. Ich will nicht allein sein!“
„Die Tante kommt gleich, versprochen. Ich beeile mich.“
„WirdŽs bald?!“ Laut donnernd krachte seine Faust auf den Esstisch und das Geschirr samt Besteck flog im hohen Bogen zu Boden. Tausende Scherben verteilten sich in der Essecke und Larry brauchte mehrere Anläufe, um sich wieder unter Kontrolle zu bringen.
Catherine eilte ins Gästezimmer, setzte Julian auf dem Boden ab und verschloss die Tür hinter ihm. Nicht noch einmal sollte er sehen, wie sie sich mit ihrem Mann stritt, denn dass es noch weiter gehen würde, war ihr klar, als sie ihren angetrunkenen Mann erblickt hatte.
Wild schnaubend stand er mit verschränkten Armen noch immer an der gleichen Stelle und stierte sie sarkastisch an.
„Du blühst ja richtig auf seit dem du den Balg hast!“
Beruhigend lächelte sie ihm entgegen.
„Du weißt, dass ich mir selbst auch Kinder wünsche.“
Sie öffnete den Kühlschrank und sammelte ein paar Lebensmittel zusammen.
„Was soll das werden?!“
„Ich mache dir etwas zu Essen?“
„Das soll ich essen? Sehe ich aus, wie ein Kaninchen?! Ich will ein Steak!“ brüllte er los und trat gegen die am Boden liegenden Scherben, die sich nun auch in der Küche verteilten.
„Steak? Aber ich habe kein Fleisch hier.“
Catherine zog ängstlich ihre Augenbrauen zusammen und versuchte die Contenance zu wahren. Ihre Hände zitterten und ein Schweißtropfen perlte an ihrer Schläfe entlang.
„Dann geh halt einkaufen! Wofür hast du Urlaub? Faules Stück!“
Gekränkt wandte sie sich von ihm ab.
„Ich hatte doch keine Zeit heute. Ich war noch im Laden und...“
„Mich interessiert nicht, was du gemacht hast! Ich komme nach Hause und hier ist nichts passiert! Schlimm genug, dass ich dich auf deine Pflichten als Ehefrau hinweisen muss!“
Nun riss Catherine der Geduldsfaden und die gute Manier war vergessen.
„Pflichten?!“ kreischte sie ihm entgegen. „Ich habe keine Pflichten dir gegenüber.“

Julian saß im Gästezimmer und hatte sich in die Bettdecke gewickelt. Er zuckte mehrmals zusammen, als er es laut klatschen hörte und drückte sich die Hände auf die Ohren. Immer und immer wieder knallte es vor der Tür und Tränen rannen an seinem kleinen Gesicht entlang. Schweigend lag er im Bett und wartete auf Catherine, die gleich wieder zu ihm kommen wollte. Sein Herz raste und er atmete hastig. Plötzlich kehrte Ruhe ein und wenig später öffnete sich langsam die Tür.
„Ich bin gleich bei dir Kleiner.“ rief sie ihm zu und schloss wieder ab.
Krampfhaft und unter Tränen suchte sie den Zettel von Linda. Sie musste ihn doch irgendwo gelassen haben? Er konnte unmöglich verschwunden sein. Im Schlafzimmer wurde sie schließlich fündig und studierte die vielen Telefonnummern.
`Giftzentrale, Notarzt, Kinderarzt, Zahnarzt. Gott, was glaubt sie, was ich in den drei Wochen mit ihm anstelle?Ž
Schließlich fand sie, wonach sie gesucht hatte und wählte die Nummer in ihr Handy ein. Ihr Herz raste und wieder knirschte sie unruhig mit den Zähnen.. Bereits nach zweimal Klingeln nahm jemand ab.
„Taylor?“
„Mister Taylor? Hier ist Miss Hoover.“ sprach sie mit fast erstickter Stimme. „Entschuldigen Sie die späte Störung, aber ich brauche ihre Hilfe.“
„Miss Hoover? Ach, die Tante von Julian, richtig?“
„Ja genau.“ presste sie gefasst heraus und wischte ihre Tränen weg.
„Um was geht es denn? Ist etwas mit Julian?“
„Ich habe eine Bitte an Sie.“

Leise suchte sie JulianŽs Sachen zusammen und packte alles notdürftig in einen Einkaufsbeutel. Sie warf sich flüchtig den Mantel über die Schulter und stopfte sich den Notizzettel in die Hosentasche.
„Julian?“
„Tante!“ aufgelöst sprang er aus dem Bett und stürmte auf sie zu.
„Zieh schnell deine Schuhe an. Und vergiss deine Jacke nicht. Wir gehen, komm.“
Bestimmt nickte er ihr zu und schlüpfte in seine Schuhe. Ohne die Schnürsenkel zu zubinden und ohne die Jacke richtig angezogen zu haben nahm sie ihn auf den Arm und trug ihn schnell die Treppen herunter.
Im Auto schnallte sie ihn an und stieg ein. Ein letzter Blick fiel auf die Wohnung, in der noch immer das Licht brannte. Ein dunkler Schatten bewegte sich durch die Küche auf das Schlafzimmer zu und Catherine startete den Motor.
Während der Fahrt kramte sie den Notizzettel aus ihrer Hose und las ihn durch. Suchend begutachtete sie die Straßenschilder und bog an der nächsten Kreuzung ab. Vor einem kleinen Haus mit nur zwei Etagen stoppten sie.
„Wo bringst du mich hin?“
„Erst mal weg von Onkel Larry.“ entgegnete sie ihm mit fast erstickter Stimme und schnallte ihn ab.
Sie griff nach der Einkaufstüte und trug Julian über die Straße. Nur schwer leserlich war die Schrift an der Klingelanlage, bis sie endlich den Namen Taylor entdeckte und den Kopf tief eindrückte. Es summte und die Tür sprang auf. Sie stieg zwei Treppen hoch und blieb auf der letzten verbleibenden Stufe stehen.
Vince blickte sie fragend an. Er hatte seine Arme verschränkt, ließ sie aber entsetzt nach unten gleiten.
„Es tut mir Leid, wegen der Störung.“
„Kommen Sie erstmal rein.“
Er drückte mit dem Rücken gegen seine Wohnungstür und zeigte in seinen Flur.
„Vince!“ rief Julian und streckte die Arme nach ihm aus.
„Komm her großer!“ er nahm ihn in den Arm und knuddelte ihn kräftig. Nachdem er ihn kitzelte, fing er auch endlich wieder an zu lachen und beruhigte sich. Catherine folgte den Beiden in die Wohnung und schloss die Tür. Ihr Blick schweifte durch den Flur und folgte Vince und Julian in die Stube. Alles war wesentlich kleiner, als bei ihr zu Hause und doch hatte es einen gemütlichen Charakter. Die alten Holzdielen unter ihren Füßen knarrten mit jedem Schritt und so schwebte sie fast schon ins Wohnzimmer, um nichts kaputt zu machen. In T-Shirt, Jogginghose und Tennissocken saß Vince auf der kleinen Eckcouch und blickte sie fragend an.
„Möchten Sie vielleicht etwas trinken?“
„Ein Glas Wasser wäre nett.“
Er nickte ihr zu und stand wieder auf. Rechts von der Couch war eine Tür in der er verschwand. Sie vernahm das Klirren von Glas und lächelte ihm verlegen zu, als er ihr das kühle Nass reichte.
„Nehmen Sie Platz. Sie müssen nicht die ganze Zeit stehen.“
„Ich muss gleich wieder los, Mister Taylor. Es bereitet Ihnen auch wirklich keine Umstände?“
„Ist schon ok. Wir werden schon einen tollen Schlafplatz für dich finden, nicht wahr, Julian?“
„Ich darf hier bei Vince bleiben?“
„Ja genau. Du bleibst bei Vince und bist schön artig.“
Catherine ging in die Hocke und strich ihm über den blonden Schopf.
„Und schlafen wir in einem Bett?“
„Nein, das geht nicht.“ lächelte sie ihm entgegen und stand wieder auf.
„Sie sollten sich wenigstens fünf Minuten setzen. Sie sehen blass aus und ich würde mir Ihre Lippe gern mal ansehen.“
„Meine Lippe?“
Verdattert fühlte Catherine mit ihrem Finger an ihren Lippen entlang und stoppte, als sie etwas nasses spürte, dass heftig schmerzte, sobald sie es berührte. Ihr Blick fiel auf das Blut an ihren Fingern und raste danach zu Julian. Der saß auf dem Boden und spielte mit den Fransen, die das Sofa am Sockel umrahmten.
Catherine schluckte schwer, nickte und nahm schließlich Platz. Aus der Küche holte Vince einen Erste Hilfe Koffer und setzte sich zu Catherine.
„Was ist denn passiert?“
„Nichts weltbewegendes.“ entgegnete sie ihm traurig und blickte wirr in der Gegend herum.
„Vorsicht, es brennt gleich etwas.“
„Au.“
„Sorry.“ Mit einem Tupfer strich er die aufgeplatzte Stelle und doch quoll immer ein neuer großer Tropfen Blut heraus. „Haben Sie Stress zu Hause?“ fragte Vince sie weiter aus, ohne seinen Blick von ihrer Lippe weg zu bewegen.
Entsetzt stieß sie ihn von sich weg.
„Das geht Sie doch überhaupt nichts an?!“
„Es geht mich etwas an, wenn es einem meiner Kinder nicht gut ergeht. Also, was ist jetzt?“
Sein scharfer, durchbohrender Blick strafte sie von einer Sekunde zur anderen und wollte nicht von ihren Augen ablassen. „Hat Julian schon gegessen?“
„Ja. Eigentlich dürfte er keinen Hunger mehr haben.“
„Es gab Pizza!“ Schaltete er sich ein und stand vom Boden auf, um Vince bei seiner Tätigkeit zu beobachten.
„Das klingt doch toll. Hat es dir geschmeckt?“
„Jaha!“ betonte er bestimmt und nickte noch dazu, um es zu bekräftigen.
Neben dem Sofa stand eine Gitarre und ein paar Notenzettel lagen am Boden verstreut. Die Heizung lief auf Hochtouren und gluckerte leise.
„Es schneit!“ rief Julian und stürmte zum Fenster. „Gehen wir einen Schneemann bauen?“
„Heute nicht mehr. Es ist bald Schlafenszeit.“ lächelte Vince ihm freundlich entgegen und zwinkerte ihm zu. „Aber morgen im Kindergarten holen wir das nach.“
„Prima!“ Der Kleine klatschte laut in die Hände und hüpfte wild in der Wohnung herum. „Spielst du mir nachher noch was vor?“
„Aber sicher doch.“
Catherine verfolgte Julian verstohlen mit den Augen und ließ sich weiter von Vince verarzten. Es war ihr alles so furchtbar peinlich. Um nicht VinceŽs scharfen Blicken ausgesetzt zu sein, schloss sie die Augen. Der heutige Abend erinnerte sie an eine längst vergangene Zeit. Larry hatte schon einmal so heftig reagiert. Damals schwor er ihr, dass er es nie wieder tun würde und sie glaubte ihm, denn bereits nach seinem Versprechen wandelte er sich drastisch zum Guten. Seine Arbeit verlief gut, ihre Modeboutique boomte und sie planten einen gemeinsamen Urlaub. Verreist sind sie jedoch nicht, weil Larry immer etwas dazwischen kam. Als er schließlich seine Arbeit verlor, brauchte sich das Ersparte von ganz allein auf und an Urlaub war nicht mehr zu denken. Natürlich hatte sie bemerkt, dass es ihm nicht gut ging, so ganz ohne Arbeit, aber sie hatte immer versucht, ihn wieder aufzubauen und ihn zu ermuntern, sich etwas Neues zu suchen. Jedoch schlugen all seine Versuche Fehl. Er tran
k häufig und war manchmal ungenießbar, aber die Reaktion von heute Abend hatte sie so noch nie erlebt. Nie war er so brutal und heftig gegen sie vorgegangen. Catherine lief ein kalter Schauer über den Rücken. War das wirklich der Mann, den sie mal so geliebt hatte? Aber halt! Sie rief sich gedanklich selbst zur Ordnung. Wieso geliebt hatte? Sie liebte ihn doch noch, oder? In Gedanken versunken schüttelte sie ihren Kopf.
„Sie müssen schon still halten, sonst wird das nichts.“ tadelte Vince sie sofort und packte einen neuen Tupfer aus.
„Tut mir Leid.“ presste sie verhalten heraus und blickte ihn an.
„Ich denke, dass die Blutung gestoppt ist. Ich mache noch etwas Salbe drauf und dann lassen wir es so, wie es ist. Das heilt dann von allein.“
„Danke. Ich werde mich dann auch wieder auf den Weg machen.“
„Wohin gehst du denn?“ fragte Julian interessiert nach und zog an einem ihrer Hosenbeine.
„Ich muss noch einkaufen.“
„Aber wir haben doch schon gegessen?“
„Ja, aber Onkel Larry noch nicht.“
JulianŽs fragender Gesichtsausdruck wich einem entsetzten und er zog seine Hand wieder zurück. Mit offenem Mund blickte er zu Vince, der ihn anlächelte.
„Tante geh nicht weg. Onkel Larry ist so böse.“
„Shht. Du bleibst jetzt bei Vince und bist schön lieb ja?“
„Aber...“
„Versprich es mir.“ Sie reichte ihm ihre Hand. Artig nickte er wieder einmal und schlug ein.
„Gut, also dann schlaf schön. Ich hole dich dann morgen wieder ab.“
„Ist gut.“ rief er ihr etwas irritiert nach und hob die Hand zu einem Winken.
Vince begleitete sie noch zur Wohnungstür und wartete, bis er die Haustüre im Flur zufallen hörte.

Im Supermarkt durchstöberte Catherine die Fleischtheke. Eine Verkäuferin blickte sie fragend an.
„Was kann ich Ihnen Gutes tun?“
„Ich hätte gern zwei Rumpsteaks bitte.“
„Sehr gern.“
Sie packte das Fleisch in eine Tüte und überreichte es ihr. Catherine nickte nur und legte es in den Einkaufswagen. Sie musste wieder zurück. Zurück zu dem Mann, der ihr die Lippe blutig geschlagen hatte. Zu dem Mann, der sicher schon sturzbetrunken war, wenn sie wieder nach Hause käme. Ekel überkam sie und Wut keimte in ihr auf. Wieso hatte sie Julian nicht schützen können? Wieso musste sie überhaupt ein Kind vor ihrem Mann schützen? Hatte er ihr nicht tausend Mal gesagt, wie sehr er auch gern Kinder hätte? Und nun hatte er die Gelegenheit das Leben als kleine Familie auszukosten und vergiftete alles mit seinem verdammten Alkohol! Schwankend griff Catherine in ein Regal, um dort Halt zu finden. Ihr war übel. Und Vince erst. Was musste er von ihr denken? Sicher dachte er, dass sie zu einer assozialen Familie gehörte, die niemals gute Manieren und Benehmen lehrte und auch selbst davon nicht viel hielt. Sie schüttelte den Kopf. Nein! Das sollte er nicht von ihr denken. Das durf
te er nicht denken! Sie musste es wieder gut machen. Sie musste seinen schlechten Eindruck von ihr aus seinem Kopf löschen, koste es, was es wolle. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und richtete sich auf. Zielstrebig legte sie noch ein paar Sachen in den Einkaufswagen und zahlte alles an der Kasse.
Als sie ihre Wohnung betrat dröhnte aus LarryŽs Zimmer bereits laute Musik und er gröhlte furchterregend den Text mit. Catherine atmete tief durch und stellte sich an den Herd. Es war schon nach zehn, als das Essen fertig war und sie klopfte zaghaft an die Tür des Arbeitszimmers, wohlwissend, dass das Getöse aus den Lautsprechern ihr Klopfen bereits im Keim erstickte. Sie öffnete die Tür und blickte sich um. Das Arbeitszimmer sah aus, wie ein Schlachtfeld und mitten drin saß ihr Mann. Umringt von Müll, Zeitungen und Essensresten, die er aus Faulheit einfach liegen gelassen hatte. Wieder zog dicker Qualm in ihre Wohnung und Larry drückte desinteressiert seine Zigarette aus.
„Das Essen ist fertig!“ rief sie ihm zu und er nickte. Schnell drehte sie ab und ging zurück in die Küche. Sorgfältig spülte sie das Geschirr und die Töpfe. Ihr im Nacken saß Larry, der laut schmatzend wie ein Schwein über das Essen herfiel.
„Schmeckt es dir?“ fragte sie, um ihm nicht die ganze Zeit dabei zuhören zu müssen.
„Etwas lasch, aber es geht.“
„Brauchst du noch Pfeffer oder Salz?“
„Lass mich essen. Wenn ich etwas brauche, dann nehme ich es mir schon selbst.“
„Dann koch dir doch in Zukunft SELBST etwas.“ murmelte sie ganz leise vor sich hin. Verschreckt drehte sie sich um, als sie das Poltern seines Stuhls vernahm.
„Was war das?“ Seine fast grauen Augen musterten sie fortwährend und Catherine schluckte schwer.
„Nichts. Es war nichts!“
Er nickte und setzte sich wieder an seinen Platz.
„Warum bist du so?“ fragte sie ihn nach einiger Zeit und zwirbelte immer wieder die Ecke des Geschirrtuches auf und zu.
„Warum bin ich wie?!“ maulte er zurück.
„Warum bist du so aggressiv? Du hast Julian vorhin einen Mordsschreck eingejagt! Er hat total geweint.“
„Und?“ entgegnete er ihr kalt und gefühllos. „Was kümmern mich fremde Kinder?“
„Larry, das ist LindaŽs Sohn. Wir haben die Pflicht...“
„Ich habe ihr gegenüber keine Pflichten. Sie ist nur eine unbedeutende Persönlichkeit, nichts weiter.“
Aus dem Arbeitszimmer tönte LarryŽs Handy, worauf er hastig aufsprang und die Tür hinter sich zuwarf. Catherine warf einen nichtssagenden leeren Blick auf den Boden und trocknete weiter ab. Nach einer Weile sprang die Tür auf und Larry zog seine Jacke und seine Schuhe an.
„Was gibt?s denn? Musst du noch weg?“
„Warte nicht auf mich, wird spät.“ rief er noch, bevor er überlaut die Tür zu schmiss. Wieder atmete Catherine tief durch und blies sich die Luft durch das Gesicht.
Zumindest war sie jetzt endlich allein und ungestört. Sie kramte nach einer Schüssel und einem Löffel.

„Julian! Wach auf, großer. Wir müssen los.“
Widerwillig öffnete der Junge sein linkes Auge und blinzelte Vince an.
„Es ist noch dunkel.“ stellte er fest und kniff das Auge wieder zu.
„Ich weiß. Na komm. Zähne putzen, waschen und anziehen.“ Er hob ihn vom Sofa und trug ihn in sein kleines Badezimmer, wo er schon Wasser in die Duschwanne gelassen hatte. Sachte setzte er ihn hinein und spritze ihn ein wenig nass.
Julian riss die Augen auf und stieg sofort auf das Spiel ein. Nachdem Vince sich und den Jungen fertig gemacht hatte, verließen sie seine Wohnung und fuhren zum Kindergarten. Natürlich waren sie die ersten und Julian staunte nicht schlecht über die Ruhe die noch herrschte, wenn niemand anderes da war.
„Willst du im Spielzimmer auf die anderen warten? Maria kommt bestimmt auch bald.“ versuchte er Julian etwas aufzuheitern.
„Ist gut.“
Flux verschwand der im Spielzimmer und Vince schloss alle Türen zu den anderen Räumen auf. Jedoch konnte sich der Kleine nicht lange allein beschäftigen und stieß wieder zu ihm.
„Ob es Tante Cathy gut geht?“
„Ich denke schon.“
„Aber sie hatte ein Weh Weh am Mund.“
„Das heilt wieder, mach dir keine Gedanken.“
„Onkel Larry hat sie geschlagen, das habe ich gehört. Aber sie hat mich im Zimmer eingeschlossen und deshalb konnte ich sie nicht schützen.“
Vince blickte ihn mitleidig an und sortierte seine Worte.
„Julian hör mal. Deine Tante ist eine erwachsene Frau und weiß, was sie tut. Dein Onkel ist auch erwachsen, obwohl er sich scheinbar nicht so benimmt. Du hättest ihr nicht helfen können.“
„Doch! Ich hätte meine Aquaknarre auf ihn gerichtet und BUMM!“
Vince schüttelte nachdenklich den Kopf und strich Julian über den Schopf.
„Streiten sich die beiden öfter?“ fragte er schließlich und blickte den Kleinen fragend an.
„Ich weiß nicht. Ich glaube schon. Er hat sie schon zwei mal gehauen. Aber ganz doll. Er hat so gemacht und dann hat es BUMM gemacht!“
„Verstehe.“ Kurz sammelte sich Vince wieder und sortierte die Schlüssel in seiner Hand. „Schau mal, Maria kommt.“
Julian stürmte sofort auf das Mädchen zu und beide begannen zu lachen. Maria verabschiedete sich von ihrem Vater und hastete ihrem Freund in das Spielzimmer nach.

Kurz nach zehn schlug Catherine die Augen auf. Ihr Herz raste, ihr Atem stockte und sie schwang sich hastig aus dem Bett. Larry polterte gerade zur Wohnungstür herein. Sie zog sich einen Morgenmantel über und öffnete die Schlafzimmertür einen Spalt breit.
`Nicht zum Kühlschrank, nicht zum Kühlschrank!Ž Ein paar Minuten lang schickte sie Stoßgebete gen Himmel und beobachtete Larry. Schließlich verschwand er wie immer in seinem Zimmer und schloss ab.
Erleichtert entfuhr ihr ein Seufzer und sie drückte sich tadelnd die Hand auf den Mund. Sie duschte, machte sich fertig und packte alles in große Transportboxen. Hoffentlich waren sie gelungen. Sie biss sich auf die Unterlippe und legte den Kopf schief, nahm jedoch dann ihren Mantel und lief zügig zum Auto herunter. Auf direktem Wege steuerte sie den Kindergarten an und lief zielstrebig auf JulianŽs Spielzimmer zu. Mit dem Ellenbogen drückte sie die Klinke der Tür herunter und trat ein.
„Old Mc Donald hat Žne Farm, ihaihaoh! Und auf der Farm da steht Žne Kuh, ihaihaoh. Mit Žnem Muh muh hier und Žnem Muh muh da. Hier ein Muh und da ein Muh, überall Muh muh.“
Vince zupfte wild auf seiner Gitarre herum und sang lauthals. Alle Kinder saßen lachend um ihn herum und sangen mit. Es war ein wirklich süßes Bild, was sich Catherine da bot und sie verweilte, um noch ein wenig davon genießen zu können. Vince tippte mit dem Fuß immer im Takt auf den Boden und schien lustige Grimassen zu schneiden. Oh ja, er wusste, wie man mit Kindern umging. Catherine drohte in einer Traumwelt zu versinken, besann sich jedoch schnell und räusperte sich, um bemerkt zu werden.
„Tante!“ rief Julian und stürmte auf sie zu. Auf dem Weg zu ihr verlor er seinen Hausschuh, was ihn keinesfalls bremste. Mit voller Wucht hängte er sich an ihren Mantel und ihr drohte alles aus der Hand zu fallen. Vince warf die Gitarre auf den Boden und stürzte ebenfalls auf Catherine zu. Zur Rettung der Sachen in ihren Händen versteht sich.
„Das war knapp.“ stellte er außer Atem fest und blickte sie an.
„Stimmt. Mister Taylor, ich wollte mich damit bei Ihnen wegen gestern entschuldigen. Nicht nur, dass Sie unnötig lang hier bleiben mussten, sondern auch, weil Julian bei Ihnen schlafen durfte.“
„Das ist doch kein Problem. Ich sagte bereits, dass es mich nicht stört.“
„Nehmen sie es bitte trotzdem an. Vielleicht wollen die Kinder ja auch etwas. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben und hoffe, dass sie schmecken.“
Vince zog eine Augenbraue hoch und schielte durch die Abdeckung der Platte, die er in der Hand hielt.
„Törtchen?“ stellte er überrascht fest und alle Kinder gerieten außer Rand und Band. Alles tobte wild um ihn herum und bettelte auch eines haben zu dürfen.
„Also Moment mal Kinder. Setzt euch und Ruhe!“ doch die dachten gar nicht daran und tobten munter weiter.
„Ich sagte Ruhe!“ schrie er nun etwas lauter und bestimmter und blickte leicht verärgert in die Runde.
„Es gib keinen Grund hier so einen Tumult zu machen. Wenn ihr so schreit kommen die anderen Kinder und wollen wissen was los ist. Dann müsst ihr die Törtchen mit denen teilen.“
Absolute Totenstille kam auf.
Catherine musste lachen und presste sich die Hand vor den Mund.
Eine junge Frau öffnete die Tür.
„Was ist denn hier los?“
„Ach, entschuldige, aber die Kinder haben etwas Süßes entdeckt.“
„Achso.“ Sie lächelte freundlich, nickte Catherine nett zu und schloss die Tür wieder.
„Wer möchte raus in den Garten?“ rief er schließlich und alles schrie laut auf.
„Dann rein in eure Jacken und Schuhe. An der Tür gibt es noch eine Kontrolle.“
Seine Stimmung wurde wieder heiter und an der Glastür, die vom Spielzimmer direkt in den Garten führte, kontrollierte er alle Schuhe und Sachen. Bei einigen band er die Schnürsenkel neu, setzte den Kindern die Mützen auf und band einige Schals so, dass keine Luft in die Jacke wehen konnte.
„Und nun raus mit euch.“
Die Kinder stürmten nach draußen und die Törtchen waren in Vergessenheit geraten. Das Zimmer war voll verglast, man hatte eine fabelhafte Sicht in den Garten und auch auf die Kinder, die draußen freudig herum sprangen und spielten. Sofort wurden große Kugeln gerollt und der Bau eines Schneemannes war beschlossene Sache, auch wenn das aufkommende wärmere Wetter die Winterpracht bereits zum Schmelzen verurteilt hatte.
„Warum sind Sie hier?“ sein freundlicher Blick wandelte sich rasch in ein kaltes Starren, womit er sie bedachte. Verlegen sah sie zu Boden und rang um Worte, die sie ihm entgegen bringen konnte, doch ihr wollte nichts einfallen.
„Sie mögen mich nicht besonders, was?“ entfuhr es ihr schließlich und sie blickte kurz zu ihm auf.
„Setzen Sie sich.“
Er rückte ihr seinen Stuhl hin und nahm auf dem Boden Platz.
„Ihnen müsste doch klar sein, was ich davon halte, wenn Kinder Gewalt erfahren beziehungsweise erleben. Es schadet ihnen so ungemein. Ich weiß nicht, was bei Ihnen zu Hause los ist und es geht mich auch nichts an, aber ich werde die nötigen Maßnahmen ergreifen, wenn ich bemerke, dass es Julian schlecht geht. Sei es das Jugendamt oder seine Mutter. Ich werde jemanden verständigen, wenn ich noch einmal von dem Jungen hören muss, dass Sie ihn einsperren oder dass er Sie so gern verteidigt hätte.“
„Was?!“ Catherine nahm auf dem Stuhl Platz und blickte Vince fassungslos an.
„Er ist gerade mal vier und beschäftigt sich mit Themen, die für ihn noch gar nicht von Interesse sein dürften. Gewalt, Schläge, Angst. So etwas hat in seinem Kopf nichts verloren.“
„Das weiß ich doch alles.“
„Und warum setzen Sie ihn dann solchen Szenen aus? Ist es, weil es nicht Ihr Kind ist? Würden Sie Ihr Kind besser davor bewahren?“
Eine Träne stürzte auf die Abdeckung der Törtchen und zersprang in tausend Teile.
„Ich habe keine Kinder. Ich kann keine bekommen. Wahrscheinlich liegt es daran, dass mein Schutzinstinkt nicht ausgebaut genug ist.“
Vince schluckte schwer und stellte die Törtchen aus seiner Hand auf den Boden.
„Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.“
„Nein, Sie haben ja vollkommen Recht. Vielleicht wäre es das Beste, wenn ich Julian nicht wieder mit zu mir nach Hause nehme. Im Moment kann ich die Situation nicht gut genug abschätzen, um zu erahnen, was als nächstes passiert.“
„Wer hat sie so geschlagen?“ Vince richtete sich auf und kniete sich vor sie, um ihr Gesicht nochmals zu begutachten. Zittrig blickte sie ihn an. Er war doch fremd für sie? Warum also hatte sie das Gefühl ihn schon seit Jahren zu kennen? Sie hatte das dringende Bedürfnis sich bei jemandem auszuweinen, aber doch nicht bei diesem Mann! Sie kannte ihn ja eigentlich nicht!
„Ist es Ihr Mann?“ fragte er sie sachte, obwohl er die Antwort auf seine Frage bereits kannte.
Sie nickte ihm zu und drehte ihr Gesicht von ihm weg. Es war ihr so unendlich peinlich, dass sie ihm eingestehen musste, sich nicht selbst wehren zu können. Aber es zwang sie ja keiner dazu mit ihm zu reden und eigentlich war sie gedanklich schon aufgestanden und gegangen, doch ihr Körper gehorchte nicht auf das, was ihr Kopf ihm sagte und so verweilte sie. Um sie herum lagen Spielsachen und Malbücher, Stifte und Hausschuhe. Es herrschte regelrechtes Chaos.
„Warum lassen Sie sich das gefallen? Zeigen Sie ihn an. Es ist Ihr Recht als Mensch, als Frau.“
Er kniete noch immer vor ihr und legte den Kopf etwas auf die Seite, um sie besser sehen zu können.
„Ich soll meinen eigenen Mann anzeigen? Wie stellen Sie sich das vor? Das ist eine Ehe, man hat Verpflichtungen, die man einhalten muss.“
„So? Und welche wären das?“
Krampfhaft suchte Catherine nach einer Antwort auf die Frage, die sie ihrem Mann vor nicht all zu langer Zeit selbst gestellt hatte. Sie hatte keine Pflichten, hatte sie ihm gesagt und nun hörte sie sich schon genauso an wie Larry. Sie zuckte mit den Schultern und schwieg. Es gab keine Antwort auf die Frage. Schließlich hatte sie geheiratet, weil sie Larry liebte und nicht, um sich neue Pflichten aufzubürden.
„Wollen Sie daran zerbrechen, Miss Hoover? Wollen Sie daran wirklich kaputt gehen? Ist Ihre Liebe so stark, dass sie seine Gewalt ertragen können?“
Seine Fragen machten sie rasend. Er hatte so Recht, das wusste sie. Er hatte so verdammt Recht damit, aber was sollte sie tun? Entschlossen sprang sie auf und lief zur Tür.
„Ich hole Julian heute um drei ab.“
„Damit bin ich nicht einverstanden.“ Vince erhob sich vom Boden und verschränkte die Arme. „Klären Sie erst die Differenzen zwischen sich und Ihrem Mann. Vorher werde ich Ihnen Julian nicht anvertrauen.“
„Sie haben mir nicht zu sagen, was ich tun und lassen soll!“
Kalt starrte er sie an, antwortete jedoch nicht auf ihre Feststellung. Catherine verließ den Kindergarten, ohne sich von Julian zu verabschieden. Noch im Auto kochte die Wut in ihr hoch und sie trommelte mit aller Kraft auf das Lenkrad.

Vince blickte durch die Glasfront in den Garten. Langsam aber sicher wurde der Schneemann immer größer und die Kinder spielten zufrieden miteinander. Aus dem Regal nahm er ein Telefon und wählte eine Nummer ein. Es dauerte ewig, bis zum ersten Hupen und schließlich nahm jemand ab.
„Hallo?“ gähnte ihm die Stimme am anderen Ende entgegen.
„Linda? Sind Sie es?“
„Vince?!“
Linda stand wie eine Eins im Bett und presste ihr Handy an das Ohr.
„Ist etwas mit Julian nicht in Ordnung?!“
„Keine Panik Linda. Julian geht es gut. Er ist munter und fröhlich wie immer.“
„Oh, Gott sei Dank.“ entfuhr es ihr erleichtert und sie sank in ihre Kissen zurück.
„Ich hoffe, ich habe sie nicht geweckt?“ fragte er plötzlich, als er ein leises Rauschen vernahm.
„Nun um ehrlich zu sein...“
„Oh, das tut mir Leid. Schlafen Sie ruhig weiter.“
„Warten Sie Vince. Warum haben Sie angerufen? Stimmt etwas nicht?“
„Nun ja.“ Er griff nach dem Apparat und trug ihn durch das Zimmer zu seinem Stuhl, um sich zu setzen.
„Nun sagen Sie schon. Jetzt bin ich eh wach. Also los.“
„Es geht um ihre Freundin. Miss Hoover.“
„Ja? Hat sie etwas gesagt oder was ist es?“
„Ich weiß, dass es mich nicht zu interessieren hat, aber ich wollte Sie fragen, ob Sie etwas zu den familiären Umständen sagen können.“
„Was genau meinen Sie?“
„Ich rede von ihrem Mann. Kennen Sie ihn?“
„Ja, flüchtig. Wir hatten nie so guten Kontakt. Er war meist sehr abweisend und deshalb bin ich mit ihm nie richtig warm geworden. Aber warum fragen Sie?“
„Nun, Julian hat mir erzählt, dass Miss Hoover von ihm, also ihren Mann, geschlagen wurde.“
„Was?! Oh lieber Gott nein, nicht schon wieder.“ seufzte Linda vor sich hin und hielt sich sogleich den Mund zu.
„Julian hat die letzte Nacht bei mir geschlafen, weil Miss Hoover es für besser befand, ihn nicht wieder mit nach Hause zu nehmen. Es hat wohl Streit gegeben und ich habe gesehen, wozu ihr Mann im Stande ist.“
„Ist sie verletzt?!“ kreischte sie verschreckt in ihr Handy und richtete sich wieder auf.
„Ihre Lippe, nun, ihre Lippe war aufgeplatzt.“
„Oh wie ich ihn hasse!“ Linda ballte ihre Hände und umklammerte die Bettdecke.
„Was ist mit Julian?“ unterbrach Vince sie plötzlich. „Sie will ihn heute Nachmittag wieder abholen. Eigentlich möchte ich ihn nur ungern in ihre Obhut geben.“
„Oh man, da ist man mal drei Wochen nicht da und schon geht die Welt unter.“ Linda überlegte angestrengt und schwieg. Vince hatte Recht. Würde Julian mit zu Catherine nach Hause gehen wäre er ständig ihrem cholerischen Mann ausgesetzt. Würde sie Catherine verbieten den Jungen mit zu nehmen, wäre sie ganz allein. Aber hier ging es schließlich um das Wohl von LindaŽs Kind!
„Ich werde mit Catherine, also... Mit Miss Hoover sprechen und rufe Sie gleich noch mal an.“
„Gut, in Ordnung. Ich warte so lange.“
Linda wählte CatherineŽs Handynummer direkt ein und wartete. Es dauerte nicht lange, bis sich ihre vollkommen in Tränen aufgelöste Freundin meldete.
„Linda!“ leierte sie in die Sprechmuschel und zog laut die Nase hoch.
„Catherine, Vince hat mich angerufen.“
„Dann weißt du es also schon. Es tut mir Leid, ich habe versagt. Vielleicht ist es besser, wenn er Julian nimmt. Bei mir ist er nicht sicher.“ weinte sie nun noch lauter ins Telefon.
„Was redest du da? Du hast ihm doch nichts getan.“

„Julian? Komm mal bitte!“
Vince hielt ihm die Tür auf und voller Schnee betrat er das Spielzimmer. Erzähl mir doch mal, wie das an dem Abend gestern war, als sich deine Tante so böse gestritten hat.
„Ja also. Wir haben Lasagne gemacht und dann ist sie verbrannt und dann hatten wir Hunger. Tante Cathy hat dann beim Pizzamann angerufen und mir meine Lieblingspizza bestellt. Und dann haben wir gegessen und ich durfte auch ein Eis. Und dann kam der blöde Onkel Larry nach Hause und hat geschimpft, weil er Hunger hatte. Mein Eis wollte er auch nicht haben und dann hat mich die Tante Cathy in mein Zimmer eingeschlossen.“
„Sie hat dich eingeschlossen? Allein?“
„Hmm...“ bestimmt nickte Julian ihm zu.
„Und was war dann?“
„Dann ging es BUMM und BANG und wieder BUMM und dann war Ruhe und dann kam Tante Cathy, weil ich geweint habe und hat mich in den Arm genommen, damit wir zu dir fahren konnten.“
Vince strich ihm über den Schopf und lächelte.
„Geh wieder spielen und vergiss den blöden Abend von gestern, ja?“
Julian nickte und lief wieder zu den anderen heraus.

Catherine schaltete die Freisprechanlage ein und startete den Motor. Jetzt war eh alles egal und sie konnte ebenso gut wieder nach Hause fahren. Linda und sie redeten die ganze Fahrt über und Catherine fiel von einem Heulkrampf in den nächsten. Sie schloss ihre Wohnung mit dem Telefon am Ohr auf und rannte fast mit Larry zusammen, der sich gerade fertig machte.
„Linda, ich muss Schluss machen.“ murmelte sie noch und beendete einfach das Gespräch. Ihr Blick fiel auf die gepackte Reisetasche, die am Boden stand.
„Wo willst du hin?“
„Was interessiert es dich?“
Catherine biss sich auf die Unterlippe und blickte ihren Mann weiter fragend an.
„Ich muss Abstand haben. Und ich werde versuchen mich neu zu bewerben. Vielleicht habe ich Glück und schon in ein zwei Wochen eine neue Arbeit.“
„Woher diese Motivation?“ Sie hängte ihren Mantel an die Garderobe und ging in die Küche.
„Nachdem dein Laden uns ja allmählich in den Ruin treibt...“
„Hüte dich! Dieser Laden hat dir über ein Jahr dein teures Fastfood bezahlt!“
„Tzz...“
Er verdrehte die Augen, zog seine Jacke an und verschwand durch die Tür.
„Wann kommst du wieder?“
„Eine Woche, vielleicht auch zwei.“ hörte sie ihn aus dem Hausflur rufen und blickte stumm zum Fenster heraus. Die Küche sah wieder einmal aus, als hätte ein Hurrikan gewütet und so putzte Catherine zum x-ten Male alles wieder sauber. Sie nahm auf dem Sofa Platz und starrte auf den Fernseher. Der Bildschirm war schwarz und staubig. Sie musste ihn bald wieder wischen. Die Zeit rann an ihr vorbei. Es wurde drei, dann vier und gegen fünf fielen ihr die Augen zu. Julian war nur kurz da gewesen und doch vermisste sie seine fröhliche und heitere Art. Sein Lachen und kichern fehlte ihr am meisten. Es war viel zu ruhig in der Wohnung. Kurz nach sieben schreckte sie hoch, als es an der Tür klingelte. Sie blickte auf die Uhr und zog ihre Augenbrauen zusammen. Sie nahm den Hörer der Sprechanlage und lauschte hinein.
„Tante?“ hörte sie Julian fragen und drückte hastig auf den Summer.
Wie war er hier her gekommen? Der Spiegel im Flur verriet ihr, dass sie aussah, als hätte sie in die Steckdose gefasst. Schnell striegelte sie ihre Haare ein wenig zurecht und blickte durch den Spion in den Hausflur. Ihr Herz begann zu rasen, als sie Vince mit Julian im Arm entdeckte und sie riss die Tür auf.
„Was machen Sie denn hier?“
„Tante!“ strahlte er sie an und eine überschwängliche Freude breitete sich in ihr aus. Sie nahm den Jungen auf den Arm und drückte ihn an ihre Brust. Sein weiches Haar, die glänzenden Augen, wie sehr hatte sie ihn bereits nach so kurzer Zeit vermisst.
„Dürfen wir rein kommen?“ fragte Vince und blickte sie freundlich an. Er war wie ausgewechselt und ganz perplex nickte Catherine ihm zu. Er stellte seine Umhängetasche an der Garderobe ab und zog sich und Julian schnell die Schuhe und die Jacken aus.
„Die Schuhe können Sie ruhig anlassen. Die Wohnung ist sehr fußkalt.“
„Ich habe dicke Socken an, das geht schon. Und Julian, du ziehst dir besser gleich Hausschuhe an.“
Freudig nickte er ihm zu und lief ins Schlafzimmer, wo seine kleinen Schlappen standen.
„Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Wasser? Saft?“
„Vielleicht einen Kaffee.“
„Gut, setzen Sie sich.“
„Soll ich Ihnen etwas helfen?“
„Nein, schon gut, das schaffe ich gerade noch allein.“ erwiderte sie ihm frech und zugleich erfreut, dass sie nicht mehr allein war. Wie beflügelt schwang sie sich durch die Küche und bereitete zwei Tassen Kaffee und ein Glas mit Saft vor. Säuberlich stellte sie alles auf einem Tablett ab und brachte es ins Wohnzimmer.
„Wie komme ich zu der Ehre? Milch?“
„Zucker und Milch. I like my sugar with coffee and cream.“ scherzte er und rührte eifrig mit dem Löffel in der Tasse herum. „Julian gab nicht eher Ruhe, bis ich mich dazu breit schlagen ließ, hier her zu kommen.“
„Ach so ist das.“ Sie strahlte Julian an und nippte an ihrer Tasse.
Vince überflog die Wohnungseinrichtung und blieb an ein paar Bildern hängen.
„Ist das Ihr Mann?“
„Wer?“ Sie drehte sich zu den Fotos und nickte schließlich.
„Ist er denn gar nicht zu Hause?“
„Nein. Er ist heute Nachmittag gegangen. Weiß der Teufel, wann er wiederkommt.“
Vince nippte an seinem Kaffee und ließ seine Blicke weiter durch ihre Wohnung schweifen.
„Hübsch haben Sie es hier. Wirklich.“
„Danke. Mir gefällt es zwar nicht mehr so gut, aber ich habe im Moment nicht die Mittel etwas daran zu ändern.“
„Tante? Darf ich fern sehen?“
„Sicher Julian.“ Sie schaltete den Fernseher ein und zappte durch das Programm. Auf einem Kindersender machte sie halt und der Junge setzte sich auf den Boden.
„Sagen Sie, wie kommt es, dass Sie in einem Kindergarten arbeiten? Ich meine, ich habe noch nie einen Mann in so einer Position arbeiten sehen.“
„Es bereitet mir Freude und ich wollte schon immer etwas mit Kindern machen.“
Süffisant grinste er über den Rand seiner Tasse hinweg. Catherine folgte seinem Blick und starrte Julian an, der sich ganz nebenbei die Socken von den Füßen gezogen hatte, um nun vor Spannung auf ihnen herum zu kauen.
„Na? SchmecktŽs?“ fragte Catherine belustigt und wartete vergebens auf eine Reaktion von dem Jungen. Für den zählte im Moment nur, ob die guten gewinnen konnten.
„Mit Julian kann ich mich gut identifizieren. Manchmal bin ich genau so, wie er.“
„Sie kauen auf ihren Socken herum?!“
In diesem Moment drehte der Junge sich um und ließ die bereits durchfeuchtete Socke aus seinem Mund gleiten.
„Nein, natürlich nicht.“
„Aber genau das sagten Sie doch eben?“
„Nein, ich sagte, dass ich manchmal, manchmal (!) auch so bin, wie er.“
Catherine schmunzelte ihn an und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee.
„Ich habe ihn viel zu stark gemacht.“ warf sie in den Raum und verzog das Gesicht.
„Mit Milch und ausreichend Zucker merkt man das gar nicht.“
Sie blies die Backen auf und lief zurück in die Küche. Ein Glas Wasser zum Kaffee war sicher besser. Das Getränk war eindeutig zu bitter.
„Sagen Sie, warum haben Sie heute bei Linda angerufen? Also ich meine, JulianŽs Mutter.“
„Ach ja, deshalb wollte ich ohnehin mit Ihnen reden. Aber ich denke, es ist besser, wenn wir den Jungen ins Bett bringen.“
„Was? Hier? Also, bei mir? Ich meine...“
„Ja hier. Ich denke, wenn Sie heute sowieso allein sind...“
Unendlich große Freude breitete sich in Catherine aus und sie sprang freudig vom Sofa auf. Sie musste das Bett noch aufschütteln und die Nachttischlampe einschalten. Sie wollte ihm doch eine Schlaflampe kaufen? Das hatte sie vollkommen vergessen. Streng tadelte sie sich indem sie wirres Zeug vor sich her brabbelte und hastig eilte sie in das Gästezimmer. Sie schloss das Fenster und drehte sofort die Heizung etwas auf, damit der Raum wieder warm wurde. Mit Julian hatte sie schließlich nicht mehr gerechnet.
„Julian! Schlafenszeit!“ rief sie, doch das stieß auf taube Ohren. Sie stellte sich in die Tür und verschränkte die Arme. „Julian!“ rief sie nochmals und endlich reagierte er. „Schlafenszeit!“ wiederholte sie und lächelte ihn an.
„Och nein! Bitte, nur noch ein bisschen. Ich möchte noch zu Ende sehen.“
„Wie lange geht das denn noch?“
Er zuckte mit den Schultern und Vince tätigte einen beherzten Griff zur Fernsehzeitung.
„Zehn Minuten.“ entgegnete er ihr und legte den Kopf auf die Seite. „Ich denke, es ist in Ordnung.“
Catherine nickte und Julian vertiefte sich sofort wieder in die Serie. Nachdem sie sich wieder gesetzt hatte, verfolgte sie zusammen mit Vince das Fernsehprogramm. Niemand sagte etwas, nur aus den Lautsprechern dröhnte ständiges Geschrei und Lachen.
Catherine überkam ein mulmiges Gefühl. Einerseits war sie so glücklich darüber, dass Julian bei ihr schlafen würde, aber andererseits wusste sie auch, dass Vince etwas mit ihr zu besprechen hatte und er sah nicht sehr erfreut aus, als er ihr das gesagt hatte. Seine freundliche Miene hatte sich blitzschnell zu einem Pokerface gewandelt, aus dem Catherine nicht lesen konnte, was er dachte. Unbemerkt schielte sie zu ihm herüber und rief sich innerlich zur Ordnung. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen, schließlich hat sie versucht Julian nach besten Wissen und Gewissen zu schützen. Sie hielt es eben für das Beste ihn im Gästezimmer einzuschließen. Larry war immerhin unberechenbar, wenn er getrunken hatte. Catherine krallte ihre Hand in ein Sofakissen und ließ den Abend mit ihrem Mann noch einmal Revue passieren. Hätte sie etwas besser machen können? Ihre Finger griffen noch fester zu. Sie hätte Larry nicht reizen dürfen. Sie hatte es regelrecht herausgefordert. Natürlich!
„Ist alles in Ordnung? Sie sitzen da so verkrampft?“ stellte Vince leicht besorgt fest.
Catherine blickte ertappt zu ihm herüber und starrte in seine Augen, die einem Aventurin Edelstein ähnelten. Sie wirkten jung, frisch und unverdorben. Die sich bewegenden Bilder des Fernsehers zauberten ihm kleine, tanzende Lichtpunkte hinein und sie spürte, wie besorgt er sie anblickte.
„Nein, alles in Ordnung.“ Schnell wandte sie den Kopf ab. „So Julian! Die Sendung ist vorbei. Ab ins Bad Zähne putzen und danach geht es ins Bett.
„Aber Tante...“
„Nein Julian.“ schaltete Vince sich ein. „So war es abgemacht. Du hast die Serie zu Ende geguckt und jetzt ist es Schlafenszeit, sonst bist du morgen müde. Willst du das?“
„Nein.“
„Na siehst du. Wir wollen morgen wieder richtig toll spielen und dafür brauchst du Schlaf.“
„Och, na gut.“ Er stand auf und verschwand im Badezimmer.
„Liefern Sie Kindern immer solch gute Argumente um schlafen zu gehen?“
„Wenn ich das nicht täte, würden die Kinder auch nicht ihren Mittagsschlaf machen.“ schmunzelte er ihr entgegen und leerte seine Tasse.
Nachdem sie ihn zu Bett gebracht hatte, schloss sie die Tür des Gästezimmers und atmete tief durch. Sie fühlte sich, als würde sie den Gang zum elektrischen Stuhl gehen und ihr Herz stolperte wild herum.
„Möchten Sie noch einen Kaffee, Mister Taylor?“
„Sehr gern. Aber zuerst würde es mich freuen, wenn Sie mich beim Vornamen nennen würden. Das machen alle so.“
„Äh, ja gut. Dann nennen Sie mich bitte auch Catherine.“
„Gut. Kann ich Ihnen etwas helfen?“
„Nein, nein.“
Sie ging in die Küche und holte zwei neue Tassen aus dem Schrank. Nichts hasste sie mehr, als Kaffee aus einem Becher zu trinken, in dem noch etwas von dem alten Getränk war. Noch immer wollte sich ihre Aufregung nicht legen und ihr glitt eine Tasse aus der Hand. Laut krachte sie zu Boden und zersprang in viele Splitter.
„Scheiße!“ entfuhr es ihr und sie strich sich die Haare aus dem Gesicht.
„Warten Sie, ich helfe Ihnen.“
„Nein, es geht...“
Doch er kniete schon am Boden und sammelte die Scherben auf. Schnell sank sie zu ihm herunter und half ihm dabei.
„Geben Sie Acht, dass Sie sich nicht schneiden. Gerade Porzellan hat besonders scharfe Kanten.“
Kurz blickte sie auf und wieder sah er sie mit seinen unglaublich schönen Augen an. Um die Pupille blau und nach außen grün werdend. Das hatte sie so noch nie gesehen und sie musste sich beherrschen, ihn nicht regelrecht anzustarren.
„Sie sehen mich an, als würde ich Ihnen gleich den Kopf abreißen.“
„Was?! Nein! Also, ich meine, nun ja...“
„Sie müssen sich keine Gedanken machen. Eigentlich wollte ich mich bei Ihnen entschuldigen, weil ich heute Vormittag so unmöglich zu Ihnen war. Ich hatte kein Recht, so mit Ihnen zu sprechen.“
„Sie hatten doch Recht?“
„Darum geht es nicht. Die Angelegenheiten anderer Leute haben mich nicht zu interessieren. Außerdem konnten Sie für den Umstand, soweit ich weiß, nichts.“
„Hat Julian Ihnen etwas erzählt?“
Vince nickte ihr zu und warf die Scherben in den Mülleimer.
„Es ist mir unangenehm. Normalerweise ist mein Mann nicht gewalttätig. Ich denke, es hängt mit seiner Arbeitslosigkeit zusammen. Er ist frustriert.“
„Aber das gibt ihm doch nicht das Recht... Naja, egal.“
Vince senkte den Kopf und hielt kurz inne. Er begann ja schon wieder so zu reden, wie heute Vormittag!
„Sie haben Recht, er hat nicht das Recht dazu. Wissen Sie, ich dachte, es wäre das Beste für Julian, wenn er so wenig wie möglich von dem Streit mitbekommt. Nur deshalb habe ich ihn ins Gästezimmer eingesperrt. Ich wollte ihm nichts böses.“
„Das weiß ich doch. Nachdem ich Julian noch mal verhört habe, leuchtete mir ein, warum Sie ihn eingesperrt haben.“
„Sie haben ihn verhört?!“
Vince lachte leise und zwinkerte sie an.
„Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen.“
Catherine erwiderte sein Lachen und kehrte die letzten Splitter der Tasse mit dem Besen weg.
„Beantworten Sie mir jetzt, warum Sie bei Linda angerufen haben?“ stichelte Catherine wieder und legte ein Kaffeepad in die Maschine.
„Nun.“ Er stellte sich direkt neben sie und starrte auf ihre Hände. „Ich wollte eigentlich, dass sie mir für die Zeit ihres Japanaufenthaltes Julian anvertraut. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich ja noch nicht genau, was eigentlich passiert war.“
Catherine nickte ihm verständnisvoll zu und reichte ihm seine Tasse.
„Zucker und Milch nehmen Sie sich doch selbst?“
„Jap.“ Er schlenderte zurück in das Wohnzimmer und holte das Tablett, um es auf den besser beleuchteten Esstisch zu stellen. „Es tut mir Leid, Catherine.“ hörte sie ihn plötzlich sagen und sie warf einen kurzen Blick in die Essecke, wo er sich gerade nieder ließ.
„Ich hätte Sie vielleicht erstmal aussprechen lassen sollen, bevor ich voreilige Schlüsse zog.“
„Ist nicht schlimm. Linda und ich haben über eine halbe Stunde telefoniert. Zwar habe ich sie ziemlich abgewürgt, aber...“
„Es war trotzdem nicht richtig.“
Sie nahm ihm gegenüber Platz und fuhr mit der Fingerspitze am Tassenrand entlang.
„Darf ich fragen, wie alt Sie sind, Vince?“
„Fünfundzwanzig.“ gab er etwas verlegen zurück und sein Blick huschte kurz durch ihr Gesicht.
„So jung möchte ich auch noch mal sein.“
Ein fast gehauchtes Lachen entfuhr ihm und auch er begann mit seiner Tasse zu spielen, indem er sie immer hin und her schwenkte.
„Nach der Tasse werde ich gehen, es ist schon spät.“
„Also wegen mir müssen Sie nicht...“ Ihre Blicke trafen sich. „Aber Sie müssen morgen ja auch wieder früh raus.“
Sachte nickte er und leerte seine Tasse in einem Zug. Viel zu schnell für CatherineŽs Geschmack und auch Vince schüttelte innerlich den Kopf. Er hatte sich schließlich die Zunge verbrannt.
„Haben die Törtchen geschmeckt?“
„Oh ja! Ich hoffe, es war in Ordnung, dass ich den Kindern auch etwas abgegeben habe. Sie sind auf die süßen Dinger geflogen, wie verrückt.“
„Das freut mich. Ich dachte schon, ich hätte sie genau so verdorben, wie meine letzte Torte. Es war schrecklich, eine Katastrophe sage ich Ihnen!“
„Zumindest mischen Sie keinen Gips in den Teig.“
Catherine legte den Kopf schief und blickte ihn irritiert an.
„Ich habe als Kind meiner Mutter eine Überraschung machen wollen und habe zwei Eier, Milch und Gips verrührt. Da ich den Backofen nicht benutzen durfte, stellte ich alles in den Kühlschrank. Es wurde hart. Sehr hart.“
Beide lachten belustigt auf.
„Ich habe das beste Hemd meines Vaters ruiniert, als ich testen wollte, ob rote Kleidung tatsächlich auf weiße abfärbt.“
„Ach herje.“
Wieder mussten beide lachen.
„Möchten Sie vielleicht noch ein Glas Wasser?“
„Nein, ich denke ich gehe jetzt besser. Sie sind doch sicher auch müde.“
„Also eigentlich...“ Catherine rief sich wieder zur Ordnung und nickte leicht. „Ich bringe Sie zur Tür. Irgendetwas in ihr drang sie dazu, ihn zu bitten, dass er blieb, doch ihr Mund blieb still und sie geleitete ihn in den Flur.
„Ich habe JulianŽs Sachen wieder mitgebracht. Wie wir es in den nächsten Tagen machen, entscheiden wir am besten spontan. Je nachdem, ob Ihr Mann wieder daheim ist oder nicht.“
„Ja, so sollten wir es machen.“
Er packte die Kindersachen auf die Garderobe und hängte sich seine Tasche um, nachdem er seine Jacke angezogen hatte.
„Schlafen Sie gut. Bis morgen.“
„Ja.“ erwiderte Catherine trocken. „Sie auch. Bis morgen.“
Die Haustür war schon ein paar Minuten lang wieder geschlossen, doch Catherine bewegte sich nicht von ihrer Tür weg. Wie sehr hoffte sie, dass Vince noch etwas vergessen hatte und gleich wieder da wäre. Doch auch, als das Flurlicht bereits aus war, er kam nicht wieder.
Sich mit ihm zu unterhalten konnte so unglaublich schön sein. Am Vormittag noch hatte sie über ihn geflucht und andererseits hatte sie sich wegen ihm schlecht gefühlt, weil sie nachvollziehen konnte, was er ihr gesagt hatte, doch jetzt war sie traurig. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte er ruhig noch etwas bleiben können.

„Julian! Steh auf! Wir sind viel zu spät dran!“
Catherine sprang aufgewühlt durch die Wohnung. Sie hatte in ihrer Trübseligkeit vergessen den Wecker zu stellen und nun war es schon kurz nach neun. Sicher würde Vince gleich wieder mit ihr schimpfen, wenn sie kam. Dass aber auch nichts so klappte, wie sie es geplant hatte. Nicht einen Tag hatte er bisher erleben dürfen, an dem alles so gelaufen war, wie sie sich das vorgestellt hatte. Julian war rasch aufgestanden und kämpfte mit seinem Pullover, den Catherine ihm an das Fußende des Bettes gelegt hatte. Sie hingegen leerte in einem Zug ihre Kaffeetasse und sprintete ins Bad, um sich zu schminken.
„Brauchst du Hilfe?“ rief sie dem Jungen schließlich zu und kritzelte wild mit dem Eyeliner an ihrem Auge herum.
„Nein!“ kam es angestrengt zurück und Catherine legte flux den Stift aus der Hand.
„Du ziehst ihn verkehrt herum an. Komm her.“ Sie drehte den Pullover richtig herum und tätschelte seine blonden Haare. „Zähne putzen und dann los. Frühstück hole ich dir unterwegs.“
Nachdem sie ihm beim Bäcker ein Hörnchen gekauft hatte, betraten sie den Kindergarten. Auf dem Flur war einiges los. Die Kinder standen an den Garderoben und zogen gerade ihre Jacken an, als Vince aus dem Spielzimmer gerannt kam. Im Arm hielt er Maria, die laut kreischend hin und her strampelte. Aus ihrer Nase tropfte Blut und die anderen Kinder wurden unruhig.
„Catherine!“ rief er total überfordert. „Passen Sie bitte kurz auf, dass die Kinder keinen Unfug machen? Ich bin gleich wieder da.“
„Sicher, was ist denn passiert?“
„Ach Maria ist gegen eine Tür gerannt.“
„Oh je.“
Julian löste seine Hand aus ihrer und gesellte sich zu den anderen Kindern. Ein anderer Junge bohrte in der Nase und zwei Mädchen stritten sich um eine Puppe. Plötzlich zog die eine der anderen an den Haaren und das Chaos war perfekt. Laut kreischte sie los und dicke Tränen quollen aus ihren Augen.
„Hey!“ rief Catherine, doch ihr Rufen verpuffte in dem Aufruhr.
„Ruhe jetzt oder ich rufe mein Pikachu!“
Sofort wurde es ruhig und alles starrte sie an.
„Du hast ja gar keines!“ rief ihr ein Junge zu.
„Natürlich habe ich eins.“
Ein erstauntes Raunen ging durch die Runde und alles blickte sie an.
„Dürfen wir es mal sehen?“
„Ich möchte es streicheln!“
Catherine geriet in Bedrängnis. Was konnte sie den Kindern sagen? Natürlich hatte sie kein Pikachu, woher auch? Plötzlich kam ihr ein Geistesblitz.
„Mein Pikachu ist noch klein und muss viel schlafen, weil es krank ist. Aber wenn ihr nicht ruhig seid, muss ich es rufen und dann wird es noch kränker. Wollt ihr das?“
Die Kinder blickten sich untereinander an und schüttelten den Kopf.
„Woher hast du es Tante?“
„Ich erzähle es euch, aber setzt euch erstmal.“

„So, siehst du? Alles halb so schlimm und die Nase tut auch nicht mehr weh stimmtŽs?“
Maria nickte ihm zu und zog laut die Nase hoch. Ein wenig schmerzte sie doch und eine letzte Träne rollte über ihre Wange.
„Wollen wir wieder zu den anderen gehen?“
„Hmm...“
Er nahm sie an die Hand und führte sie aus seinem Büro. Die absolute Stille machte ihn stutzig. Seine Schritte wurden größer und Maria hatte Mühe ihm zu folgen. Als sie die Garderoben erreichten, stockte ihm der Atem. Catherine saß auf einer der Bänke und alle Kinder um sie herum.
„Und dann kam dieses Pikachu zu mir und ich habe es mit nach Hause genommen.“
Wieder ging ein Raunen durch die Gruppe und alles starrte sie mit großen, leuchtenden Augen an. Vince musste schmunzeln. Ihm war nicht bewusst, dass Catherine PokémonŽs besaß, doch sie hatte es zumindest geschafft die Gruppe zu beruhigen.
„Danke.“ entgegnete er ihr und lächelte sie an. „Ohne Sie wäre ich verloren gewesen. Eine Erzieherin, aus der anderen Gruppe ist nämlich krank und so habe ich ihre Kinder auch noch. Eigentlich wollten wir heute wieder auf den Spielplatz gehen, aber bei so vielen Kindern...“
„Ich kann doch mitkommen?“
„Nein, schon gut. Sie haben sicherlich noch andere Dinge zu tun.“
„Nein, eigentlich nicht. Ich habe ja Urlaub wegen Julian. Die Wohnung ist sauber und aufgeräumt, davon konnten Sie sich ja gestern selbst überzeugen. Also ich komme gerne mit.“
„Wirklich?“ seine Augen strahlten und er blickte zu den Kindern. „Habt ihr gehört? Wir gehen auf den Spielplatz und Miss Hoover wird uns begleiten. Also seid nett zu ihr!“
Die ganze Meute sprang laut tobend auf und zog sich nun endlich an. Vor dem Kindergarten zählte Vince alle durch.
„So, hat jeder einen Partner?“ Er überblickte alles und kontrollierte, dass jeder seinen Partner an der Hand hielt. „Gut, dann los. Und aufpassen. Bei der nächsten Straße machen wir Halt.“
Verzückt beobachtete Catherine alles und schmunzelte in sich hinein. Fast väterlich führte er sich auf, wenn es um das Wohl „seiner“ Kinder ging. Im Entenmarsch liefen sie Richtung Spielplatz; Vince ganz vorn, Catherine ganz hinten, um Nachzügler bei der Gruppe zu behalten. Nach knappen zehn Minuten erreichten sie den großen Park und auch den Spielplatz. Sofort war alle Disziplin dahin und die Kinder stürmten auf Sandkasten, Schaukel und Klettergerüst zu. Julian schnappte sich seinen Freund und beide begannen zu wippen.
Catherine und Vince hingegen suchten sich eine Bank, von der aus sie alles gut überblicken konnten.
„Hatten Sie eine angenehme Nacht?“ eröffnete Vince das Gespräch und rieb seine Hände aneinander.
„Ja. Sie war immerhin erst um kurz nach neun beendet.“
Er schmunzelte und blickte zu den Kindern.
„Ich bin wirklich schrecklich. Normalerweise bin ich nicht so unzuverlässig. Wirklich! Eigentlich bin ich immer sehr pünktlich und ich vergesse nicht so viel, aber seit Julian bei mir ist, ist alles wie verhext. Mir brennt das Essen an, ich vergesse wichtige Anrufe und komme ständig zu spät.“
„Das ist normal. Kinder können das Leben ganz schön verändern.“
„Haben Sie Kinder, Vince?“
„Ihnen ist sicher aufgefallen, dass ich einen Singlehaushalt führe. Ich glaube, für Kinder bin ich noch zu jung.“
Catherine musste lachen. Er und zu jung? Er hatte wohl vergessen, als was er arbeitete.
Langsam bahnte sich die Sonne einen Weg durch die Wolken und strahlte ihnen ins Gesicht. Ein kühler Wind kam auf der erste Streit ließ nicht lange auf sich warten.
„Leon hat aber gesagt, dass ich mit Sarah schaukeln darf! Und jetzt lässt er mich nicht auf die Schaukel!“
„Aber Maik.“ Vince tätschelte dem Jungen, der kurz vor einem Heulkrampf stand über die Mütze. „Spiel doch so lang mit Kevin? Sieh mal, der sitzt ganz allein im Sandkasten.“
„Aber ich wollte schaukeln!“
„Dann warte, bis Leon von der Schaukel geht.“
„Aber...“
„Soll ich Leon jetzt von der Schaukel holen? Dann ist er traurig und verlangt von mir, dass ich das gleiche mit dir mache. Spiel erstmal woanders und dann schaukelst du. Wir sind doch noch bis Mittag hier.“
Nur sehr zäh nickte Maik ihm zu und machte Kehrt.
„Solche Probleme möchte ich auch nochmal haben.“
Süffisant grinste er sie an.
„Vielleicht ist nachher die Schaukel frei, dann können Sie auch ein wenig schaukeln.“
„So war das jetzt aber nicht gemeint.“ Catherine erblickte sein freches Grinsen und musste lachen. Vince schaffte es, sie mit solch banalen Dingen zum Lachen zu bringen. Wann hatte sie sich eigentlich mal wieder so richtig wohl gefühlt? So wohl, wie in diesem Moment? Es kam ihr vor, wie eine Ewigkeit.
„Rauchen Sie eigentlich?“ fragte sie ihn neugierig.
„Dafür habe ich keine Zeit und kein Geld.“
Zufrieden nickte sie ihm zu. Das war gut. Endlich jemand, der nicht nach kaltem Rauch stank oder nach einem Aschenbecher schmeckte. CatherineŽs Wangen röteten sich. Woran dachte sie nur?
„Ist Ihnen kalt?“
„Nein, es geht. Julian!“ Sie sprang von der Bank auf und stützte ihre Arme in die Taille. „Wehe, wenn du noch einmal mit Sand wirfst! Das gehört sich nicht!“
Sofort ließ der Junge den Sand fallen und putzte sich die Hände ab. Zufrieden nickte Catherine und nahm wieder Platz.
„Schön, dass Sie uns heute begleiten. Wenn Sie nicht gewesen wären, hätten wir nicht auf den Spielplatz gehen können.“
„Dass diese andere Erzieherin fehlt trifft Sie richtig hart was? Wie läuft das denn, wenn jemand Urlaub hat?“
„Während der Sommerferien haben wir geschlossen und meist ist es so, dass viele Kinder in den anderen Ferien gar nicht da sind, weil die Eltern auch Urlaub haben. Das geht schon. Aber jetzt, wo alle arbeiten müssen, ist das natürlich eine Katastrophe. Außerdem ist vor einem Monat erst eine Erzieherin in Rente gegangen und wir haben noch keinen Ersatz.“
„Will denn kein junges Mädchen mehr im Kindergarten arbeiten?“ Catherine verschränkte die Beine und legte ihren Ellenbogen auf die Lehne der Bank.
„Doch natürlich, aber Sie ahnen ja nicht, mit was für Vorstellungen die teilweise bei uns ankommen. Sie meinen alle, dass das nur ein bisschen singen und klatschen ist. Aber da gehört mehr dazu. Wir kochen das Essen, die Kinder verletzen sich auch mal oder sind kränklich. Jeden Tag muss etwas anderes gemacht werden, sonst wird es langweilig. Nichts ist schlimmer, als gelangweilte Kinder. Die machen dann nur Unfug und streiten.“
„Allerdings, aber klingt es immer noch recht simpel und nicht gerade nach einem Knochenjob. Ohne Ihnen damit zu nahe treten zu wollen.“
Er nickte kurz und lächelte.
„Sie sind herzlich eingeladen einen Tag im Kindergarten zu verbringen. Vielleicht ändern sie dann Ihre Meinung.“
„Wie? Einfach so?“
Ihre Blicke trafen sich. Eigentlich hatte er das nur salopp daher gesagt und meinte es nicht Ernst, aber ihrer Frage entnahm er, dass sie Interesse hatte. Seine Kollegin war für die ganze Woche krank geschrieben, mit ihr war also nicht zu rechnen und mit über zwanzig Kindern war er schon etwas überfordert.
„Nun ja...“
„Nein schon gut. War nur ein Scherz.“ Sie spürte, dass sie ihn in Verlegenheit gebracht hatte und schämte sich nun selbst. Was hatte sie gedacht, was er ihr antworten würde? Dass sie gleich morgen anfangen kann? Außerdem hatte sie doch Urlaub. Den sollte sie genießen und ihn nicht mit der Arbeit in einem Kindergarten verschwenden. Obwohl es ihr gesamter Jahresurlaub war, irgendwie störte sie die Idee bei Vince zu arbeiten kein bisschen.
„Also, als Praktikantin kann ich Sie sicher einschleusen.“ murmelte er ihr entgegen und überblickte den Spielplatz.
„Als Praktikantin? Geht das denn einfach so? Nicht, dass Ihr Chef da Ärger macht?“
„Nun, ich bin mein eigener Chef und Leiter des Kindergartens. Ist sozusagen ein Erbstück meiner Mutter.“
„Ihrer Mutter? Dann hat die also auch dort gearbeitet?“
„Bis zum letzten Tag.“
„Das tut mir Leid.“
Er nickte und überblickte wieder rasch den Spielplatz. Still zählte er die Kinder. Sechsundzwanzig. Niemand fehlte. Gott sei Dank. Diese Frau lenkte ihn aber auch wirklich ab. So nachlässig ging er doch sonst nicht seiner Arbeit nach?
„Haben Sie ihre Ausbildung bei Ihrer Mutter gemacht?“
„Ja.“ entfuhr es ihm knapp und Catherine beschloss, dass es besser war, nicht weiter auf dieses Thema einzugehen.
„Haben Sie denn Interesse mal einen Tag bei uns rein zu schnuppern?“
„Ähm, ja. Wieso nicht? Ich meine, wie gesagt. Ich habe Urlaub und nichts weiter zu tun und vielleicht bin ich dann endlich mal pünktlich.“
Beide begannen zu lachen, doch plötzlich sprang Vince auf und hechtete los. Eines der Kinder folgte einer Frau mit einem kleinen Hund und hatte sich schon viel zu weit von der Gruppe entfernt. Catherine schaltete ihre Adleraugen ein und überwachte permanent den Spielplatz. Sie zählte durch, verhaspelte sich aber ständig, da die Kinder einfach ständig durcheinander liefen. Während sie noch mit zählen beschäftigt war, kehrte Vince außer Atem, angesäuert und mit dem Flüchtling unter dem Arm zur Bank zurück.
„Du setzt dich jetzt mit zu uns auf die Bank. Ich möchte, dass du fünf Minuten darüber nachdenkst, was du da gerade gemacht hast.“
Der Junge verschränkte die Arme und schmollte. Seine Augen folgten den anderen Kindern, die auf dem Spielplatz herum tobten und laut lachten. Erste Tränen rollten an seinen Wangen herunter und Catherine starrte ihn mitleidig an. Vince hingegen zeigte kein Erbarmen. Vollkommen unbeeindruckt überschlug er seine Beine und legte seinen Kopf in den Nacken.
Nach fünf Minuten, die dem Jungen wie eine Ewigkeit erschienen, kniete Vince sich vor ihn und blickte ihn fragend an.
„Hast du nachgedacht?“
Der Junge nickte.
„Und über was hast du nachgedacht?“
„Ich darf nicht vom Spielplatz weg.“
„Du darfst nicht allein von der Gruppe weg und vor allem darfst du nicht einfach mit jemandem mitgehen, den du nicht kennst! Das ist ganz wichtig, Chris! Es ist gefährlich, wenn man einfach so mit jemandem mitgeht, verstehst du das?“
Wieder ein Nicken.
„Wenn du mir versprichst, immer schön bei den anderen zu bleiben, darfst du wieder spielen gehen.“
„Versprochen.“
Vince reichte seinen kleinen Finger. Chris hakte sich mit seinem kleinen Finger bei ihm ein und beide sprachen wie im Chor: „Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen.“
Vince nickte, tätschelte ihm über den Kopf und schickte ihn zurück zu den anderen.
„Machen Sie das immer so?“
„Wie meinen Sie das?“
„Naja, mit dem Finger einhaken und so?“
Leise lachte Vince auf und ließ sich neben ihr auf die Bank nieder.
„Kinder brauchen Rituale, Sachen, die immer wiederkehren, Dinge, an die sie sich erinnern. In anderen Gruppen sind es die Pfadfinderehrenwörter, bei mir ist es eben dieser Spruch.“
„Ich finde ihn gut.“
„Wann haben Sie eigentlich Mittagspause?“
„Naja Pause?“ er legte seinen Kopf etwas schräg und die Sonne strahlte seine Augen von der Seite an. Seine Iris flammte regelrecht auf und das grün in ihr leuchtete so kräftig, dass Catherine kurz inne hielt, um diesen Moment zu genießen.
„Ich esse mit den Kindern zusammen. Von Pause kann man da nicht reden.“
CatherineŽs Gesicht verzog sich kaum merkbar.
„Schade.“ entwich es ihr und sie hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt.
„Wieso?“
Wieder trafen sich ihre Blicke. Sie rang sich ein Lächeln ab und suchte krampfhaft nach einem Grund dieser Situation zu entfliehen und fand ihn im wieder mal mit Sand werfenden Julian.
„Sag mal!“ rief sie und stand auf. „Nicht mit Sand werfen habe ich gesagt! Julian!“
War er so naiv, dass er sich nicht denken konnte, warum sie nach seiner Pause gefragt hatte? Sie wäre gern mit ihm etwas essen gegangen. Das lag doch auf der Hand.
„Wollen wir langsam wieder zurück?“ hörte sie ihn hinter sich sagen und drehte sich zu ihm um. „Es ziehen Schlechtwetterwolken auf. Wir sollten gehen, bevor wir eingeschneit werden.“
Sie nickte nur und beide trommelten die Kinder zusammen. Kurz blickte Catherine auf die Uhr. Es war kurz vor elf. Lange waren sie nicht da gewesen, aber die Kinder strahlten, auch wenn ein wenig Trübsal über den Verlass des Spielplatzes geblasen wurde. Alle hatten rote Nasen und Wangen und einige Hosen waren ziemlich schmutzig geworden.
In Zweierreihen und natürlich Hand in Hand ging es zurück zum Kindergarten. Nachdem sich alle ihre Jacken und Schuhe wieder ausgezogen hatten, stand Catherine etwas abseits in der Ecke des Raumes. Vince deckte den Tisch brachte das Essen. Schon bald kehrte Ruhe ein.
„Ich denke, es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“
„In Ordnung. Danke nochmals, dass Sie sich die Zeit genommen haben.“
„Gern. Heute werde ich Julian aber pünktlich abholen. Versprochen.“
„Wie Sie es einrichten können.“ schmunzelte er ihr entgegen.
„Gut, fünfzehn Uhr also.“
Er nickte und lächelte wieder.
„Also dann. Bis heute Nachmittag.“
„Ach äh, Catherine? Wegen vorhin... Ich äh...“ seine Wangen liefen an und kleine rote Flecken bildeten sich in seinem Gesicht. „Also am Freitag, sprich morgen, da hat der Kindergarten nur bis zwei auf. Wenn Ihre Frage vorhin darauf abzielte, mit mir zusammen zu Mittag zu essen... Also morgen könnte ich.“
Catherine stand da, wie versteinert. Ihr Herz raste und in ihrem Bauch fuhren die Gefühle Achterbahn.
„Gut. Dann bin ich Morgen um zwei hier.“
„Gut.“ Ein lautes Krachen störte die kurze Ruhe und Vince wandte sich ab. „Nicht mit den Nudeln werfen!“
„Bis dann...“ flüsterte Catherine vor sich hin und verließ den Kindergarten. Eine unglaubliche Glückseligkeit durchströmte ihren Körper. Abwechselnd wurde ihr heiß und kalt und ihre Hände waren nass. So nass, dass sie sie schnell an ihrem Mantel trocknete. Wie betäubt setzte sie sich ins Auto und fuhr nach Hause. Ihr Blick raste auf den Kalender.
„Morgen.“ murmelte sie und sie hätte vor Freude in die Luft springen können. Wieder wurden ihre Hände nass, bei dem Gedanken, dass sie morgen mit ihm etwas unternehmen würde und nicht zig Kinder um sie herum tobten.
Catherine stockte der Atem. Was sollte sie mit Julian machen? Jetzt war guter Rat teuer und sie überlegte angestrengt. Plötzlich kam ihr ein Geistesblitz und sie rannte zum Telefon. Sie wollte morgen nur ein Mal mit Vince allein sein. Nur einmal. Sie wählte hastig eine Nummer.
„Joyce?“ flötete eine Frau in den Hörer und Catherine atmete erleichtert auf.
„Miriam ich habe eine große Bitte an dich.“

Vince blickte zum Fenster raus und schmunzelte, als er CatherineŽs Wagen vorfahren sah. Sein Blick schwang sich auf die Uhr. Kurz vor drei. Sie war pünktlich. Auf ihren hohen Stiefeln stolzierte sie über die Straße. Den Mantel hatte sie lässig offen gelassen und raffte ihn am Kragen etwas zusammen, damit der Wind nicht so um ihren Hals wehte. Julian war schon fertig angezogen und stand neben ihm am Fenster.
„Tante!“ rief er, noch bevor sie überhaupt den Kindergarten betreten hatte.
„Ja genau. Und heute ist sie sogar pünktlich.“
Die Augen des Jungen strahlten und er lief zur Tür des Spielzimmers, die sich im nächsten Moment öffnete. Catherine trat ein und strahlte Vince zufrieden über ihre Pünktlichkeit an.
„Ich habe es geschafft!“
„Was denn?“
„Ich bin pünktlich.“
„Das sehe ich.“
Vince erhob sich von seinem Stuhl und begann aufzuräumen.
„War anstrengend heute, was?“
„Naja, sechsundzwanzig Kinder händelt man nicht so leicht. Aber ich lebe ja noch und da wir auf dem Spielplatz waren, war nach dem Mittagessen auch schnell Schicht im Schacht. Die Kinder sind so schnell eingeschlafen, dass ich teilweise rennen musste, um alle noch rechtzeitig zu zudecken.“
„Und jetzt Feierabend?“
„Tante, gehen wir?“
„Gleich.“
Vince nickte ihr zu, um das Gespräch zwischen ihr und Julian nicht zu stören, ihr aber auch keiner Antwort schuldig zu bleiben. Schmollend setzte Julian sich auf den Boden.
„Ich räume noch etwas auf, dann ist Schluss.“
„Soll ich Ihnen noch etwas helfen?“
„Nein, schon gut. Ich muss außerdem noch ein bisschen was im Büro erledigen. Das geht schon.“
„Na gut. Also dann, bis morgen.“
„Bis morgen.“
Er begann die herumliegenden Plüschtiere einzusammeln und Catherine nahm Julian an die Hand. Kaum hatten sie das Auto erreicht, durchlöcherte er sie auch schon mit Fragen.
„Magst du Vince?“
„Er ist nett. Warum fragst du?“
„Du lachst immer so komisch, wenn er da ist.“
„Was? Wirklich?“
CatherineŽs Blicke rasten durch das Gesicht des Jungen. Bestimmt nickte er ihr zu. Das musste aufhören. Wenn selbst er es schon sah, was musste Vince dann erst denken? Gemütlich fuhren sie nach Hause und Catherine startete den zweiten Anlauf. Wieder hatte sie Lasagne gemacht und diesmal sollte sie nicht qualvoll dem Ofen geopfert werden. Sie stellte einen Wecker und nahm neben Julian Platz. Der verfolgte gespannt seine Lieblingsserie im Fernsehen und war nicht ansprechbar. Nach dem Abendessen brachte sie den Jungen ins Bett und betrachtete sich minutenlang im großen Schlafzimmerspiegel. Ihre Kleidung hatte sie ordentlich sortiert in den Wäschekorb gepackt und nun drehte sie sich nackt vor dem Spiegel. Hier war etwas und da. Und das dort unten war auch nicht schön. Überall Mängel, die sie als junge Frau noch nicht hatte. Das wurmte sie. Sie hatte nicht zugenommen, nein. Eher im Gegenteil, sie war schlanker geworden. Ihre langen schwarzen Haare reichten bis zum Po, doch meist h
atte sie sie zu einem straffen Knoten gebunden, weil sie ja doch nur störten. Und dann diese langweiligen blauen Augen. Das hatte heutzutage doch eh jeder. Warum musste sie sie auch haben? Und Falten hatte sie. Vom Lachen, ganz klar. Anders waren die Krähenfüße an ihren Augen nicht zu erklären. Mit jeder Minute, die sie länger in den Spiegel sah, wurde sie unglücklicher. Welcher Mann wollte schon so ein altes Wrack haben? Was, wenn Larry sie verlassen würde? Wer wollte sie dann noch haben?
Entsetzt schüttelte sie den Kopf und drehte sich um. Sie blickte auf das Bett, indem sie mit ihrem Mann bis vor einem Jahr noch gemeinsam geschlafen hatte. Ekel überkam sie. Was hatte sie so an ihm geliebt, dass sie ihren Körper so hergegeben hatte? Diesem Alkoholiker! Choleriker! Diesem blöden Arsch!
Wieder schüttelte sie den Kopf und schlich schnell ins Bad. Sie ließ sich ein Bad ein und stieg in die Wanne mit dem warmen Wasser. Heute war ausspannen angesagt, damit sie für den nächsten Tag gerüstet war.
Am nächsten Morgen, sie hatte Julian bereits in den Kindergarten gebracht, fuhr sie in die nahe gelegene Stadt. Vor einem Café parkte sie ein und blickte sich suchend um, als plötzlich jemand gegen ihre Scheibe hämmerte.
„Miriam!“
Sie riss die Tür auf und die beiden fielen sich um den Hals.
„Wie geht es dir? Schlank bist du geworden. Nicht dass du das nicht schon immer warst.“
„Schleimerin!“ entgegnete Catherine ihr und sie traten in das Café, um sich einen schönen Platz zu suchen. Nachdem sie ihre Bestellungen aufgegeben hatten, vertieften sie sich in ein Gespräch.
„Also hat er sich wieder ins negative geändert?“
„Ja leider.“
„Catherine, zieh einen Schlussstrich. So kann es unmöglich weiter gehen.“
„Wie stellst du dir das vor? Ich kann mich nicht von heute auf morgen einfach trennen. Das dauert. Schon allein das Scheidungsjahr macht mir Angst.“
„Setz ihn vor die Tür?“
„Miriam. Er hat meinen Laden mit finanziert. Wenn ich ihn jetzt vor die Tür setze, will er Geld sehen und das war nicht wenig.“
„Du sagtest, du fütterst ihn schon seit über einem Jahr mit durch. Wie lange willst du das noch machen? Irgendwann muss deine Schuld bei ihm doch abgegolten sein?“
„Um genau zu sein belaufen sich meine Schulden bei ihm auf knapp dreißigtausend Dollar. Woher soll ich so viel Geld nehmen?“
„Ich leihe es dir!“
„Ach komm hör auf. Woher hast du denn so viel Geld?“
„Sieh mal.“
Miriam reichte ihre Hand zu Catherine herüber. Am Ringfinger glitzerte ein Ring, mit einem riesigen Stein in der Mitte.
„Ist das ein Verlobungsring?“
„Jap.“
„Mensch! Glückwunsch! Davon wusste ich ja gar nichts.“
„Tja, seitdem du geheiratet hast, hast du ja allen Kontakt zur Außenwelt abgebrochen.“
Schuldbewusst nickte Catherine ihrer Freundin zu und nippte an ihrem Kaffee.
„Ich hoffe, dass es sich mittlerweile wieder gebessert hat?“ hängte Miriam ihrem Satz noch an.
„Nein, nicht wirklich. Ich habe mit Linda gesprochen, allerdings hatte sie mich angerufen, so wie sie es immer getan hat. Sie ist ja in Japan.“
„Ich weiß, sie hatte ja erst versucht, Julian bei mir unterzubringen, aber ich konnte ihr leider nicht helfen.“
Ein stechender Schmerz durchzog Catherine. Linda hatte es also vorher schon bei jemand anderes probiert und sie war nicht die erste Anlaufstelle. Irgendwie wurmte sie das ein wenig.
„Wie kommt es, dass du Julian heute zu mir geben willst?“
„Ich bin zum Mittagessen verabredet.“ strahlte Catherine plötzlich wieder und trank noch etwas von ihrem Kaffee.
„Deine Augen leuchten. Ist deine Verabredung vielleicht männlicher Natur?“
Verlegen nickte Catherine ihr zu.
„Was du nicht sagst. Erzähl mir mehr.“
„Du wirst ihn nachher kennenlernen. Er arbeitet in JulianŽs Kindergarten als Erzieher.“
Laut prustete Miriam los und bekam kaum noch Luft vor lachen. Gedemütigt verschränkte Catherine die Arme. Was bitteschön war daran so witzig?
„Warum lachst du?“
„Was soll das denn für einer sein?“ und wieder lachte sie laut los.
„Er ist nett und hässlich ist er auch nicht.“
„Wahrscheinlich voll die verklemmte Natur was?“
„Zumindest schlägt er mich nicht oder ist gemein zu mir.“
Sofort verstummte MiriamŽs Lachen und ihr Gesicht nahm wieder ernste Züge an. Ihre braunen Augen blickten besorgt zu Catherine, der mal wieder die Tränen in den Augen standen.
„Ach Liebes, es tut mir Leid. Ich werde ihn mir nachher mal ansehen und vielleicht ist er gar nicht so, wie ich gesagt habe. Sei nicht traurig.“

Vince sah immer und immer wieder zum Fenster heraus. Seine Blicke switchten zwischen der Uhr und der Straße hin und her und Nervosität breitete sich in ihm aus. Maria war vor Julian das letzte Kind, was abgeholt wurde und nun saßen die beiden Herren der Schöpfung einander gegenüber. Er erkannte sein Spiegelbild in der Fensterscheibe und musterte sich gründlich. Akribisch hatte er heute seine Haare zurecht gemacht und darauf geachtet, dass keines der Kinder ihm an den blonden Schopf kam.
„Kommt meine Tante heute wieder pünktlich?“
„Ich weiß nicht.“
„Aber gestern hast du gesagt, dass sie pünktlich sein wird und sie war es.“
Gerade als er Luft holte, entdeckte er CatherineŽs Auto. Seine anfängliche Freude schlug um, als er eine weitere Person aussteigen sah. Wer war die andere Frau und vor allem, warum hatte sie sie mitgebracht? Kaum hatte er seinen Gedanken zu Ende gedacht, standen besagte Frauen auch schon im Zimmer.
„Hallo Julian! Hallo Vince!“ verlegen winkte sie ihm zu. „Julian, erinnerst du dich noch an Miriam? Eine Freundin deiner Mama.“
Verlegen lachte der Junge und nickte.
„Und möchtest du heute etwas mit mir machen Kleiner?“ fiel sie Catherine ins Wort und ging in die Hocke.
„Ich bin schon groß!“
„Ja das bist du. Na? Wollen wir ein bisschen die Stadt unsicher machen? Tante Cathy sagte, du brauchst eine Schlaflampe. Wollen wir dir eine kaufen?“
JulianŽs Augen begannen zu leuchten und er willigte ein. Erleichtert entfuhr Catherine ein Seufzer und sie blickte zu Vince.
„Her je! Ich habe euch noch nicht vorgestellt! Vince? Das ist Miriam, Miriam? Vince.“
„Hallo.“
„Hallo.“
Verhalten schüttelten sie sich die Hand. Vince ahnte nun, warum Catherine die Frau mitgebracht hatte und eine leichte Panik machte sich in ihm breit. So, wie es aussah, würde er heute mit ihr allein sein. Er hörte sein Blut in den Ohren rauschen und ein tiefer dumpfer Schlag durchfuhr ihn. Seine Hände zitterten etwas und somit suchte er schnell etwas, was ihn ablenkte. Er musste immerhin noch aufräumen.
„Also Julian und ich gehen dann mal. Viel Spaß euch beiden.“ Miriam nahm den Jungen an die Hand und schon waren sie verschwunden. Eine unangenehme Stille zog auf und Catherine ließ ihre Handtasche am Arm herunter rutschen, um sie mit beiden Händen hin und her zu schaukeln.
„Ich bin gleich fertig. Ich räume nur eben noch die Stofftiere weg, dann können wir los.“
„Nur keine Eile.“
„Ach, eigentlich kann ich das auch am Montag machen.“
Er ließ den Teddy wieder auf den Boden fallen und wischte sich über die Hose. Hatte er sich auch nicht schmutzig gemacht. Rasch blickte er an sich herunter. Alles in Ordnung. Catherine lächelte ihn an und neigte den Kopf zur Tür.
„Also, wollen wir?“
„Gern. Ich hole noch schnell meine Jacke.“
Nachdem er die Türen des Kindergartens verriegelt hatte, machten sie sich auf zu CatherineŽs Auto, auf welches sie sich geeinigt hatten, denn Vince schämte sich ein wenig für seines. Es war schließlich nur ein kleiner Corsa und konnte bei Weitem nicht mit CatherineŽs schwarzen, zwar alten, aber gut gepflegten Audi mithalten.
„Der Wagen riecht, als käme er frisch aus dem Werk.“
„Finden Sie? Also eigentlich habe ich ihn schon gut zwei Jahre.“
„Das sieht man ihm nicht an.“
Catherine nickte und stellte den Rückspiegel neu ein. Nicht dass das von Nöten gewesen wäre, aber irgendwas musste sie machen, sonst hätte ihre Nervosität sie umgebracht.
„Wohin wollen wir fahren?“ fragte Vince schließlich und blickte sie fragend an.
„Ich weiß nicht. Gibt es ein Restaurant, was Sie empfehlen können?“
Bei dem Wort Restaurant legte sich bei Vince ein Schalter um. Automatisch strichen sich alle Pommesbuden und Schnellimbisse aus seinem Gedächtnis. Diese Frau wollte nicht essen sondern speisen. Angestrengt dachte er nach, doch so sehr er sein Hirn auch durchforstete, ihm kam nichts Rechtes in den Sinn.
„Wie wäre es mit dem Santa Fe? Das ist doch nett?“
„Kann sein, ich kenne es nicht.“
„Dann müssen Sie sich jetzt auf meinen guten Geschmack verlassen.“
„Daran zweifle ich nicht, also dann.“
Catherine startete den Motor und sie fuhren durch die Stadt. Dumm nur, dass in diesem Moment einfach alle Feierabend haben mussten. So war ein Stau vorprogrammiert und Catherine seufzte genervt auf, als sie an ein und der selben Ampel das dritte mal rot zu sehen bekam.
„Der Verkehr hier in der Stadt reizt sie ganz schön, was?“
Naja, also manche fahren aber auch, wie bekloppt!“ Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen trommelte sie auf der Hupe herum, weil sich ein Motorradfahrer dreist an ihr vorbei schlängelte.
„Dieser Idiot! Musste das sein?!“
„Immer mit der Ruhe.“ Vince musste nun lachen und lehnte seinen Arm gegen die Seitenscheibe. Nach langem Fluchen und vielen roten Ampeln erreichten sie endlich das Santa Fe und nahmen an einem Tisch nahe des Fensters Platz.
„Es tut mir Leid, aber ich werde immer so schrecklich, wenn ich Hunger habe.“
„Kein Problem. Niemand ist verletzt, alles ist in Ordnung.“
Catherine nahm die Speisekarte auf und warf einen kurzen Blick hinein.
„Ich hoffe, ich habe Ihnen heute nicht irgendwelche Termine vermasselt oder so.“
„Nein, gar nicht.“ Auch er begutachtete die Speisekarte und war erleichtert, die recht humanen Preise zu erblicken. Ganz gentlemanlike wollte er sie schließlich einladen. Nachdem sie gewählt hatten, brachte die Bedienung bereits die Getränke.
„Ich schenke mir selbst ein, danke.“
„Wie Sie wünschen.“ entgegnete der junge Kellner und stellte Catherine das Glas und die Wasserflasche auf den Tisch und platzierte einen Filz für VinceŽ Cola. Belustigt beobachtete der Catherine, wie sie die Zitrone im Glas ausdrückte und darauf das Mineralwasser goss.
„Trinken Sie das immer so?“
„Ja.“ lachte sie ihm entgegen und legte die Zitrone in den Aschenbecher. „Das schmeckt, wollen Sie mal probieren?“
„Lieber nicht, das ist doch sauer.“
„Eben. Und sauer macht lustig.“
Vince schmunzelte sie an und nahm einen Schluck von seiner Cola.
„Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht damit gerechnet, dass Sie mit mir Essen gehen wollen. Nachdem, was ich Ihnen alles an den Kopf geworfen habe, dachte ich, Sie wären vielleicht sauer oder so.“
Catherine schüttelte den Kopf.
„Es gab nichts, was mich hätte zornig stimmen sollen. Sie hatten ja Recht.“
„Trotzdem, wie komme ich zu der Ehre.“
Catherine verschluckte sich fast an ihrem Wasser und blickte ihn groß an.
„Nun, ich weiß nicht. Ich dachte, naja... einfach so eben.“
Wie konnte er so eine Frage stellen? Catherine lief es kalt den Rücken herunter. Im ersten Moment war ihr gar nichts auf seine Frage eingefallen. Sie hatte sich gerade noch so retten können, denn er nickte und schob die Speisekarte immer hin und her.
„Sagen Sie, haben Sie eine Freundin?“
Sofort errötete er und Catherine hätte sich am liebsten selbst in den Hintern getreten. So was fragte man doch nicht gleich nach den ersten fünf Minuten.
„Nein. Und auch keine Frau, aber das wissen Sie ja.“ lächelte er ihr verlegen zu und schob intensiv die Karte hin und her.
„Wie kommt das?“
Die Karte nahm an Geschwindigkeit zu.
„Ich weiß nicht. Ich habe eben noch nicht den passenden Deckel gefunden.“
Sein Herz raste und seine Finger konnten einfach nicht von der Speisekarte ablassen, doch plötzlich packte Catherine sie und nahm sie bei Seite. Verschreckt blickte er auf, atmete aber durch, als er sah, dass sie es nur getan hatte, weil das Essen kam. Jeder begutachtete zuerst den Teller des anderen und beide mussten lachen, als sich ihre Blicke fast zeitgleich trafen.
„Das sieht gut aus. Was ist das?“ fragte Catherine interessiert und starrte weiter auf seinen Teller.
„Eine Reispfanne. Las sich ganz lecker.“
„Sieht auch so aus.“
„Und was ist Ihres?“
„Brokkoliauflauf. Wenn ich hier bin, nehme ich den immer. Die Soße da drin ist wirklich wahnsinnig lecker.“
Vince begann zu strahlen und beide machten sich über das Essen her.

Larry zahlte seine Einkäufe mit der Kreditkarte und schlenderte aus dem Laden. Im Auto wartete schon die junge Frau, die ihn begleitete und strahlte ihn groß an.
„Du hast sie wirklich gekauft?“
„Allerdings. Möchtest du sie gleich anlegen?“
Sie strahlte ihn an und nickte eifrig.
Er klappte die kleine Schachtel auf und holte eine zarte Halskette heraus. Sachte legte er sie um ihren Hals und sofort betasteten ihre Finger ihr Dekolleté.
„Sie ist wundervoll. Danke Larry!“
Sie warf sich ihm um den Hals und küsste ihn stürmisch.
„Das ist mein Beweis an dich, dass ich es Ernst meine. Verstehst du? Du bist mir wichtig, ich liebe dich.“
„Ich dich auch. Und sei mir nicht mehr böse, wegen Montag.“
„Versprich mir einfach, nie wieder mit mir so einfach Schluss zu machen. Ich bin fast durchgedreht vor Sehnsucht nach dir.“
„Ich weiß. Es tut mir Leid.“
„Schon gut.“
Wieder berührten sich ihre Lippen und er startete schließlich den Motor.
„Wollen wir noch zum Strand?“
„Sicher.“
Der Wagen setzte sich in Bewegung und Larry schaltete das Radio ein. Beide hatten ihr Seitenfenster heruntergefahren und ließen sich die Seeluft um die Nase wehen. Die Sonne knallte auf den Asphalt und ließ alles flimmern.
„Ich bin froh, dich zu kennen, Larry.“
Sie blinzelte zu ihm herüber und ließ ihre Sonnenbrille zurück auf die Nase gleiten. Larry hingegen musste schmunzeln und warf ab und zu ein Blick zu seiner Begleitung. Er liebte es, wenn sie sich mit der Hand durch die Haare fuhr, so, wie sie es eben tat.
„Ich bin auch froh. Sehr froh sogar.“ entgegnete er ihr und konzentrierte sich wieder auf das Autofahren.

„Und als ich dann fragte, wie sie es denn angestellt hatte, zeigte sie mit dem Finger auf die Tische. Da lagen Filzstifte. Sie hatten sich also alle gegenseitig angemalt und ich durfte einen nach den anderen waschen.“
Beide lachten beherzt und nippten an ihrem Kaffee.
„Meine Güte, Sie scheinen wirklich immer sehr viel Spaß auf der Arbeit zu haben. Sie sind zu beneiden, Vince.“
„Wo arbeiten Sie, wenn ich fragen darf?“
„Ich habe eine kleine Modeboutique am Southbay Parkhaus. Direkt gegenüber.“
„Äh Moment. Ist das nicht das Flair?“
„Ja genau. Das ist mein kleiner Laden. Ich arbeite und wohne schon fast dort. Wenn nicht gerade meine Kollegin da ist, bin ich es. Dass ich dieses Jahr Urlaub genommen habe, grenzt an ein Wunder.“
„Nehmen Sie sich sonst keinen?“
„Wer soll dann das Geschäft führen? Meine Kollegin arbeitet ja nur Teilzeit und baut in diesen drei Wochen jetzt so viele Überstunden auf, dass sie sich wahrscheinlich den Rest des Jahres frei nehmen kann.“
„Dann zahlen Sie ihr die Überstunden doch aus?“
„Da hätten wir beide nichts von. Ich hätte Mehrausgaben und sie würde alles dank der Steuern verlieren. Das lohnt sich nicht, leider.“
Angestrengt saß Vince ihr gegenüber und dachte nach. Sein Finger fuhr immer wieder am Tassenrand entlang und die andere Hand spielte nervös am Henkel.
„Ich bin ratlos. Leider kann ich Ihnen da auch nicht helfen.“
„Macht ja nichts. Ich bin ja glücklich mit der Arbeit. Manchmal könnte ein wenig mehr los sein, aber es ist ok.“
Instinktiv suchte Catherine seinen Blick und vertiefte sich in seinen Augen. Meist sekundenlang, bis er errötete und in eine andere Richtung schaute.
„Sagen Sie, die Transportboxen von den Törtchen, haben Sie die noch?“
„Ja.“ schmunzelte er ihr entgegen und blickte sie von unten hinauf an. „Es waren noch zwei übrig und da habe ich sie mitgenommen. Jetzt liegen die Boxen bei mir zu Hause. Ich habe sie vergessen einzupacken. Tut mir Leid.“
„Ist nicht weiter schlimm. Ich freue mich wirklich, dass sie geschmeckt haben. Sie glauben gar nicht, wie viel Panik ich hatte, dass sie genauso verbrennen, wie meine Lasagne. Ich habe die ganze Zeit vor dem Backofen gesessen und beobachtet, ob auch alles seinen rechten Lauf nimmt.“
Catherine lachte auf und leerte ihre Tasse.
„Wegen mir müssen Sie sich aber nicht noch einmal so eine Mühe machen. Ich war natürlich baff und danke Ihnen dafür, aber Sie müssen...“
„Ich weiß, aber ich wollte es eben.“
Nun leerte auch Vince seine Tasse und warf einen kritischen Blick auf die Uhr.
„Müssen Sie etwa schon los?“
„Ich muss auf jeden Fall noch einkaufen, sonst muss ich verhungern. Also heute Abend, jetzt bin ich erstmal satt.“ fügte er noch hinzu und versuchte CatherineŽs Gesichtsausdruck zuzuordnen. Gedanklich durchsuchte er alle Schubladen und Winkel. Sie wirkte enttäuscht, aber das konnte unmöglich sein. Immerhin war sie älter als er und auch erwachsener. Warum sollte sie also enttäuscht darüber sein, dass er los musste?
„Sie könnten auch bei uns mit essen.“
„Nein, ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen und einkaufen muss ich so oder so.“
„Sind Sie sicher?“
„Also wenn ich mich an meinen Kühlschrank erinnere... Ja ich denke schon, ich muss einkaufen.“ grinste er frech und winkte die Bedienung an den Tisch. Hastig begann Catherine in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie zu kramen, doch Vince legte dem Kellner einen fünfzig Dollarschein auf den Tisch und ließ ihm den Rest als Trinkgeld.
„Warum haben Sie alles bezahlt?“ fragte sie etwas irritiert.
„Weil ich Sie einladen wollte. Als Dankeschön für die Törtchen.“
Höflich half er ihr in den Mantel.
„Dann fahre ich Sie am Besten zurück zum Kindergarten, was? Dort steht doch Ihr Auto oder?“
„Das ist schon in Ordnung. Ich kann ebenso gut die U-Bahn nehmen.“
„Nein, ich fahre Sie.“
Vince blickte sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und Catherine nickte ihm zu.
„Also gut.“ gab sie ihm klein bei und senkte den Kopf. „Dann sehen wir uns am Montag?“
„Ja genau. Danke für das nette Essen. Es war wirklich nett.“
Ein stechender Schmerz durchzog sie.
„Fand ich auch. Also, bis dann.“
Vince lief zügig über die Straße und war schon bald verschwunden. Catherine hingegen stand da, wie angewurzelt. Es war also nett. NETT! Auf ihrer Stirn bildeten sich nachdenkliche Falten und sie lief langsam zu ihrem Auto. Er fand es nur nett. Mehr nicht. Kurz musste sie ironisch auflachen. Was hatte sie gedacht? Enttäuschung machte sich in ihr breit. Enttäuschung und Selbstzweifel. Es war doch klar, dass er kein Interesse hatte. Sie war alt und uninteressant. Außerdem war sie verheiratet. Jeder Mann, der nur halbwegs etwas Hirn hatte, würde vor ihr flüchten. Sie lehnte ihren Kopf gegen das Lenkrad und starrte auf die Tachonadel. Null, sie stand auf Null. Genau wie Catherine. Sie war auch eine Null. Eine Null unter fielen anderen Ziffern, nur, dass Einsen und Achten gefragt waren. Genauso wie Fünfen und Sechsen oder Zehnen und Zweien. Aber Nullen? Dumpf ließ sie ihre Stirn auf das Lenkrad fallen, hob den Kopf und ließ ihn wieder fallen. Sie war aber auch zu dumm und einfältig
gewesen.
Wie betäubt drehte sie den Schlüssel um und fuhr nach Hause. Das, was sie am Vorabend nackt im Spiegel gesehen hatte, musste Vince schon lange entdeckt haben. Dafür musste er sie nicht einmal ausziehen. Sie war alt und keineswegs sexy.
„Verdammt!“ schrie sie und räumte mit der Hand die zwei Kaffeetassen ab, die sie noch nicht abgewaschen hatte. Sie flogen durch die Luft und zerschellten laut krachend am Boden. Sie setzte sich auf den Boden und lehnte sich gegen einen Küchenschrank. Sie würde jetzt so lange hier sitzen bleiben, bis sie vermodert war. Keine Sekunde eher, würde sie sich bewegen. Sie zog die Beine an und starrte auf die Scherben, die noch immer am Boden lagen.

Als Vince seine Einkäufe in den Kühlschrank geräumt hatte, blickte er durch seine kleine Küche. Die zwei Törtchen standen noch immer im Gemüsefach. Er hatte sie nicht angerührt. Warum eigentlich nicht? Sie waren doch lecker? Kurzerhand nahm er sich eines und stopfte es sich hinein. Hunger hatte er zwar keinen, aber diese süßen Dinger konnte er einfach nicht verschmähen. Catherine hatte so traurig ausgesehen, als er sie verabschiedet hatte. Er schloss die Augen und ließ alles noch einmal Revue passieren. Hätte er etwas anderes sagen sollen? Er wollte sich ihr schließlich nicht aufdrängen.
Kurzerhand wählte er die Nummer seines besten Freundes und erklärte ihm die Situation.
„Ach Vince. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass nett der kleine Bruder von scheiße ist? Frauen ticken anders. Sie hat dich bestimmt missverstanden.“
„Was hätte ich denn sagen sollen? Es war geil?“
„War es das denn?“
Vince dachte sich in das Lokal zurück. Sie hatte eine Bluse an. Und sie hatte wohl vergessen den letzten Knopf zu schließen, denn er hatte ihr in den Ausschnitt blicken können. Geil war nicht der richtige Ausdruck, eher...
„Es war heiß, sagen wir es so.“
„Na also.“
„Hätte ich sagen sollen, dass es heiß war?“
„Mensch, du bist aber auch verquer. Pass auf: Catherine, das Essen war toll, das Lokal war toll, aber dass du mich begleitet hast war einfach das Beste von allem.“
„Mensch Phil! In so einer Situation denke ich nicht an so poetische Dinge. Außerdem ist das nicht meine Art.“
„Habt ihr euch wenigstens für einen anderen Tag verabredet?“
„Nein, das brauchen wir nicht. Ich sehe sie ja am Montag wieder. Der Junge geht doch in meine Spielgruppe.“
„Ich fasse es nicht!“ brüllte Phil am anderen Ende und Vince entfernte den Hörer des Telefons etwas von seinem Ohr. „Wie doof bist du eigentlich?!“
„Wieso?“ fragte er ganz unbehelligt und zog die Augenbrauen zusammen.
„Vince pass auf. Ich spreche zu dir als dein bester Freund. Ich kenne Frauen. Je älter sie werden, desto komischer werden sie auch. Ich könnte mir echt denken, dass sie glaubt, dass du kein Interesse an ihr hast.“
„Wer redet denn hier von Interesse? Ich finde sie nett und so...“
„Was habe ich dir über das Wort „nett“ gesagt?!“
„Ja, ich mag sie, ok?“
„Also, dann zeig ihr das auch. Ruf sie an und bedank dich nochmal für den Nachmittag, sonst verliert sie vielleicht das Interesse an dir!“
„Aber sie ist verheiratet?“
„Scheinbar nicht sehr glücklich. Zumindest klang es so, als du sagtest, dass sie dir davon erzählt hat.“
„Schon...“
„Ruf sie an, ok?“
„Was soll ich denn sagen?“
„Du sollst dich nur bedanken, mehr nicht.“
„Und dann?“
„Vince! Du benimmst dich wie ein pubertierender Teenager. Ruf an und gut.“
Ein kurzes Knacken und anschließendes Hupen. Phil hatte einfach aufgelegt und er klang ziemlich genervt. Wahrscheinlich war es besser, wenn Vince ihn heute nicht mehr anrief. Er warf das Telefon auf sein Sofa und schaltete den Fernseher ein. Was war denn an dem Wort „nett“ auszusetzen? Es war doch ein sehr, naja, nettes Wort eben?
„Nett ist der kleine Bruder von scheiße!“ hallte es in seinem Kopf wider und Vince legte seinen Kopf auf die Lehne der Couch. Was hatte er nur falsch gemacht? Nur wegen einem Wort? Nein, das konnte es nicht sein. Wahrscheinlich war er ihr einfach zu jung und sie wollte nicht unhöflich sein, als er sie danach fragte, ob sie gemeinsam essen gehen wollen. Sie war schließlich eine sehr höfliche Frau, die sich nichts zu Schulden kommen lassen wollte. Das letzte Törtchen in seinem Kühlschrank war der zurückgebliebene Beweis dafür. Er hatte seinen Kumpel angerufen, um von ihm einen guten Rat zu erhalten, doch jetzt war er noch mehr durch den Wind, als vorher. Schon beim Einkauf war er nicht bei der Sache. Er hatte Wurst und Butter gekauft. Marmelade und Käse, nur eben kein Brot. Gleich nach dieser Sendung würde er das aus dem Gefrierfach nehmen und auftauen. Sonst gab es heute Abend nichts zu beißen.
Er stierte auf den Fernseher und doch konzentrierte er sich auf alles, nur nicht auf die Serie. Das Telefon neben ihm machte ihn fast wahnsinnig. Es lag einfach so da und doch hatte er das Gefühl, dass es gut wäre, wenn er es benutzen würde. Sollte er sie vielleicht doch noch einmal anrufen? Angestrengt blies er sich Luft durch das Gesicht und runzelte die Stirn. Er kramte nach dem Zettel, auf den er CatherineŽs Nummer geschrieben hatte, als Linda ihm mitteilte, dass sie ihren Sohn nehmen würde. Er wählte ihre Nummer, legte aber sofort wieder auf. Der Akku war eh fast leer und er sollte das Ding lieber laden, statt dumm herum zu telefonieren.

Kurz nach sechs klingelte es und Catherine hob den Kopf von ihren Knien. Sie hatte es tatsächlich geschafft, sich über zwei Stunden nicht zu bewegen. Aber vermodert war sie nicht, nur steif. An der Küchenzeile hievte sie sich hoch und öffnete die Tür. Miriam und Julian stürmten in die Wohnung und redeten wild durcheinander.
„Stopp! Einer nach dem anderen bitte!“ rief sie dazwischen und hielt sich die Ohren zu.
„Tante, wir haben eine Lampe gekauft! Darf ich sie heute Abend gleich benutzen?“
„Sicher Julian. Willst du fern sehen?“
„Au ja!“
Nachdem Julian beschäftigt war, widmete Catherine sich ihrer Freundin.
„Hattet ihr Spaß? Ich hoffe, er hat sich benommen?“
„Er war super süß und total lieb. Es hat wirklich Spaß gemacht. Wir haben in den Läden herum gestöbert und nun sieh mal, was wir gefunden haben.“
Sie kramte in einer der unzähligen Tüten herum und zog eine Schlaflampe heraus, auf deren Schirm überall kleine Pokémon zu sehen waren.
„Seine Lieblingsserie.“ lächelte Catherine etwas künstlich und nahm die Lampe um sie achtlos auf die Arbeitsplatte zu stellen.
„Ist alles ok? War das Treffen nicht so gut?“
„Ich weiß nicht. Vince meinte, es war nett.“
„Nett?“ wiederholte Miriam mit gerunzelter Stirn und holte tief Luft. „Männer denken sich da nichts bei. Sei nicht traurig, er wollte bestimmt nur höflich sein.“
„Ich denke eher nicht. Er hat meine Einladung zum Abendessen kategorisch abgelehnt. Er hat einfach kein Interesse, das ist alles.“ geknickt ließ sie sich auf einem der vier Stühle in der Essecke nieder und stützte ihren Kopf in die Hand.
„Siehst du das nicht vielleicht ein wenig zu verbissen? Ich glaube eher, dass er schüchtern ist. So wirkte er jedenfalls auf mich. Vielleicht war er sich nur unsicher. Ich meine, er weiß immerhin, dass du älter bist. Wahrscheinlich hatte er Angst dir nicht das Wasser reichen zu können.“
„Das ist doch Blödsinn Miri. Also ehrlich.“
„Sag das nicht so vorwurfsvoll. Erstens kann ich nichts dafür, zweitens war es nur eine Vermutung und drittens kann keiner von euch beiden wissen, was in dem anderen vorgeht. Sei nicht so voreilig und...“
Das Telefon unterbrach das Gespräch und lustlos schleppte sich Catherine zum Apparat.
„Hoover?“ flötete sie etwas genervt.
„Catherine! Ich bin es!“
„Ach, Linda.“ Nur wenig Begeisterung konnte sie sich abgewinnen und wickelte das Telefonkabel um ihren Finger.
„Was ist los? Du klingst müde.“
„Nein, nein. Das täuscht.“
„Ich wollte nur mal hören, wie es euch geht. Was macht Julian?“
„Ach der guckt seine Serie.“
„Und sonst so?“
„Nichts weiter.“
„Meine Herren bist du aber gesprächig. Hat er etwas angestellt?“
„Nein.“
Miriam legte fragend ihren Kopf auf die Seite und Catherine flüsterte ihr LindaŽs Namen zu.
„Was? Linda? Gib her.“
Miriam riss ihr den Hörer aus der Hand und übernahm die Führung.
„Linda? Ich bin es, Miriam. Wie geht?s dir? Wie ist es in Japan? Habt ihr Smog? Wie sind die Leute, fotografieren die da auch so viel?“
„Miriam!“ rief Linda und selbige stoppte sofort. „Lass mich erstmal antworten, sonst habe ich ja die ersten Fragen wieder vergessen.“
Catherine setzte sich auf das Sofa und verfolgte die Serie, die Julian sich ansah. Trickfilme waren zwar nicht so ihr Ding, aber lachen musste sie schließlich doch und so fand sie langsam gefallen daran. Nach einer Weile hörte sie Miriam, wie sie ihren Namen rief und ging zurück ans Telefon.
„Catherine?“ fragte Linda.
„Ja, am Apparat.“
„Ist das wirklich ok mit Julian? Ist er artig und ...“
„Er ist artig. Wirklich und es ist in Ordnung, ok?“ sie versuchte zumindest etwas freundlich zu klingen und drehte wieder das Telefonkabel um ihren Finger.
„Du hast total schlechte Laune. Willst du wirklich nicht sagen, was los ist?“
„Nein, das legt sich schon wieder.“
„Ist es wegen Larry?“
„Larry? Quatsch!“
„Sicher?“
„Ja doch. Mach dir wegen mir und Julian keine Sorgen ja?“
„Also gut.“
„Wir hören uns ja?“
„Gut ok. Bis demnächst.“
Kaum hatte Catherine den Hörer auf die Gabel gelegt klingelte es schon wieder.
„Mensch Linda!“ giftete sie und nahm ab. „Hallo?!“
„Catherine?“
„Vince!“ entfuhr es ihr kleinlaut und sofort legte sie eine freundliche Stimme auf. „Was gibt es denn?“
„Also ich, äh. Naja...“ sie musste schmunzeln. Es war so niedlich, wenn er aus dem Takt kam und sich mit seinen eigenen Wörtern überschlug.
„Ist alles in Ordnung?“ half sie ihm auf die Sprünge und drehte mit viel Elan die Telefonstrippe um ihren Finger.
„Ja, alles in Ordnung. Also weshalb ich anrufe ist, weil, naja... Ich wollte mich bedanken.“
„Bedanken? Wofür denn?“
Miriam blickte zu Catherine. Sie saß wie eine Eins auf der Armlehne des SofaŽs und hatte die Beine übereinander geschlagen. Sie lachte und wirkte ganz anders, als noch vor ein paar Sekunden und ihre Wangen wurden ganz rot.
„Für das Essen.“
„Aber Sie haben doch mich eingeladen und nicht umgekehrt?“
„Schon, aber ich fand es wirklich toll, dass Sie mir Gesellschaft geleistet haben. Zu zweit schmeckt es eben besser und bei einer so net... hübschen Begleitung...“
„Sie Schleimer!“ lachte sie in den Hörer und riss schon fast den Telefonstecker aus der Dose, weil sie die Strippe so fest um ihren Finger gewickelt hatte.
„Finden Sie?“ Catherine presste den Hörer an ihr Ohr. Seine Stimme hatte sich schlagartig geändert und er wurde unsicher.
„Nein, natürlich nicht. Welche Frau wird nicht gern als hübsch bezeichnet?“
„Ich dachte schon.“ Catherine drückte sich die Hand auf den Mund, um nicht laut los zu lachen. Er war so schnell zu verunsichern und sagte manchmal Dinge, die so furchtbar niedlich klangen, wenn ER sie sagte.
Gegenseitig schwiegen sie nun in das Telefon und jeder hörte, was der andere gerade machte. Catherine knirschte mit den Zähnen, ein Zeichen dass sie nachdachte. Das war ihm schon aufgefallen, als er sie am ersten Tag so angemault hatte. Sie hingegen vernahm nur sein schweres Atmen. Was musste er gekämpft haben, um sie tatsächlich nochmal anzurufen, um sich zu bedanken? Das passte gar nicht zu ihm. Aber irgendetwas musste jetzt gesagt werden.
„Haben Sie es sich mit dem Abendessen nochmal überlegt?“
„Abendessen?“ entfuhr es ihm erleichtert, dass sie endlich etwas gesagt hatte. „Nun ja.“ Er hatte noch immer kein Brot, denn das aus dem Eisfach war so hart, dass man jemanden damit erschlagen konnte.
„Wenn es Ihnen wirklich keine Umstände macht?“
Laut wäre es ihr fast heraus geplatzt, dass sie überglücklich über seine Antwort war, doch Catherine hielt sich zurück.
„Das ist kein Problem.“ berichtigte sie ihn sachlich. „Ich würde mich freuen.“
„Also gut, wann soll ich da sein? Soll ich noch etwas mitbringen?“
„Oh, äh. Ja... Ich weiß nicht? Um ehrlich zu sein, habe ich nicht damit gerechnet, dass Sie sich noch einmal um entscheiden. Also habe ich auch noch gar nichts vorbereitet. Ich weiß gar nicht, was ich kochen soll.“
„Dann bringe ich einfach etwas mit und wir kochen zusammen. Vielleicht können wir Julian dafür auch begeistern.“
„Gut dann machen wir es so.“
„Prima, und was soll ich mitbringen?“
Beide begannen zu lachen, denn keiner wusste so Recht, was es geben sollte.
„Wie wäre es mit Pizza?“ fragte Catherine schließlich.
„Von mir aus gern.“
„Julian, wollen wir heute Abend nochmal Pizza essen?“
„Au ja!“ seine Augen strahlten.
„Gut, dann also alles, was man für Pizza braucht.“
„Geht in Ordnung. Und wann soll ich da sein?“
„Gegen Sieben?“
„Gut, dann bis nachher.“
Zufrieden und überglücklich ließ Catherine den Hörer auf die Gabel sinken und sprang vor Freude fast im Dreieck. Miriam schüttelte den Kopf und blickte sie fragend an.
„Soll Julian vielleicht lieber bei mir schlafen?“
CatherineŽs Herz drohte zu versagen. Dann wäre sie mit Vince allein. Wollte sie das? Was für eine Frage! Natürlich wollte sie das! Aber sie konnte den Jungen doch nicht einfach von einem Fleck zum nächsten abschieben. Nein, das ging wirklich nicht. Was würde er Linda erzählen? Und was hätte die dann für ein Bild von ihr?
„Nein, das geht schon in Ordnung. Ich denke, dass klappt auch mit ihm ganz gut. Außerdem muss er uns beim Pizza machen helfen.“
Sie zwinkerte dem Jungen zu und blickte freudig zu Miriam.
„Ich bin so aufgeregt! Es ist, als wäre das mein erster Schultag! Miriam! Was soll ich bloß anziehen?“
„Du bist zu Hause. Besonders auftakeln würde ich mich an deiner Stelle nicht. Zieh dir was bequemes an und gut. Er wird sicher auch nicht im Anzug kommen.“
„Ich kann doch nicht in Jogginghose und Shirt hier herum rennen.“
„Warum nicht? Es ist deine Wohnung und wenn es ihm nicht passt, dann soll er eben nicht hin gucken.“
„Hör mal. Ich habe heute morgen ewig gebraucht, bis ich mich entschieden hatte, den oberen Knopf meiner Bluse offen zu lassen. Du glaubst doch nicht, dass ich jetzt hier herum laufe, wie Aschenputtel!“
„Mach, wie du es für richtig hältst. Ich gehe jetzt jedenfalls.“
Miriam nahm ihre Jacke und zwinkerte Catherine kurz zu.
„Viel Spaß euch beiden. Und lasst nichts anbrennen!“
„Wie meinst du das?“
„So, wie ich es gesagt habe. Bis demnächst. Und melde dich. Nochmal werde ich nicht so lange auf deinen Anruf warten.“
Miriam zog die Tür hinter sich zu und verließ das Haus. CatherineŽs Herz schlug ihr bis zum Hals. Es war schon kurz nach halb sieben und Vince würde sicher bald eintreffen. Akribisch kontrollierte sie jeden Winkel ihrer Wohnung auf Staub, Fusseln und andere Dinge, die nichts dort zu suchen hatten. Schließlich richtete sie ihre Sachen noch einmal und warf einen Blick in den Spiegel.

Vince wählte PhilŽs Nummer und wartete. Eigentlich sollte er ihn nicht mehr anrufen. Sicher würde er ihm sofort unter die Nase reiben, dass er es doch gleich gesagt hatte und dass er es von Anfang an wusste. Natürlich, das war ja auch nicht schwer, denn Phil war ein Weiberheld, wie er im Buche stand. Er verstand es, die Frauen um den Finger zu wickeln und sie mit romantischem Geschwafel einzulullen. Vielleicht sollte er sich mal eine Scheibe davon abschneiden.
„Hallo?“
„Phil? Ich habŽs getan! Ich habe sie angerufen!“
„Was ehrlich?! Und was hat sie gesagt?“
„Wir treffen uns gleich zum Abendessen. Wir wollen Pizza machen.“
„Wo?“
„Bei ihr.“
„Du hast es aber eilig.“ lachte sein Freund ins Telefon und Vince zog die Augenbrauen zusammen.
„Was meinst du mit eilig?“
„Naja, ihr seid zu zweit und bei ihr und allein... Was macht man da wohl?“ hauchte er in den Hörer und Vince grübelte kurz.
„Glaubst du, ich fahre da nur hin, um sie ins Bett zu kriegen?“
„Klingt doch verführerisch. Vielleicht will sie ja auch. Warum sonst, sollte sie dich zu sich nach Hause einladen?“
„Das ist doch Quatsch. Außerdem ist da noch Julian. Soll der das alles mitkriegen?“
„Natürlich nicht. Legt ihn schlafen und dann seid leise.“
„Du spinnst. So ist Catherine nicht.“
„Ich hatte schon einmal Recht, mit dem, was ich dir gesagt habe. Es würde mich nicht wundern, wenn sie tatsächlich so tickt. Wie alt ist sie eigentlich?“
„Keine Ahnung, ich habe sie nicht danach gefragt.“
„Dann hüte dich, es noch zu tun. Frauen fragt man nicht, wie alt sie sind.“
„Das weiß ich selber!“ maulte Vince kindlich in den Hörer und legte einen Schmollmund auf. Was glaubte Phil denn? So dumm war er nun auch nicht.
„Ruf mich morgen doch mal an und erzähl mir, was bei deinem Date raus gekommen ist.“
„Es ist kein Date. Wir treffen uns nur so.“
„Ja, ja. Ruf mich an ja?“
„Ja.“ trotzte Vince zurück. „Gott, ich weiß gar nicht, was ich heute Abend mit ihr reden soll.“
„Ach das schaffst du schon.“
„Nein, wirklich. Mir fällt so gar nichts ein.“
„Mensch Vince. Da gibt es doch ganz einfache Fragen. HobbyŽs, Lieblingsessen, Mode. Alles was die Frauen eben interessiert.“
„Ich habe von Mode doch gar keine Ahnung?“
„Ach Vince!“ maulte Phil in den Hörer und schnaufte verärgert auf. „Jetzt stell dich nicht dümmer, als du bist. Ein bisschen mit ihr reden musst du schon, sonst wird das nichts.“
„Schon, aber...“
„Nichts aber. Mach es und gut. Und sag mir, was dabei raus gekommen ist ja?“
„Ja doch.“
„Gut, dann also bis morgen.“
„Bis morgen.“ flötete Vince zurück und legte schließlich auf.

Catherine stierte stur auf die Uhr. Es war schon nach Sieben und Vince kam und kam nicht. Langsam wurde sie ungeduldig. Er war doch sonst eigentlich ein sehr pünktlicher Mensch. Dachte sie, denn gegen halb acht war noch immer keine Spur von ihm. Julian saß noch immer vor dem Fernseher und bemerkte von CatherineŽs Sorgen nichts.
Sollte sie Vince anrufen und fragen, ob alles in Ordnung ist? War das nicht schon etwas zu aufdringlich? Catherine schüttelte den Kopf und blickte aus dem Küchenfenster. Die Straßenlaterne der MillerŽs flackerte. Genervt verdrehte sie die Augen, denn es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie wieder kaputt war. Was waren das nur für Handwerker? Schafften es nicht mal, eine dusselige Laterne zu reparieren. Plötzlich begannen ihre Augen zu strahlen. Ein Corsa bog in die Straße ein und er musste es einfach sein. Der Wagen hielt und er stieg aus. Ein Feuerwerk unbekannten Ausmaßes zündete in ihr und sie stieg von einem Bein aufŽs andere, bis es endlich klingelte. Entschuldigend blickte Vince sie schließlich an und trug die Einkaufstüten in die Küche.
„Es tut mir Leid, aber mein Wagen wollte einfach nicht anspringen. Er ist manchmal so zickig.“
„Alles kein Problem, Hauptsache bei Ihnen ist alles in Ordnung.“
Fragend blickte er sie an.
„Ich habe mir ein wenig Sorgen gemacht, weil Sie so spät dran waren.“
„Sorgen? Wegen mir? Das tut mir Leid.“ Sein Blick trübte sich noch mehr und verlegen starrte er auf seine Schuhe. „Ich Trottel hätte Sie aber auch anrufen können.“
„Naja, ist ja alles halb so wild.“ beschwichtigte sie ihn und strich ihm aufmunternd über die Schulter. Sofort zündeten bei ihm tausende kleine Blitze und er bekam eine wohlige Gänsehaut.
„Wollen wir anfangen?“ lenkte er schnell ein und blickte suchend nach Julian. Der saß noch immer gefesselt vor dem Fernseher und reagierte auf keinen anderen Reiz.
„Es ist zwecklos. Ich habe es vor ein paar Minuten schon probiert, ihn von dem Apparat zu lösen, erfolglos. Lassen Sie uns anfangen und vielleicht bekommt er ja noch Lust.“
„Also gut, wo fangen wir an?“
„Beim Teig.“

Larry brütete über den Stellenanzeigen in der Zeitung und kaute gelangweilt auf seinem Stift herum. Madeleine hingegen stand in der Küche des Ferienhauses und nippte nachdenklich an ihrem Wein. Sie blickte zu ihm herüber und legte den Kopf schief.
„Und? Ist etwas interessantes dabei?“
„Nein, leider nicht. Ich habe mir den denkbar schlechtesten Beruf von allen ausgesucht. Heutzutage will eben niemand mehr einen Autor. Schon gar nicht, wenn er mit einer Serie gescheitert ist und dabei fast den ganzen Verlag ruiniert hat.“ Traurig blickte er sie an und blies die Wangen auf.
„Sei nicht so hart zu dir selbst. Früher oder später wirst du schon etwas finden. Davon bin ich überzeugt.“
„Allerdings sollte es lieber früher stattfinden. Sollte ich mich tatsächlich noch im nächsten Jahr von Catherine scheiden lassen, wird sie alles daran setzen, mir das Geld aus den Rippen zu leiern.“
„Meinst du, dass sie so ist? Ich meine, ich kenne sie nicht, aber...“
„Sie ist so. Das war schon immer so. Sie genießt einen hohen Lebensstandard und wird nur ungern darauf verzichten wollen.“
Madeleine ließ ihr Weinglas auf der Küchenzeile stehen und schlich zu Larry, um ihm ihre Arme auf die Schultern zu legen. Liebevoll küsste sie ihn am Hals und langsam wurde er wieder locker.
„Du verstehst es wirklich, mich zu verführen.“
„Ich weiß.“ feixte sie ihm entgegen und zupfte am Kragen seines Hemdes herum. „Aber nicht hier.“ Sie tänzelte ins Schlafzimmer und winkte ihn hinter sich her. Das ließ Larry sich nicht zweimal sagen und folgte ihr prompt.

Catherine und Vince überkam ein Lachanfall nach dem anderen. Die Küche war mittlerweile mit Tomatensoße gesprenkelt und auf dem Boden lag Käse und eine Scheibe Salami.
„Nicht zu mir!“ lachte Catherine freudig auf und war bestrebt Vince mit dem Löffel voll Tomatensoße anzumalen.
Wieder lachten beide auf und schoben die Pizza in den Ofen.
„Ich werde mal den Tisch decken, bevor Sie noch auf die Idee kommen mir Wurst in die Haare zu stecken.“ grinste Catherine ihm entgegen und zwinkerte frech.
„Ich helfe Ihnen.“
„Nein, das geht schon. Setzen Sie sich ruhig, ich kümmere mich um alles andere.“
Vince nickte ihr zu und nahm auf dem Sofa Platz. Neben ihm lag Julian, der mit fast geschlossenen Augen noch immer zum Fernseher starrte.
„Na? Ist da jemand müde?“
„Nein.“ antwortete der Junge schnell und versuchte möglichst wach auszusehen. Doch seine Augen wurden immer kleiner und schon wenige Minuten später schlief er auf dem Sofa, seinen Kopf auf dem Schoß von Vince. Catherine betrachtete beide von der Küche aus und schmunzelte. Es war wirklich ein niedliches Paar.
„Schläft er?“
„Scheint so. Julian?“ Doch der reagierte nicht. „Er schläft.“
„Dabei hat er gar nichts weiter zum Abendbrot gegessen.“
„Vielleicht hatte er auch gar keinen Hunger. Manchmal ist das ja so.“
„Ja ich denke auch.“
Vince hob JulianŽs Kopf ein wenig, um aufstehen zu können. Nachdem er ihn ins Bett gebracht hatte, nahm er wieder auf dem Sofa Platz und zappte durch das Fernsehprogramm.
„Wollen Sie etwas trinken? Ich habe auch Bier, wenn Sie möchten.“
„Ich trinke eigentlich keinen Alkohol.“
„Was bedeutet `eigentlichŽ?“
„Naja, dass ich schon manchmal etwas trinke. Allerdings ist das eher die Seltenheit.“
„Würden Sie vielleicht heute Abend eine Ausnahme machen und mit mir ein Glas Wein trinken?“
Sie fragte ihn so zuckersüß, dass er einfach nicht nein sagen konnte und schon saßen beide nebeneinander und nippten an ihren Gläsern.
„Es läuft mal wieder nur Müll. Wirklich, es ist zum Verrückt werden!“ schimpfte Vince und reichte Catherine die Fernbedienung. Sie nahm sie entgegen und schaltete den Apparat aus.
„Wir sollten diesen Müll nicht mit Aufmerksamkeit unterstützen. Unterhalten wir uns lieber ein wenig.“
Ein dicker Klos bildete sich in VinceŽ Hals und er nahm einen großen Schluck Wein, um ihn damit weg zu spülen. Doch alles trinken half wenig, der Brocken in seinem Hals wollte einfach nicht weichen.
„Erzählen Sie mir etwas über sich.“ munterte Catherine ihn auf und stellte ihr Glas auf den Stubentisch.
„Was wollen Sie denn wissen?“ rang er sich nach einiger Zeit ab und blickte flüchtig in ihr Gesicht. Catherine schmunzelte kurz und zuckte mit den Schultern.
„Irgendetwas.“
„Ich weiß aber nichts.“ Verlegen fuhr er mit seinem Finger am Rand des Glases entlang und wagte es nicht aufzublicken.
„Haben Sie HobbyŽs?“
„Ja. Ich gehe meist am Wochenende ins Fitnessstudio. Außerdem schreibe ich eigene kleine Musikstücke. Meist spiele ich sie den Kindern vor. Aber sonst...“ Der Klos in seinem Hals wuchs wieder kräftig an.
„Das hört sich doch interessant an. Wie ist es mit Kino oder Freunden treffen?“
„Ja, manchmal auch das.“
„Und Disco?“ bohrte Catherine weiter.
„Eher selten.“
Ein wenig enttäuscht schnaufte Catherine auf und erhob sich vom Sofa.
„Ich sehe mal nach der Pizza.“
Sie lief in die Küche und blickte durch die Scheibe des Backofens. Der Käse war noch nicht mal ansatzweise verlaufen, es dauerte also noch etwas. Vince war so schrecklich wortkarg und auch Catherine wollte nichts rechtes einfallen, was sie sagen sollte. Nachdenklich starrte sie zum Fenster heraus. Die Straßenlaterne der MillerŽs war nun gänzlich erloschen. Ein kurzer ironischer Lacher entfuhr ihr und sie strich sich durch die Haare. Er hatte ihr noch nicht einmal das `DuŽ angeboten. Vielleicht mochte er sie doch nicht... Aber halt! Catherine durchfuhr es wie ein Blitz. Sie war ja die Ältere von beiden. Vielleicht wollte er nur nicht unhöflich sein. Vielleicht war es an ihr den ersten Schritt zu tun. Neuen Mutes ließ sie sich wieder neben ihm auf dem Sofa nieder und blickte ihn an.
„Und? Was macht die Pizza?“ eröffnete Vince das Gespräch.
„Die braucht noch ein bisschen. Aber Sagen Sie mal Vince, eine Frage habe ich noch.“
„Hmm?“
„Wollen wir uns vielleicht duzen? Also ich meine, ich bin die Ältere und dachte mir, dass es vielleicht besser wäre wenn ich es anbieten...“
„Gern.“ Er reichte ihr seine Hand und sie schlug ein. „Also, ich bin Vince.“ schmunzelte er ihr entgegen.
„Hey Vince. Ich bin Catherine.“
„Hallo Catherine, schön dich kennen zu lernen.“
„Die Ehre ist ganz meinerseits.“
Beide lachten leise auf und nippten an ihren Gläsern.
„Hast du auch irgendwelche HobbyŽs?“
Seine Frage überrumpelte Catherine fast ein wenig, denn sie hatten bereits einige Minuten nicht miteinander gesprochen, sondern nur geschwiegen und ab und zu gelächelt.
„HobbyŽs? Naja, ich habe ja meinen Modeladen. Da bleibt kaum Zeit für HobbyŽs. Ich gehe gern mal weg. In ein Café oder in eine Bar. Aber sonst.“
„Musst du denn immer so lange arbeiten?“
„Naja, von morgens bis Abends.“ lachte sie ihm wehmütig entgegen.
Er nickte kurz und starrte wieder auf sein Glas. Es konnte doch, verdammt nochmal, nicht so schwer sein, sich mit ihr zu unterhalten?! Innerlich kochte er vor Wut. Er hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Warum fiel ihm nichts ein? Es musste doch noch irgendetwas geben, über das sie sich auslassen konnten? So gut kannte er sie schließlich noch nicht, als dass er hätte sagen können, dass jede weitere Frage sinnlos wäre.
Plötzlich stand sie auf und lief in die Küche.
„Die Pizza ist fertig.“ rief sie und Vince eilte herbei, um ihr helfend zur Seite zu stehen.
Sie saßen sich gegenüber, aßen und schwiegen. Catherine wäre am liebsten aus dem Fenster gesprungen, Vince lieber im Erdboden versunken. Die Situation war so festgefahren, dass keiner der Beiden einen Weg daraus fand.
Nachdem sie die Teller abgeräumt und gespült hatten, verweilte Catherine in der Küche und Vince nahm wieder am Esstisch Platz.
„Sag mal, Vince, findest du uns nicht auch albern?“
„Wie meinst du das?“
„Naja, ich finde, wir benehmen uns albern. Irgendwie traut sich keiner etwas zu sagen und wir schweigen uns nur an. Ist doch albern.“
Erleichtert atmete er durch. Sie sah es also genau so.
„Ja, du hast Recht.“
„Normalerweise bin ich nicht so auf den Mund gefallen. Mir ist das echt unangenehm. Sonst erzähle und erzähle ich und finde kaum ein Ende.“
Vollkommen unnötig wischte sie mit einem Lappen über die bereits saubere Arbeitsplatte. Ihr Blick fiel auf den großen Papierhaufen, den Larry wohl aus seinem Zimmer in die Küche geräumt hatte. Der Mülleimer quoll schon über und Catherine verdrehte etwas genervt die Augen.
„Hast du eigentlich von dem Überfall gehört? Zwei Straßen weiter haben doch zwei Maskierte GrannyŽs Corner überfallen und die alte Dame ausgeraubt, der der Laden gehört. Schrecklich.“
„Ich habe es in der Zeitung gelesen. Sie tut mir so Leid. Im Artikel stand auch, dass sie den Laden jetzt schließen will.“
„Was wirklich?“ betroffen stieg CatherineŽs Hand vor ihren Mund. „Die arme alte Dame.“
Vince nickte etwas mitleidig und verzog seinen Mund zu einem Lächeln.
„Selbstverteidigung!“ Catherine schlug mit ihrer Faust in die geöffnete Hand und blickte Bestimmt nach oben. „Das wäre es. Mit Karate und Nasi Goreng allen eine schmieren, die einem etwas Böses wollen.“
„Nasi Goreng?“ wiederholte Vince und schüttete sich fast aus vor lachen. „Willst du sie zu Tode kochen?“
Catherine überlegte kurz und prustete auch los. Sie meinte natürlich nicht das Essen, sondern eine andere Kampfsportart.
„In dem Fitnessstudio, in dem ich angemeldet bin, werden verschieden Kurse angeboten. Ich selbst habe mich dem Wing Tzun verschrieben.“
„Und was ist das?“
Interessiert nahm sie neben ihm Platz.
„Wing Tzun ist eine sehr effiziente Art der Selbstverteidigung. Sie nutzt die Energie des Angreifers, und wirft sie auf selbigen zurück.“
„Das klingt gut. Zeig mir mal was.“
„Ausgeschlossen. Ich kann nicht garantieren, dass du dir nichts tust, aber wenn du möchtest, kannst du mal eine Probestunde machen. Es ist wirklich sehr interessant.“
„Allerdings, genau danach klingt es auch. Vielleicht wäre es wirklich nicht schlecht. Ich meine, heutzutage ist so viel Kriminalität auf den Straßen. Ich muss gestehen, dass es mich manchmal Abends echt gruselt, wenn ich durch das Parkhaus gehe, um meinen Wagen zu holen. Einmal kam aus dem Nichts ein Straßenhund angelaufen. Ich war so erschrocken, dass ich mich im Auto erstmal beruhigen musste.“
„Ist das Parkhaus denn nicht beleuchtet?“
„Du weißt doch, wie das in Parkhäusern ist. Das Licht ist eher schlecht, als Recht. Genau wie die Laterne der MillerŽs!“ sie sprang von ihrem Stuhl auf und lief zum Küchenfenster. „Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber sie ist schon wieder kaputt. Erst war sie kaputt, dann kamen Handwerker und sie ging wieder. Heute Abend begann sie wieder zu flackern und jetzt? Jetzt ist sie wieder hin.“ regte sich Catherine auf und schüttelte verständnislos den Kopf.
„Erstaunlich, wie schnell du dich aufregen kannst.“ feixte Vince ihr zu und lehnte seinen Kopf auf seine Hand. „Dabei ist es doch nur eine dusselige Laterne.“
„Findest du, dass ich mich sehr schnell aufrege? Sei ehrlich.“
Sie drehte sich geschockt zu ihm um und legte ihre Hand auf den Brustkorb. Sie musste verhindern, dass er merkte, wie sehr ihr Herz schlug.
„Naja, zumindest, wenn es um die Laterne der MillerŽs geht.“ schmunzelte er und holte die beiden Weingläser in die Küche.
„Sei bitte ehrlich, findest du nicht, dass ich schnell überreagiere?“
„Nein, eigentlich nicht.“
Er reichte ihr ihr Glas und stieß nochmals mit ihr an.
„Nach diesem Glas werde ich nach Hause fahren. Sicher willst du auch noch ein bisschen deine Ruhe haben und...“
„Also eigentlich...“ Catherine tadelte sich streng und blickte zum Boden. Er sollte doch noch ein wenig bleiben. Nicht lang. Vielleicht nur eine halbe Stunde. „Also wegen mir musst du dir keine Sorgen machen. Ich bin frisch wie eh und je.“
Mit großen Augen blickte sie ihn an. Wie sollte er ihr widersprechen, wenn sie ihn so ansah? Seine Knie wurden weich und seine guten Vorsätze bröckelten dahin. Jetzt fehlte es nur noch, dass sie ihn in ihr Schlafzimmer zerrte und beide übereinander her fielen. Dann hätte Phil mal wieder Recht gehabt. Das konnte und wollte er nicht zulassen.
„Doch, ich denke, es ist das Beste. Noch habe ich ja nicht ausgetrunken. Ein bisschen Zeit haben wir also noch.“
„Also gut.“
Catherine stellte die Reste der abgekühlten Pizza in den Kühlschrank und blickte verstohlen zu Vince.
„Und du kannst noch fahren?“ entfuhr es ihr und sie starrte stur auf einen Fleck Tomatensoße am Küchenboden.
„Ich denke schon. Es war ja nur ein Glas.“
„Nicht, dass du einen Unfall baust.“
„Nein das geht schon. Ich fühle mich sehr gut und ich bin nicht mal angeheitert. Auch wenn ich selten Alkohol trinke, das wird schon gehen.“
Er leerte sein Glas innerhalb weniger Minuten und schlüpfte in seine Jacke. Catherine begleitete ihn zur Tür. Nachdem er seine Schuhe angezogen hatte drehte er sich noch einmal zu ihr und lächelte sie etwas traurig an. CatherineŽs Hand drohte sich in das Holz der Tür zu krallen, so fest umklammerte sie diese. Alles nur, weil sie nicht wollte, dass er ging. Wie gern hätte sie noch Zeit mit ihm verbracht, doch es schien aussichtslos.
Er griff nach ihrer anderen Hand und zog sie an sich heran.
„Es war ein wunderschöner Abend und wenn du möchtest, dann wiederholen wir ihn mal.“ Er hauchte ihr einen sanften Kuss auf die Wange und verabschiedete sich mit einem Lächeln von ihr. Ohne sich noch einmal um zu drehen sauste er die Treppen herunter und die Haustür fiel laut ins Schloss.
Catherine seufzte laut auf und warf die Tür zu. Weg war er. Sie fühlte sich eigenartig leer. Ihr war nach Weinen zu Mute, doch sie konnte dieses Gefühl in sich nicht beschreiben. Sie war traurig und gleichermaßen auch wütend. Wütend auf sich selbst, weil sie es nicht geschafft hatte, ein vernünftiges Gespräch mit ihm zu führen. Was musste er nur von ihr denken?

Vince schloss seinen Wagen auf und startete den Motor. Diesmal zickte er Gott sei Dank nicht herum und schnurrte gleich beim ersten Versuch leise auf. Seine Blicke schweiften noch einmal zu CatherineŽs Wohnung und kurz zuckte er zusammen, als er sie am Fenster entdeckte. Müde lächelte sie ihm zu und hob die Hand zu einem Winken. Auch ihm huschte ein kleines Grinsen über das Gesicht und er drückte kurz, aber herzhaft auf die Hupe, bevor er davon fuhr.
Die ganze Fahrt über dachte er nach. Sie wirkte enttäuscht, als er sagte, dass er gehen wolle. Gewissensbisse breiteten sich in ihm aus. Hatte er schon wieder etwas falsch gemacht? An einer roten Ampel stoppte er und blickte auf den Beifahrersitz. Auf ihm lag eine Packung Kondome und Vince legte lachend seinen Kopf auf das Lenkrad. Nun hatte er sich wegen diesen Dingern schon so verspätet, weil er extra an einer Tankstelle gehalten hatte, um sie zu kaufen und sie lagen die ganze Zeit im Auto. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er öffnete das Handschuhfach und feuerte sie hinein. Laut knallte er es wieder zu und schlug auf das Lenkrad.
„Scheiße.“ murmelte er vor sich hin. „Scheiße!!!“
Vor seinem Haus parkte er seinen Wagen und blieb noch ein wenig sitzen. Schließlich holte er die Kondome wieder aus dem Handschuhfach und eilte in seine Wohnung.
Gleich morgen früh müsste er Phil anrufen und sich wieder einmal Rat bei ihm holen. Warum war er auch so verklemmt? Es regte ihn auf und er hätte sich am liebsten selbst in den Hintern getreten. In seinem Bauch gurgelte es gewaltig. Ein furchtbares Gefühl, dass er nicht einordnen konnte. Er griff nach einer eingestaubten Flasche Whisky und schenkte sich einen Schluck in ein Glas. In einem Zug leerte er es, um seinen Magen zu betäuben und kroch schließlich unter seine kalte Bettdecke. Zwischen den einzelnen Streben seiner schwarzen Jalousie strahlte der Mond und blendete ihn regelrecht. Das alles ließ ihm keine Ruhe. Diese Frau ließ ihm keine Ruhe. Unentschlossen krabbelte er wieder aus dem Bett und schnappte sich sein Telefon. Wenn er Phil jetzt anrufen würde, gäbe es sicher mächtig Ärger, aber er konnte nicht schlafen.
Schließlich wählte er die Nummer seines Kumpels und legte sich zurück in sein Bett.

Linda rieb sich müde die Augen, als sie ihr Hotelzimmer erreichte. Sie hatte einen schrecklichen Tag hinter sich. Diese Japaner waren zwar nett, aber irgendwie auch so komisch. Ständig lachten sie und Linda kam sich manchmal total veralbert vor. Erschöpft fiel sie auf ihr Bett und schnaufte laut durch.
„Was für ein Tag!“ blies sie aus sich heraus und zog sich die Haarnadeln aus der Frisur. Sie blickte auf die Uhr. Es war gerade kurz nach zwei Nachmittags und leise rechnete sie die Zeit in ihrer Heimat aus.
„Kurz nach zwölf. Nachts.“ murmelte sie und blickte auf das Telefon. Eigentlich war es unverschämt, jetzt noch anzurufen, aber wenn man so allein war wie sie. Zwei Wochen musste sie noch durchhalten und sie war froh, dass sie Samstags nur bis eins arbeiten musste. Genau, wie heute. Sie griff nach dem Telefon und wählte CatherineŽs Nummer, die, zu ihrem Erstaunen, recht schnell am Apparat war.
„Du bist aber schnell dran.“ wunderte sich Linda und war andererseits erleichtert, dass sie sie noch erreicht hatte.
„Ja. Ich kann nicht schlafen.“
„Was ist los? Du klingst so traurig?“
„Ach Linda. Wenn ich dir das alles erzähle, sprengt das deine Kreditkarte.“
„Geht doch auf Kosten der Firma. Nun los, erzähl schon.“
„Es geht um Vince.“ begann sie und nahm das Telefon mit zur Couch, um es sich bequem zu machen. Sie klagte Linda ihr gesamtes Leid und am Ende war sie schon den Tränen nahe.
„Tja, und dann ist er gegangen.“
„Vince also.“ flüsterte Linda in die Muschel und rieb sich ihren schmerzenden Kopf. Warum ausgerechnet Vince?
„Hast du vielleicht eine Idee? Vielleicht bin ich ja zu aufdringlich. Ach ich weiß es doch selbst nicht.“
„Hör zu Cathy. Vince ist ein anderer Typ Mann, als Larry oder sonst wer. Ich habe mich ab und zu mal mit ihm getroffen und mich auch mit ihm unterhalten. Rein Freundschaftlich versteht sich. Er hat schon einige unschöne Erfahrungen gemacht, was Frauen und Beziehungen angeht. Er ist vorsichtig und öffnet sich nicht gleich. Das darfst du nicht persönlich nehmen.“
„Er macht auf mich aber nicht den Eindruck, als wäre er ein gebranntes Kind.“
„Ich kann dir auch nur sagen, was ich von ihm erfahren habe. Seine letzte Freundin hat ihn über Nacht wohl sitzen gelassen. Seit dem hat er keine andere Frau mehr an seiner Seite gehabt. Ist glaube ich vier Jahre her.“
Catherine runzelte die Stirn. Er war also schon vier Jahre lang allein. Wie hielt er das nur aus? Sie würde eingehen. Schon allein das Gefühl, dass da niemand auf einen wartet, wenn man nach Hause kommt, dass sich niemand um einen sorgt, wenn man krank ist, dass niemand daran Interesse hat sein Leben mit einem zu teilen. Catherine lief es kalt den Rücken herunter. Sie erlebte es doch selbst; mit Larry. Dieser Arsch! Wann hatte der sich eigentlich mal um sie gesorgt? Ihre Hand ballte sich zu einer Faust.
„Cathy? Bist du noch dran?“ fragte Linda verunsichert und drückte den Hörer an ihr Ohr.
„Ja, ich bin noch dran.“
„Lass dich nicht entmutigen. Vince taut sicher irgendwann auf.“
„Das hoffe ich.“
„Cathy, mal eine andere Frage. Was ist eigentlich mit Larry? Ich meine, wirst du dich scheiden lassen?“
„Ich? Mich scheiden lassen? Gott, du kannst Fragen stellen. Ich weiß es nicht. Ich weiß ja, dass er mich nicht mehr liebt. Er hat geglaubt, dass er mich mit einem `Ich weiß es nicht.Ž hinhalten kann, aber ich habe bereits verstanden. Nachdem er so ausgerastet ist, ist bei mir auch jedwede Lust vergangen. Ich habe ihm so oft eine zweite Chance gegeben. Würde ich es wieder tun, wäre es wohl die zehnte oder elfte.“
Catherine presste die angestaute Luft in ihren Lungen durch ihre Lippen und legte sich die Hand auf die Stirn.
„Cathy, trenne dich, bevor er dich mit nach unten zieht. Wer weiß, was da noch alles dran hängt. Vielleicht ist dieser Streit nur die Spitze des Eisberges gewesen.“
Catherine nickte und überlegte. Linda sagte es, Miriam sagte das und auch Vince hatte es bereits angedeutet. Eine Trennung war sicherlich das Beste. Aber so einfach, wie sich das alle vorstellten, war es nun mal nicht. Eine Scheidung kostete viel Geld und auch die Tatsache, dass Larry viel von seinem Geld mit in ihre Boutique gesteckt hatte, ließ Catherine vor dem Gedanken sich zu trennen zurück schrecken.
„Ich weiß, dass das sehr schwer ist, aber er macht dich kaputt. Ich war nie wirklich begeistert von ihm, das weißt du.“
„Ja ich weiß.“
Kurz schwiegen sie sich an und nur ein Knacken in der Leitung verriet dem jeweils anderen, dass sie noch dran waren.
„Wie geht es Julian? Ich hoffe, er ist artig?“
„Er ist zuckersüß. Und er ist lieb. Ich hatte bisher noch keinen Ärger.“
„Das hört sich doch gut an. Naja, ich denke, wir sollten erstmal Schluss machen. Ich melde mich heute Abend, beziehungsweise heute morgen bei euch nochmal. Dann kann er mich auch nochmal sprechen.“
„Sicher.“ Müde lächelte Catherine auf und drehte die Telefonstrippe um ihren Finger.
„Und wegen Vince solltest du dir nicht all zu viele Gedanken machen. Er ist eben etwas schüchtern. Vielleicht schiebt er auch Panik, weil du die Ältere bist.“
„Mag sein.“
„Lass den Kopf nicht hängen. Bis heute Abend oder eben heute früh.“ lachte Linde in den Hörer und beide legten auf.
Sicher hatte Linda Recht, mit dem, was sie sagte. Nicht alle Männer waren wie Larry. Schließlich war er ihr erster und einziger Mann in ihrem Leben gewesen. Larry hatte damals nichts anbrennen lassen. Vince hingegen war ganz anders und Catherine musste sich erstmal auf ihn einstellen. Sie machte sich bettfertig und schlüpfte unter ihre Decke.

„Ich fasse es nicht! Und du gehst einfach, obwohl du siehst, dass sie traurig ist? Mensch Vince, du Hirnie!“
„Ich bin eben anders, als du.“
„Allerdings!“ maulte Phil in den Hörer, merkbar gereizt, dass sein Freund ihn mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt hatte.
„Was soll ich denn jetzt machen?“
„Was soll ich denn jetzt machen?“ miemte Phil ihn weinerlich nach und schnaufte laut ins Telefon. „Du wartest am Besten bis Montag. Wenn sie den Jungen vom Kindergarten abholt, versuchst du es eben erneut.“
„Was versuche ich?“
„Na dich mit ihr zu treffen! Mensch Vince.“ Phil entfuhr ein undefinierbarer Seufzer und sein Freund erahnte, dass er sich in einen seiner Ratansessel nieder gelassen hatte. Ein Feuerzeug klickte im Hintergrund und Vince schob seine Augenbrauen zusammen. Phil konnte manchmal echt ekelhaft zu ihm sein.
Vince richtete sich in seinem Bett auf und wickelte die Decke um seine kalten Beine.
„Ich weiß doch gar nicht, was ich ihr sagen soll.“
„Oh nein, fang nicht wieder damit an. Das Thema haben wir bereits tausend Mal durchgekaut und mir vergeht langsam wirklich die Lust darauf.“
Angestrengt spielte Vince die Situation in seinem Kopf durch. Doch egal, wie er es drehte und wendete, es kam ihm albern vor. Vielleicht würde sie ihn ja auch noch einmal einladen. Dann würde er zusagen und die Sache wäre geritzt.
„Phil, ich muss auflegen.“
„Alles ok bei dir?“
„Ja, ja. Passt schon.“ flötete er geknickt ins Telefon.
„Hey, wenn ich dich so anmaule, dann nicht, um dich damit zu kränken, das weißt du hoffentlich.“
Vince schluckte traurig und nickte.
„Ja!“ rief er noch kurz, als ihm einfiel, dass Phil ihn ja nicht sehen konnte.
„Also dann, gute Nacht. Und wenn es etwas Neues gibt...“
„...dann melde ich mich, schon klar. Gute Nacht.“
Vince legte das Telefon aus der Hand und legte sich wieder hin. Er kniff die Augen zu und versuchte zu schlafen. Nach einer halben Stunde gab er es auf und schaltete seinen Radiowecker ein.
„... aus der New Yorker Chillout Szene. Viel Spaß damit und eine angenehme Nacht.“ hauchte der Moderator in sein Mikro und leise Musik begann zu spielen. Vince hörte aufmerksam zu und schloss wieder die Augen, als ihn plötzlich ein Geistesblitz durchfuhr. Er hatte ja wohl etwas, über das er mit ihr reden konnte! Sein Herz raste und seine Lippen verzogen sich zu einem beruhigten Lächeln.

Es war noch nicht ganz acht Uhr, als Julian in CatherineŽs Bett krabbelte und seine eiskalten Füße gegen ihre Beine drückte. Verschreckt riss sie die Augen auf, hob den Kopf aus ihrem Kissen und blickte ihn an.
„Julian?!“ entfuhr es ihr geschockt und sie ließ ihr Gesicht wieder ins Kissen fallen. „Warum bist du denn schon wach?“
„Gehen wir auf den Spielplatz?“
„Was denn? Jetzt?“
Mitleidig nickte er ihr zu.
„Nein, das ist noch viel zu früh. Es ist noch nicht mal richtig hell. Wie spät ist das überhaupt?“
Sie kämpfte sich durch ihre Bettdecke zum Wecker und seufzte müde auf, als sie die Uhrzeit sah.
„Aber ich bin nicht mehr müde.“
„Julian, versuch noch etwas zu schlafen ja?“
Sie drehte sich auf die Seite und schloss von Neuem die Augen, doch der Junge zupfte an ihrem Nachthemd herum und ließ ihr keine Ruhe.
„Also gut, du hast gewonnen.“
Sie warf die Decke zurück und stand auf.
„Julian, zieh deine Hausschuhe an. Ich lasse dir Badewasser ein und dann gibt es erstmal Frühstück, ja?“
„Muss ich denn unbedingt baden?“
„Allerdings!“ entgegnete sie ihm bestimmt und ließ Wasser in die Wanne laufen. Nachdem sie Julian hinein gesetzt hatte, bereitete sie das Frühstück zu. Rührei mit Schinken und frische Brötchen. Etwas besseres konnte es am Samstag Morgen doch gar nicht geben. Heimlich naschte Catherine ein wenig und stellte dann alles auf den Esstisch.
„Tante!“ rief Julian schließlich und sie eilte ins Badezimmer, um ihn abzutrocknen und ihm beim Anziehen zu helfen, als das Telefon plötzlich klingelte.
„Geh ruhig dran, Julian. Das müsste deine Mutter sein.“
Aufgeregt rannte der zum Apparat und nahm ab. Catherine beobachtete Julian und seine leuchtenden Augen, als er die Stimme seiner Mutter vernahm. Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen und schließlich kam er nach ein paar Minuten mit dem Hörer in der Hand auf sie zu und überreichte ihn.
„Darf ich schon essen?“
„Sicher, iss, sonst ist es ja kalt. Hallo?“
„Catherine! Ich bin es nochmal, Linda.“
„Ja, das dachte ich mir schon.“
„Hast es wohl am Klingeln erkannt, was?“
„So in Etwa.“ lachte sie und wickelte die Telefonstrippe um ihren Finger.
„Wie hast du geschlafen?“
„Naja, nicht besonders lang. Julian hat mich heute morgen mit seinen kalten Füßen aus dem Schlaf gerissen.“
„Oha! Ja, das macht er bei mir auch ständig.“
„Naja, war nicht so schlimm, ich lebe ja noch.“
„Wenigstens hörst du dich heute wieder etwas besser an. Ich hatte mir die Nacht über echt Sorgen um dich gemacht.“
„Das musst du aber nicht.“
„Ich habe es mir nicht ausgesucht, Cathy.“
„Ja, das weiß ich doch.“
„Was wollt ihr denn heute noch schönes machen?“
„Vielleicht gehen wir noch auf den Spielplatz, wenn Julian aufhört, mit dem Ei zu kleckern.“
Ertappt drehte er sich zu seiner Tante und machte eine entschuldigende Geste. Catherine lachte kurz auf und widmete sich wieder dem Gespräch.
„Ich hoffe, er macht dir nicht zu großen Ärger?“
„Nein gar nicht. Wie gesagt, er ist sehr unkompliziert.“
„Das freut mich. Dann will ich auch nicht länger stören, sonst ist dein Ei bald kalt.“
„Wir hören uns wieder, Linda.“
„MachŽs gut.“
„Du auch.“
Catherine ließ den Hörer auf die Gabel des Telefons sinken und blickte zu Julian. Der gab sich größte Mühe, nicht noch mehr zu kleckern und stopfte sich das Ei in den Mund.
„Na? Schmeckt es dir?“
„Lecker!“ strahlte er sie mit etlichen Brötchenkrümeln im Mundwinkel an. Nachdem sie gefrühstückt hatten, machten sie sich um kurz nach neun auf den Weg zum Spielplatz. Sie wählte den gleichen Spielplatz, wie Vince damals, denn hier kannte sie sich wenigstens etwas aus. Während Julian über die Schaukel herfiel, beobachtete Catherine die Leute in der Umgebung. Viel war im Park noch nicht los. Vereinzelt spazierten ein paar ältere Paare über die Wege und ein Jogger kam ihr entgegen. Neben ihm ein Hund, der dem Mann hechelnd folgte. Ihre Blicke schweiften weiter. Durch die kahlen Büsche konnte sie auf die angrenzende Straße blicken. Ein paar Autos überquerten die kleine Kreuzung, aber sonst. Catherine vergrub ihre Hände in ihren Manteltaschen und blickte wieder zu Julian.
„Guck mal Tante! Wie hoch ich schon bin!“
„Pass aber auf, dass du nicht herunter fällst. Halt dich schön fest!“
„Jaha!“ rief er ihr lachend zu und gab noch mehr Schwung.
„Blöde Kiste!“ hörte sie jemanden von der Straße aus fluchen und sofort war ihre Aufmerksamkeit auf den Schreihals gerichtet. Ihr Herz begann zu stolpern, als sie erkannte, dass es Vince war, der nun auch noch gegen einen Reifen seines Wagens trat. Sofort stand sie auf und war im Begriff zu ihm zu laufen, doch sie überlegte etwas zu lange und verlor ihn wieder aus den Augen. Suchend graste sie die ganze Straße ab, doch sie blieb erfolglos und sank enttäuscht auf die Bank zurück. Julian stürmte auf sie zu und blickte sie mit großen Augen an.
„Hier Tante! Für dich.“
Er hielt ihr seine Hand entgegen und nun konnte sie auch wieder lachen. Er hatte ein Schneeglöckchen gefunden und es sofort gepflückt, um es ihr zu schenken.
„Das ist aber lieb von dir, danke.“
Sie nahm es ihm aus der Hand und drehte es in ihren Fingern immer wieder hin und her. Julian hingegen stürzte wieder zurück auf den Spielplatz und kletterte an einem der Gerüste hoch.

Immer noch sauer, wegen seinem Auto stieg Vince in den Aufzug und fuhr in die vierte Etage des Hauses. Die Lifttüren öffneten sich und ihm stieg bereits der Duft von Duschbad in die Nase. In den Umkleiden des FitnessstudioŽs zog er sich um und lief zielstrebig zum Stepper. Dieses Gerät war einfach das Beste, um sich aufzuwärmen. Der Boden musste frisch gebohnert worden sein, denn er glänzte und reflektierte das Licht, dass durch die wandhohen Fenster fiel. Während er sich auf dem Stepper abstrampelte, schweifte sein Blick auf den Spielplatz. Kurz hielt er inne, trat aber dann fleißig weiter. Es war eher unwahrscheinlich, dass diese Frau dort unten Catherine war, auch wenn sie ihr sehr ähnelte. Gott, war er denn total verrückt? Jede Frau assoziierte er mit ihr. Er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, sodass eine Schweißperlen zu Boden tropften.
Es ließ ihm keine Ruhe und seine Blicke hafteten an den beiden Gestalten dort unten. Schließlich seufzte er kurz auf und ergab sich seiner Neugier. Er stieg vom Stepper und stellte sich direkt ans Fenster. Diese Frau mit dem langen Mantel, dem Pferdeschwanz, die Hände auf dem Schoß. Sollte sie das wirklich sein? Und dieses Kind. Die Sachen des Kindes kamen ihm schon ein wenig bekannt vor. Nach einer Weile hatte er seine Hände gegen das Fenster gelehnt und seine Atemluft ließ es stetig beschlagen.
„Hey Sie da!“ rief eine weibliche Stimme und er drehte sich um. „Die Fenster wurden gestern erst geputzt, ich muss Sie bitten, sich nicht dagegen zu lehnen und zu hauchen. Das gibt Flecke.“
„Entschuldigung.“ Er machte einen Schritt von den Scheiben weg und wandte sich wieder dem Spielplatz zu, doch die beiden Gestalten waren verschwunden. Enttäuscht stieg er wieder auf den Stepper und trainierte weiter. Aber Halt! Wieso war er so enttäuscht? Was hatte er gehofft, zu erkennen? Catherine vielleicht? Und was hätte er getan, wenn sie es tatsächlich gewesen wäre? Wäre er dann so verschwitzt, wie er bereits war zu ihr gelaufen? Wie albern. Wieder schüttelte er den Kopf und lauschte der lauten Musik, die ihm ans Ohr hallte.

Catherine und Julian schlenderten Hand in Hand durch den Park und immer wieder blickte sie zur Straße, in der Hoffnung, sie würde Vince doch noch einmal entdecken. Aber vielleicht hatte sie sich auch nur verguckt und er war es gar nicht gewesen? Sollte sie sich so geirrt haben? Julian bemerkte schnell, dass Catherine geistig abwesend war und zerrte an ihrer Hand herum.
„Was denn?“ entgegnete sie ihm schon fast geflüstert und schaffte es sogar ihren Blick kurz von der Straße abzuwenden.
„Du bist so leise.“ bemerkte Julian und blickte sie fragend an.
„Ich denke nur etwas nach.“
„Wegen mir?“
„Nein, nicht wegen dir.“
„An was denkst du?“
„Ach, ich überlege nur, was wir zum Mittag essen wollen.“
„Kommt Vince auch?“
Catherine blieb abruppt stehen und überlegte angestrengt.
„Nein, ich denke nicht.“
„Schade.“ Bestimmt zog Julian an ihrer Hand und sie liefen weiter in Richtung ihres Wagens. Ja, es war tatsächlich schade. Wie sollte sie das Wochenende nur überleben? Es war gerade mal Samstag Morgen und ihr stand auch noch der Sonntag bevor. Innerlich fiel sie von einer Ohnmacht in die nächste. Schließlich erreichten sie CatherineŽs Auto und stiegen ein. Absichtlich fuhr sie noch einmal durch die Straße, in der Sie Vince meinte gesehen zu haben und suchte nach seinem Corsa, doch sie konnte ihn nicht entdecken und so gab sie Gas und bog in eine andere Straße ein.
Nur ein paar Sekunden später verließ Vince das Fitnessstudio und fluchte erneut, über diesen Idioten, der sich dreist in die zweite Reihe vor seinen Wagen gestellt hatte.

„Aber ich würde viel lieber noch etwas länger hier bleiben. Es ist so schön und es ist warm, nicht so kalt, wie zu Hause.“
„Ich weiß, Larry, aber es geht nicht. Ich muss bald wieder arbeiten und kann froh sein, wenn mein Chef nicht merkt, dass ich so braun bin.“
„Sag ihm, dass du im Solarium warst, weil das gut gegen Krankheit ist.“
„Och Larry, ich bitte dich!“ Sie verschränkte die Arme und blickte ihn skeptisch an. Das hatte er doch nicht allen Ernstes wirklich so gemeint?
„Außerdem haben wir doch noch Zeit bis Dienstag.“ versuchte sie ihn wieder aufzumuntern und lächelte ihn zärtlich an.
„Hier hör mal.“ Ihre liebevolle Geste war ihm vollkommen entgangen. „`Suchen ab sofort Schriftsteller in der Rubrik Krimi und Thriller. Heimarbeit möglich. Bezahlung nach Vereinbarung.Ž Das klingt doch gut! Findest du nicht?“
„Allerdings. Steht da auch, welcher Verlag?“ Sie beugte sich über seine Schulter und blickte auf die Stellenanzeige, die er mit dem Kugelschreiber dick umrahmt hatte. „Christopher Cantz!“ rief sie verzückt und klatschte in die Hände.
„Klingt wirklich gut, nicht?“
„Und wie! Der Verlag ist doch hervorragend für dich geeignet.“
„Ich denke auch. Ich werde gleich am Dienstag eine Bewerbung schreiben.“
„Warum erst am Dienstag? Schnapp dir deinen Laptop und fang an. Diesen Job wollen bestimmt tausend andere auch haben.“
„Du hast Recht!“
Larry sprang vom Küchenstuhl auf und setzte sich sofort an seine Bewerbung. Diesmal musste es einfach klappen.

Das Wochenende zog sich wie Kaugummi und Catherine wäre beinah daran eingegangen, doch endlich klingelte ihr Wecker und sie schlug voller Vorfreude die Augen auf.
„Endlich!“ flüsterte sie in ihr Kissen und sprang aus dem Bett. Sie war hellwach und das, obwohl sie noch nicht einen Tropfen ihres heiß geliebten KaffeeŽs am Morgen getrunken hatte. Sie weckte Julian und bereitete sich schnell einen zu. Mit nassen Händen und wahnsinnigem Bauchkribbeln fuhr sie Julian zum Kindergarten und stieg aus. Hand in Hand betraten sie das Gebäude und zielstrebig ging sie auf das Spielzimmer zu. Sie war eigentlich viel zu früh dran, es war noch stockduster draußen und es herrschte eine gruselige Stille im Haus und doch, ihre Vorfreude war ungemein groß. Bis zu dem Moment, als sie durch die offen stehende Tür blickte und Vince mit einer anderen Frau entdeckte. Er saß auf seinem Stuhl, sie kniete vor ihm und weinte. Schlagartig packte sie Julian und drückte ihm ihre Hand auf den Mund. Mit der anderen Hand legte sie ihren Finger auf den Mund. Es war nicht richtig, was sie tat, doch sie musste wissen, wer sie war und was sie von ihm wollte.
„Lynn, pass auf. Wir haben das schon so oft besprochen und ich habe jedesmal nein gesagt. An meiner Entscheidung ändert sich nichts.“
„Aber Vince, hör mir doch zu, es tut mir Leid und ich will es wieder gut machen.“
„Du willst es wieder gut machen?“ Ironisch lachte Vince auf und wollte aufstehen, doch Lynn drückte ihn zurück auf den Stuhl und küsste ihn auf den Mund. Verschreckt presste nun auch Catherine sich die Hand auf den Mund und hielt die Luft an. Ein stechender Schmerz durchbohrte sie. Sie wusste sofort was es war. Eifersucht! Es war unmenschlich große Eifersucht.
„Mach das nie wieder!“ rief Vince und stieß Lynn von sich weg. Geknickt blickte die ihn an und stand auf. Sie war groß und schlank, hatte leicht gelockte, blonde Haare und ein hübsches, fast noch jugendliches Gesicht. Innerlich tobte Catherine bereits und sie würde gleich in dieses Zimmer stürmen, um ihrer Rivalin die Augen auskratzen, wenn sie nicht von Vince ablassen würde.
„Du hast dich nicht verändert, Vince. Du bist noch genau, wie damals. Vielleicht ist es ganz gut, dass du mir keine Chance mehr gibst.“
Sie ordnete ihre langen Haare neu und blickte auf ihn herab. Catherine vernahm eine Art schluchzen und war schon drauf und dran für ihn ihr Schwert zu ziehen.
„Naja, heul du nur. Ich gehe.“ hörte sie Lynn sagen und packte Julian, um in den neben ihr liegenden Raum zu flüchten. Lynn durfte sie nicht entdecken. Und Vince durfte nicht merken, dass Catherine sie belauscht hatte. Sie schaffte es gerade noch, die Tür zu schließen, als Lynn schon an dem Zimmer vorbei lief und verschwand.
Was machte sie da eigentlich? Es war doch sowieso zwecklos, sich zu verstecken. Julian würde es doch ohnehin ausplaudern. Endlich nahm sie ihre Hand von seinem Mund und er blickte sie fragend an.
„Es tut mir Leid Julian.“
Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie wimmerte kurz auf.
„Warum weinst du?“ flüsterte er ihr zu, als ob er ahnen würde, dass er leise sein müsste.
„Ich bin nur ein bisschen traurig.“
„Warum?“
Catherine zuckte mit den Schultern und rief sich zur Ordnung. Vor dem Jungen zu weinen machte es auch nicht besser und es war sicherlich am Schlausten, Vince gleich die Wahrheit zu sagen. Sie warteten noch, bis sich CatherineŽs Augen wieder etwas trockener anfühlten und gingen dann zu ihm ins Spielzimmer. Er saß noch immer auf dem Stuhl und schob mit dem Fuß einen Brummkreisel hin und her.
„Vince?“ flüsterte Catherine vorsichtig und sofort sprang er auf und legte sein `Ich habe immer gute LauneŽ Miene auf.
„Guten Morgen ihr zwei. Wie war das Wochenende?“
„Es ging.“ presste sie heraus und blickte ihn unterwürfig an. „Können wir reden?“
„Sicher.“ etwas irritiert starrte er sie an, doch sein Blick verlor sich, als auch Maria den Kindergarten betrat. So war zumindest Julian etwas abgelenkt. Aus dem Nebenzimmer holte Vince einen zweiten Stuhl und er nahm neben Catherine Platz.
„Ich will mich entschuldigen.“ stammelte Catherine vor sich hin.
„Wofür?“
„Ich habe dich gerade eben belauscht.“ knallte sie ihm an den Kopf und ihm stockte kurz der Atem.
„Oh.“ entfuhr es ihm trocken und seine Hände suchten instinktiv nach etwas, mit dem sie spielen konnten. An einer Kordel seines Pullis wurden sie schließlich fündig und er stierte schweigend auf den Boden.
„Weiß du, Lynn ist...“
„Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen.“
„Schon...“
„Es geht mich ja auch nichts an.“
„Ja, aber...“
„Es war unverschämt von mir, dich zu...“
„Catherine!“ rief er laut auf und die sie blickte ihn genau so entsetzt an, wie die Kinder. „Entschuldige, aber das musste sein. Ich weiß, dass ich mich nicht rechtfertigen müsste, aber ich möchte es.“
Catherine schluckte und nickte ihm schweigend zu.
„Lynn und ich waren einmal ein Paar. Nicht lange, nur ein oder zwei Monate. Sehr idyllisch war es mit ihr aber nicht, deshalb gingen wir wieder getrennte Wege. Ich sage das nur, um irgendwelchen Missverständnissen vorzubeugen.“
„Sie hat dich geküsst.“ presste Catherine beinahe trotzig aus sich heraus und wagte es nicht, ihm in die Augen zu sehen.
„Ja.“ bekam sie zur Antwort und glücklich klang er dabei nicht. Trotzdem wäre es ihr lieber gewesen, wenn er sich darüber aufgeregt hätte. Er hätte sagen sollen, dass es schrecklich war oder ekelhaft, aber er sagte nur `JaŽ, mehr nicht. Nun blickte sie ihn doch kurz an und bemerkte, dass seine Tränen seine hellblonden Wimpern zusammengeklebt hatten. Ein kurzes gequältes Lächeln huschte über ihre Lippen und sie senkte wieder den Kopf.
Sie war so kindisch! Wäre sie laut polternd in das Zimmer geplatzt, wäre es nie so weit gekommen, aber nein, sie musste ja unbedingt lauschen. Schwer seufzte sie auf und erhob sich von ihrem Stuhl.
„Ich hole Julian wie gewohnt ab.“ flüsterte sie ihm zu und machte Kehrt, als sie seine Hand an ihrer fühlte. Vince stand auf und blickte sie mitleidig an.
„Hat dieser Morgen irgendetwas zwischen uns verändert?“
„Wie meinst du das?“
„Naja, hat er irgendetwas kaputt gemacht?“
„Kaputt?“ hakte sie noch einmal nach und wandte sich ihm wieder zu.
„Ich tue mich immer so schwer, wenn es um Frauen geht. Also ich meine, wenn ich irgendwie komisch bin, dir gegenüber, dann mache ich das nicht absichtlich. Ich weiß nur manchmal nicht, was ich machen oder sagen soll. Ich habe mich am Freitag noch sehr über mich selbst geärgert. Das kannst du dir gar nicht vorstellen.“
Beide sanken auf die Stühle zurück und Catherine blickte ihn verständnisvoll an.
„Ich weiß, was du meinst, mir ging es ähnlich.“
„Weißt du, ich habe die ganze Zeit überlegt, was ich dir erzählen konnte, aber ich hatte einen riesigen Kloß im Hals. Der wollte da nicht weg. Ich wollte ihn nicht.“
Catherine musste kurz lachen und strich ihm mit dem Daumen über den Handrücken.
„Du kannst so niedlich sein.“ hauchte sie ihm entgegen und knallte ihre Hand vor den Mund. Hatte sie ihm das jetzt wirklich gesagt? Sein Gesicht rötete sich und er bekam wieder diese roten Punkte auf den Wangen und am Hals. Sie musste es gesagt haben. Oh Gott.
„Naja, eigentlich möchte ich nicht wie ein süßes Kätzchen wirken. Aber vielleicht hast du ja doch noch Lust mit mir wieder mal was zu machen. Ich würde mich jedenfalls freuen.“
Erleichtert blickte sie ihn an.
„Ich würde mich auch freuen.“
„Dann telefonieren wir heute Abend mal wegen einem Termin. Ich habe meinen Planer nicht mit, deshalb kann ich dir jetzt nichts genaueres sagen.“
„Gut, ok. Wir telefonieren. Soll ich dich anrufen?“
„Nein. Ich melde mich bei dir.“
„Gut.“ strahlte sie ihm entgegen und verabschiedete sich von ihm und Julian.
Im Auto schaltete sie das Radio an und kreischte jeden erdenklichen Song, der gespielt wurde, mit. Ihr Herz machte regelrechte Luftsprünge und sie musste fast weinen. Er war ja so niedlich gewesen. Nicht, dass er das sonst nicht auch war, aber gerade eben hatte er alles getoppt. Sie parkte ihren Wagen vor dem Haus, lief unter der noch immer kaputten Laterne der MillerŽs entlang und stürmte in die Wohnung. Nachdem sie sich ein Bad eingelassen hatte, legte sie noch eine Gesichtskur auf und tauchte in das warme Wasser.

Vince war den ganzen Tag lang wie ausgewechselt. Er grinste und kicherte die ganze Zeit vor sich hin und seine gute Laune ließ sich durch nichts erschüttern. Nicht mal, als eines der Kinder mitten im Spielzimmer sein kleines Geschäft verrichtete. Mit einem Lachen im Gesicht kroch er über den Fußboden und wischte es wieder auf. Alles kein Problem, wenn einem das Herz vor Freude bis zum Hals schlug und das Glück einen beflügelte. Catherine erreichte auch heute pünktlich den Kindergarten und holte Julian ab. Sie stand in der Tür und lauschte wieder, wie Vince den Kindern etwas vor sang.
„Hallo Vince.“ hauchte sie ihm gegen das Ohr, nachdem sie sich heimlich von hinten an ihn heran geschlichen hatte und sofort stellten sich seine Nackenhaare auf.
„Hallo Catherine.“ strahlte er sie mit seinen wunderschönen Augen an. Auch sie hatte den Tag heute sehr glücklich verbracht, denn das Gespräch am Morgen tat ihnen gut. Endlich hatten sie den Stein ein bisschen ins Rollen gebracht.
„Ich rufe dich dann nachher an.“ sagte er atemlos und blickte ihr noch etwas nach, als sie mit Julian aus der Tür ging.

„Ich habe bereits mehrmals versucht, dich zu Hause zu erreichen. Leider hatte ich immer Pech. Sobald du diese Nachricht erhalten hast, bitte ich um Rückruf. Und zwar, so schnell, wie möglich. Guten Tag.“
„Ende der Nachricht. Zum Erneuten Anhören der Nachricht drücken Sie die...“
Madeleine drückte auf den roten Knopf und presste ängstlich das Handy an ihre Lippen. Wie schrecklich. Und was für ein Ton.
„Alles in Ordnung, Liebes?“
„Nichts ist in Ordnung, Larry. Mein Chef hat mir auf die Mailbox gesprochen und er klang nicht sehr angetan. Ich glaube, wenn ich wieder auf Arbeit komme, kann ich mich frisch machen. Er hat wohl schon öfter versucht, mich anzurufen.“
„Wieso das denn? Du hast einen Schein abgegeben und gut. Er kann dir gar nichts.“
„Trotzdem. Er klang echt sauer und er meinte, ich solle mich sofort melden, wenn ich die Nachricht erhalten habe.“
„Dann lügst du ihn eben an. Sag ihm, dass du bei deiner Mutter warst oder was weiß ich.“
„Ich kann nicht lügen und das weißt du.“
„Dann solltest du es schnell lernen.“
Sie zog ihre Augenbrauen zusammen und blickte aus dem Fenster. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie musste verrückt gewesen sein, als sie ihrem Chef den Schein in die Hand gedrückt hatte. Und jetzt war er sauer und das zu Recht. Sie war eine lausige Lügnerin und er würde sie sofort entlarven. Angst machte sich in ihr breit und sie überkam ein ungutes Gefühl. Sie fühlte sich schuldig und grub ihre Zähne in die Unterlippe.
„Vielleicht wäre es besser, wenn wir heute schon abreisen.“
„Und dann?“
„Dann gehe ich morgen wieder auf Arbeit.“
„Du spinnst. Den einen Tag wird er auch ohne dich noch auskommen. Stell dich nicht so an.“
„Larry du verstehst das nicht. Wenn mein Chef erstmal sauer ist, dann knallt es und zwar richtig. Darauf habe ich keine Lust. Ich reise schon heute ab. Mach du, was du für richtig hältst.“
Sie stürmte ins Schlafzimmer und packte ihre Sachen. Argwöhnisch betrachtete Larry das Schauspiel und stellte sich ihr schließlich in den Weg.
„Lass uns noch etwas hier bleiben. Ist doch nur noch bis morgen.“
„Nein, Larry. Ich werde fahren.“
„Du kommst doch erst heute Nacht nach Hause. Willst du dann so übermüdet zur Arbeit gehen?“
„Dann wirke ich wenigstens ein bisschen kränklich und nun steh mir bitte nicht im Weg.“
„Ich will, dass du bleibst!“ Larry erhöhte allmählich die Lautstärke, doch Madeleine ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie schob ihn sanft, aber bestimmt an die Seite und packte weiter ihre Sachen.
„Hör mir endlich zu!“ schrie er sie plötzlich an und sie blickte zu ihm auf.
„Ich will, dass du bleibst. Aus, Ende!“
„Wie redest du denn mit mir?“ strafend blickte sie ihn an.
„Wenn es auf normalem Weg nicht geht.“
„Ich rufe gleich den Sicherheitsdienst. Geh mir endlich aus dem Weg oder willst du, dass ich wegen unserem Techtelmechtel meinen Job verliere?“
„Techtelmechtel?“ wiederholte Larry gereizt und packte ihren Arm. „Ich dachte, es wäre dir Ernst?!“
„Das ist es auch, bis zu dem Punkt, an dem du mir weh tust. Dann wird es nämlich aus sein. Und glaube mir, du befindest dich fast am Ziel!“ schrie sie zurück und seine Hand löste sich von ihrem Arm.
„Gut, du hast gewonnen.“
Maulend und murrend packte auch er seine Sachen und warf Madeleine ab und zu ein paar enttäuschte Blicke zu.

VinceŽ Hände waren klatschnass, als er nach dem Hörer griff und CatherineŽs Nummer wählte. Bereits nach dem ersten Klingeln hob sie ab.
„Hallo?“
„Catherine?“
„Vince!“ sang sie in die Muschel und machte eine Siegesfaust.
„Ja, also. Ich rufe an wegen, naja, dem Termin, also, na du weißt schon.“
„Ja ich weiß. Und? Hast du einen schönen Tag finden können?“
„Ja es war nicht ganz einfach, weil ich doch schon recht verplant bin.“ Er blickte auf seinen gähnend leeren Terminkalender und schmunzelte. „Wie wäre es mit morgen Abend?“
„Oh! Doch schon so zeitig?“ fragte sie etwas irritiert und gleichermaßen erfreut.
„Passt es dir da nicht?“ Er wollte doch tough sein und doch warf ihre Frage ihn total aus der Bahn und er wurde unsicher.
„Doch, sicher. Schön, dann also morgen Abend. Hast du schon eine Idee, was wir machen wollen?“
„Nein, aber bis morgen fällt mir sicher etwas ein.“ er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. Er hatte sich doch schon die ganze Zeit überlegt, was er mit ihr machen konnte und ihm war nichts eingefallen. Was sollte da jetzt noch groß kommen? Er war aber auch zu doof.
„Ich mache mir auch noch mal Gedanken. All zu spät darf es ja eh nicht werden, wegen Julian.“
„Eben und ich muss auch arbeiten.“
„So ist es. Dann sagen wir also morgen um acht?“
Vince schluckte und blickte auf die Uhr. Heute hatte er sich gezwungen, erst gegen fünf bei ihr anzurufen, obwohl er schon wesentlich eher zu Hause war. Um acht erschien ihm eigentlich zu spät. Dann würde sie ja gegen zehn spätestens schon wieder gehen.
„Oder sagen wir fünf, das ist dann nicht so spät. Julian quängelt sonst, wenn er müde wird.“
„Fünf hört sich doch gut an.“ entgegnete er ihr glücklich.
„Gut, dann also um fünf. Wo, besprechen wir morgen im Kindergarten.“
„Ist gut, bis dann.“
„Bis dann Vince. Einen schönen Abend dir noch und schlaf schön.“
„Du auch.“ hauchte er noch schnell in den Hörer und legte schließlich auf. Überwältigt darüber, dass er es geschafft hatte, sie anzurufen und keinen Mist zu erzählen und gleichermaßen fast ohnmächtig über die Tatsache, dass ihm bis morgen etwas einfallen musste, was er mit ihr unternehmen konnte, wählte er PhilŽs Nummer blind ein. Der war auch prompt am Telefon und blies die Backen auf.
„Na? Was ist es diesmal? Was hast du jetzt wieder angestellt?“
„Kannst du vorbei kommen?“
„So schlimm? Naja, gib mir zwanzig Minuten. Ich komme rum.“
Ohne ihn zu korrigieren, legte Vince wieder auf und nahm auf seinem Sofa Platz. Wie versteinert starrte er auf den Fernseher und nach eine knappen halben Stunde stand sein Freund vor der Tür. Er klingelte wie immer Sturm und lehnte seinen Arm gegen den Türrahmen, als Vince ihm öffnete.
„Na? Wie geht?s dir?“
„Gut, komm rein.“
Sie setzten sich beide in das Wohnzimmer und Phil blickte ihn besorgt an.
„Du wirkst, als wäre dir eine Laus über die Leber gelaufen. Erzähl schon, was ist los?“
„Ach, Lynn war heute morgen mal wieder da und Catherine hat es mitbekommen.“
„Ach du Schande.“
Phil schälte sich aus seiner Jacke heraus und fuhr sich durch seine schwarzen, stoppeligen Haare.
„Und? Hat sie großen Ärger gemacht? Also Catherine?“
„Nein, gar nicht. Sie hat sich gleich entschuldigt, dass sie es mit angehört hatte.“
„Und jetzt will sie Abstand?“
„Nein, wir haben uns für morgen verabredet.“
„Aber das klingt doch phantastisch! Warum ziehst du so eine Miene?“
„Phil, ich weiß mal wieder nicht, was ich machen soll. Ich habe ihr gesagt, dass ich mir bis morgen überlege, was wir unternehmen wollen. Mir fällt aber nichts ein. Außerdem ist da noch Julian. Wir können ihn ja nicht einfach abschieben.“
„So kinderfeindlich ist die Stadt doch gar nicht? Geht eben essen und dann zu dir oder zu ihr oder was weiß ich?“
„Ich kann doch nicht ständig nur mit ihr essen gehen.“
„Warum nicht?“
„Nein, das wird doch langweilig.“
„Dann geht in eine Bar etwas trinken.“
„Und Julian?“
„Ach ja richtig.“ Phil rieb sich die Augen und dachte angestrengt nach. Was würde er wohl in dieser Situation machen?
„Hat sie keine Freundin, die den Jungen mal eben nimmt?“
„Soll ich sie jetzt anrufen und ihr sagen, dass Julian im Weg ist oder wie?“
„Hast ja Recht. Man! Ich muss rauchen, um nachdenken zu können. Kommst du mit auf den Balkon?“
„Sicher.“
Ihnen wehte der kalte Wind um die Ohren, doch beide hatten ein ganz anderes Problem, dass es zu bewältigen galt. Sie grübelten, bis die Köpfe qualmten und als Phil seine Zigarette fast schon zu Ende geraucht hatte, kam ihm ein Geistesblitz.
„Geht schwimmen.“
„Schwimmen?“
„Ja sicher. Hier ist doch ein großes Hallenbad mit Kinderbecken und Rutsche und dem ganzen Mist.“
„Also ich weiß nicht.“
„Ruf sie an und frag. Mehr als nein sagen kann sie eh nicht.“
„Frauen wollen doch nie schwimmen gehen. Ihnen ist das Wasser doch eh immer zu kalt.“
„Na um so besser. Schleif sie in den Whirlpool, da ist es schön warm.“
„Und was ist mit Julian?“
„Der wird sich doch auch ein bisschen allein beschäftigen können? Außerdem wird er dort nicht das einzige Kind sein. Der findet bestimmt schnell jemanden zum Spielen.“
„Also ich weiß nicht.“

„Ja, wir haben uns wieder verabredet! Ich bin so glücklich!“
„Das glaube ich dir.“ Miriam lachte in den Hörer und strich sich mit der Hand am Nacken entlang.
„Mal sehen, was er sich einfallen lässt.“
„Du musst es mir unbedingt erzählen, sobald du wieder zu Hause bist.“
„Das mache ich, versprochen. Naja, ich bringe Julian jetzt ins Bett und mache mich dann auch fertig. Ich bin müde, habe den ganzen Tag nur die Wohnung geputzt.“
„Als ob es bei dir jemals dreckig ist.“
„Ach, du kennst mich doch.“
„Ja eben.“
Beide lachten und verabschiedeten sich. Nachdem Julian eingeschlafen war, schlenderte Catherine ins Schlafzimmer und zog die Schubladen ihres Kleiderschrankes auf. Sie überflog die Berge an Unterwäsche und legte sich etwas passendes heraus. So musste sie morgens nicht erst übermüdet danach suchen. Schließlich kuschelte sie sich in ihr Bett und schlief ein.

Um ein Uhr Nachts schloss Larry die Wohnungstür auf und warf seine Reisetasche wütend in sein Zimmer. Die ganze Wohnung war dunkel und ruhig, aber was hatte er auch erwartet? Catherine schlief sicher und auch Julian lag sicher schon lange im Bett und beide hatten ihn auch nicht kommen hören. Er runzelte die Stirn und nahm sich aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier. In wenigen Zügen leerte er sie und blickte aus dem Küchenfenster, so wie es seine Frau immer tat, wenn sie sich mit ihm gestritten hatte. Auf dem Heimweg hatte er seine Bewerbung noch in den Briefkasten gesteckt und hoffte nun, dass der Verlag an ihm Interesse hatte. Er stellte die leere Flasche neben den Mülleimer und verschwand in seinem Zimmer. Sollte der Verlag sich melden, wollte man sicher auch ein paar Kostproben seines Geschicks haben und so fuhr er den Rechner hoch, um gleich mit der Arbeit zu beginnen.

Catherine schlug die Augen auf und blickte verschlafen auf den Wecker.
„Kurz nach halb neun!“ entfuhr es ihr spitz und sie saß sofort senkrecht im Bett. Wieso musste sie auch immer verschlafen?! Sie eilte zu Julian und weckte auch ihn. Während der sich anzog, würgte sie ihren viel zu heißen Kaffee herunter und stellte die leere Tasse in das Spülbecken. Nachdem beide angezogen waren, liefen sie hastig zum Auto und fuhren zum Kindergarten. Vollkommen außer Atem und mit zerzausten Haaren öffnete Catherine die Tür zum Spielzimmer und entließ Julian zu seinen Freunden. Suchend sah sie sich um und entdeckte Vince, dem ein kurzes Lächeln durch das Gesicht huschte.
„Zu spät.“ lachte er ihr entgegen und kam auf sie zu.
„Och ja, ich weiß. Manno! Ich verstehe das gar nicht. Normalerweise bin ich nicht so unzuverlässig.“
„Ist ja nicht schlimm.“
„Doch, ich finde schon.“
„Du hast dich ja beeilt.“ bemerkte er und deutete auf ihre Haare, die noch immer wild von ihrem Kopf abstanden.
„Dafür war keine Zeit mehr.“ trotzte sie ihm etwas verletzt zurück und wandte den Blick von ihm ab.
„Wollen wir vielleicht noch einen Kaffee zusammen trinken? Es sind noch nicht alle Kinder da, so chaotisch dürfte es also nicht werden.“
„Sehr gern.“
Er half ihr aus dem Mantel und hängte ihn an die Garderobe, wo auch seine Jacke hing.
Nachdem sie sich auf den Boden gesetzt hatten und jeder eine Tasse Kaffee in der Hand hielt, blickte er sie erwartungsvoll an.
„Weißt du denn schon, was wir heute machen wollen?“
„Naja.“ murmelte Vince und strich sich verlegen über den Nacken. „Ich würde gern mit euch beiden ins Hallenbad gehen. Natürlich nur, wenn du auch Lust dazu hast!“
„Schwimmen?“
Er blickte sie fragend an und erkannte erste Zweifel.
„Ich habe gar keinen Badeanzug.“ Catherine runzelte die Stirn.
„Dann sollten wir das wohl lieber lassen.“
„Kommt ja gar nicht in die Tüte! Ich habe immerhin den ganzen Tag Zeit mir einen zu kaufen. Julian hole ich dann auch noch eine Badehose. Das wird bestimmt lustig.“
„Also gehen wir schwimmen?“
„Sicher.“ strahlte sie ihn an und er fühlte die aufsteigende Hitze in seinem Bauch. Sie hatte tatsächlich Ja gesagt, Phil du Genie!
„Ich habe meine Badesachen schon mit. Ich hatte gehofft, dass du zusagen würdest.“
„Das trifft sich doch gut. Dann gehen wir direkt nach deiner Arbeit ins Hallenbad und vertrödeln nicht so viel Zeit.“
Catherine trank eilig ihren Kaffee und stand wieder auf.
„Du kannst es wohl gar nicht erwarten, endlich von hier zu verschwinden, was?“ schmunzelte er ihr zu und erhob sich ebenfalls.
„Nein. Ich muss aber doch den Badeanzug kaufen. Ich brauche seelischen Beistand und gute Beratung und muss meine Freundin noch anrufen. Ich darf keine Zeit verlieren.“
„Naja.“ verlegen wischte er mit dem Fuß über den Boden. „Wenn du keinen Badeanzug findest, nimmst du eben einen Bikini.“
„Ich? In einem Bikini? Du willst wohl, dass alle aus der Halle flüchten!“
„Was? Nein, ich...“
Doch Catherine drehte sich schon lachend um und verließ das Zimmer, um ihren Mantel zu holen. Sicher war er ihr zu nahe getreten und er musste sich entschuldigen, also eilte er ihr nach. Mitten in der Tür stießen sie zusammen und blickten sich für ein paar Sekunden an.
Die Luft war geladen. Positiv und negativ zogen sich an, wie ein Magnet, doch Catherine schaltete den Strom ab und löste ihren Blick von seinem.
„Bis nachher.“ hauchte sie noch mit roten Wangen und lief eilig aus dem Kindergarten.
Vince betastete sein Gesicht. Es glühte vor Hitze und sicher war er wieder total gefleckt. Wie nervig und peinlich!

Catherine hingegen hatte es gar nicht bemerkt und saß schon mit dem Telefon am Ohr im Auto. Sie war mehr damit beschäftigt, sich über ihre Röte zu ärgern und sie musste unbedingt Miriam erreichen. Sie war ausgeflippt, modebewusst und ehrlich. Sie würde ihr schon sagen, wenn sie in dem Badeanzug aussah, wie eine Presswurst.
Nach etlichen Anläufen nahm die auch endlich ab und gähnte müde in den Hörer.
„Gut, dass ich dich erreiche. Ich bin in knapp zehn Minuten da. Zieh dich an, wir müssen shoppen.“
„Was ist? Bist du bekloppt? Ich muss schlafen, bin total müde.“
„Müde? Spinnst du? Es ist gleich zehn! Mach hin, es ist ein Notfall!“
„Notfall? Was soll denn so dringend sein?“
„Vince will mit mir schwimmen gehen und ich brauche einen Badeanzug.“
„Bademode?! Ich steh gleich unten!“ kreischte sie noch freudig und schmiss den Hörer auf die Gabel, sodass es bei Catherine laut krachte.
Nachdem sie ihre Freundin eingesammelt hatte, fuhren sie in die Stadt.
„Du willst also wirklich mit ihm ins Hallenbad? Respekt. Ich dachte, du würdest da nie wieder hin gehen, nachdem Larry dich da so blamiert hat.“
„Das ist doch schon Jahre her.“
„Und selbst wenn. Du hast damals selbst gesagt, dass du nie wieder schwimmen gehen wirst.“
„Ich habe es mir eben anders überlegt.“ trotzte sie zurück und drückte auf das Gaspedal. Sie hatten nur knapp vier Stunden Zeit und es galt alle möglichen Läden zu durchforsten.

Den ganzen Tag über lobte Vince sich selbst dafür, dass er seine Badesachen vorsichtshalber mitgenommen hatte. Sie lagen in seinem Auto er blickte ständig auf die Uhr. Als um kurz nach drei ein Auto mit quietschenden Reifen vor dem Kindergarten Halt machte, schlug sein Herz wild in seiner Brust. Das musste sie sein. Er sprang auf und zog Julian seine Jacke an.
„Freust du dich auf das Bad?“
„Und wie!“ grinste er ihn an und setzte seine Mütze auf.
„Hallo ihr zwei!“ rief sie in den Kindergarten hinein. „Ich bin da!“
„Wir kommen!“ rief Julian und nahm Vince an die Hand, nachdem er sich seine Jacke über die Schultern geworfen hatte. Eilig lief er zu seinem Wagen und holte die Tasche mit den Badesachen, denn wie beim letzten Mal würden sie auch heute wieder CatherineŽs Auto nehmen.
„Hast du denn etwas Schönes finden können?“
„Ich denke schon. Aber wenn es nach meiner Freundin gegangen wäre, hätte ich einen String anziehen sollen.“ lachte sie ihm entgegen und startete den Motor.
„Ist diese Freundin denn so freizügig?“
„Manchmal schon. Du kennst sie, es die Frau, die Julian genommen hatte, als wir zu Mittag gegessen haben.“
„Ach die.“ erinnerte er sich.
„Ja genau.“
Nach einer kurzen Fahrt hielten sie auf dem Parkplatz des WaterphantasieŽs und stiegen aus. Schon an den Umkleidekabinen drängten sich die Menschen und Julian stampfte laut motzend mit dem Fuß auf den Boden.
„Du kannst doch auch mit mir mitkommen?“ Catherine blickte ihn fragend an, doch der Junge verschränkte die Arme und presste mit aller Kraft ein paar Tränen in seine Augen.
„Ich bin aber ein Mann und muss mit Vince zusammen gehen.“
„Meine Herren, nun stell dich doch nicht so an!“
Sie nahm seine Hand und zog ihn zu den Damenumkleiden, doch Julian kreischte, so laut er konnte und sie ließ ihn wieder los.
„Dann kommt er eben mit mir mit. Das geht schon in Ordnung.“
„Gut ok. Warte.“
Sie wühlte in ihrem Rucksack herum und drückte Vince die Tüte mit JulianŽs Badesachen in die Hand.
„Dann bis gleich. Und du beruhigst dich wieder Julian, sonst fahren wir gleich wieder nach Hause. Klaro?“
„Ja.“ maulte er und umfasste VinceŽ Hand.
Catherine drückte gegen die Tür der Umkleiden und sofort stieg ihr der Geruch von Chlor in die Nase und eine drückende Hitze umgab sie. Nach einer endlosen Suche ergatterte sie eine freie Einzelkabine und schlüpfte aus ihren Sachen in das neu gekaufte Stück. Sie holte tief Luft und blickte an sich herunter. Die nächsten Stunden hieß es Bauch einziehen. Wie unangenehm. Sie band ihre langen Haare zu einem Dutt und verstaute ihre Sachen in einem Spind. Den Schlüssel band sie sich um das Handgelenk und machte sich auf die Suche nach den Duschen. Es hatte sich so vieles verändert, seit sie das letzte Mal da gewesen war. Damals war sie mit Larry, Miriam, Linda und ein paar anderen Freunden hier her gekommen und an diesem Tag hatte sie geschworen, nie wieder hier her zurück zu kehren. Larry hatte ihr vor allen Leuten das Bikinioberteil weggerissen und sie musste oben ohne in die Umkleide flüchten. Ein unangenehmer Schauer fuhr ihr den Rücken herunter und sie verschränkte die Arme vo
r ihrem Bauch. Eine ältere Dame mit Badekappe kam auf sie zu und sie stoppte kurz.
„Entschuldigen Sie, aber wissen Sie, wo hier die Duschen sind?“
„Ja sicher. Gleich dort hinten. Die Glastür dort!“
Sie folgte ihrem Finger und entdeckte eine milchige Tür.
„Vielen Dank.“
Schnell lief sie weiter, denn sie wollte die beiden nicht so lange warten lassen. Deshalb benetzte sie sich nur etwas mit dem kalten Wasser der Duschen und öffnete mit klappernden Zähnen die Schwingtür zu den Schwimmhallen. Wie erwartet waren Vince und Julian schon fertig und warteten mehr oder weniger geduldig auf sie. Vince sah umwerfend aus. Er hatte nicht gelogen, als er ihr gesagt hatte, dass er im Fitnessstudio trainiert, denn sein Bauch war ein straffes Sixpack und auf seinen Oberarmen zeichneten sich deutlich die Muskeln ab. Catherine wich wieder etwas zurück. Eigentlich hatte sie gar keine Lust mehr zu schwimmen und würde lieber wieder gehen, doch hinter ihr standen bereits zwei Mädchen und halfen ihr mit einem, wenn auch beherzten, unhöflichen Schubser auf die Sprünge.

Die Schwingtür der Damendusche war noch nicht ganz offen, als er Catherine in ihrem umwerfenden schwarzen Monokini entdeckte, der seitlich am Bauch weit ausgeschnitten war und viel von ihrer Haut preisgab. Sein Herz überschlug sich gleich und es regte sich etwas, das hier keinesfalls hingehörte. Er packte Julian an den Schultern und schob ihn vor sich und seinen Schoß, der sich gerade selbstständig zu machen schien. Julian war gerade groß genug, um mit seinem Kopf das peinliche Eklat in VinceŽ Schritt zu verdecken. Er betete zu Gott, dass sie es nicht bemerkte, machte sich aber gleichzeitig noch Gedanken darüber, wie er dieses „Ding“ da unten wieder los würde.
`GeflügelleberŽ ging es ihm durch den Kopf und der Ekel ließ seine Nackenhaare zu Berge stehen. Prüfend blickte er wieder an sich herunter. `Gott sei Dank.Ž
„Da bist du ja endlich!“ rief Julian und riss sich von Vince los. „Los! Lass uns schwimmen!“
„Ja, ja.“ rief Catherine ihm zu und winkte mit der Hand ab. Vince folgte den Beiden zum Plantschbecken und nahm neben Catherine auf einer Liege Platz, während Julian im Wasser herum tobte.
„Bist du ok? Du guckst so geknickt?“
„Nein, alles in Ordnung. Ich war nur etwas entsetzt, als ich dich gesehen habe.“
„Was?!“ Flecken! Überall diese furchtbaren Flecken in seinem Gesicht! Er spürte es genau, seine Wangen wurden heiß. Sie hatte ihn also gesehen. IHN!
„Naja, ich hatte gehofft mit meinem Badeanzug gegen dich anstinken zu können, aber dein trainierter Körper lässt mich ziemlich alt aussehen.“ lachte sie vor sich hin und blickte auf ihre Zehen, mit denen sie fortwährend wackelte.
Mit einem erleichterten Schlucken löste sich der riesige Kloß in seinem Hals und er blickte sie an. Sie hatte gar nicht zu ihm aufgeblickt, hatte seine Röte also nicht bemerkt. Gut!
„Du siehst hinreißend aus, Catherine.“
„Findest du?“
Sie umfasste mit dem linken Arm ihren rechten Ellenbogen und blickte beschämt zu ihm auf.
„Weißt du, ich war schon mal hier. Mit Freunden und meinem jetzigen Mann. Larry hatte mir damals das Bikinioberteil vom Leib gerissen und ich hasste ihn so dafür. Alle haben sie gelacht und gepfiffen. Ich hatte ihnen geschworen, niemals wieder her zu kommen.“
Vince lächelte sie verständnisvoll an.
„Ich habe meinen Schwur gebrochen.“ fügte sie lachend hinzu und stand auf. „Komm. Lass uns irgendwas verrücktes machen.“
„Was hast du vor?“
„Keine Ahnung. Lass uns vom Fünfer springen oder rutschen, mir egal.“
„Und was ist mit Julian? Wir können ihn doch nicht hier allein lassen?“
Catherine blickte etwas geknickt zu dem Jungen, der sich bereits mit zwei anderen angefreundet hatte.
„Julian? Vince und ich wollen rutschen, kommst du mit?“
„Nein. Ich möchte hier bleiben.“
Catherine biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte doch mal etwas ganz verrücktes machen und nun sollte Julian der Grund sein, warum sie es nicht machen konnte? Nein, das konnte es nicht sein. Sie blickte sich suchend um und entdeckte einen älteren Herren, der die beiden anderen Jungen im Auge zu haben schien. Zielstrebig ging sie auf ihn zu.
„Gehören Sie zu den beiden Jungs dort?“ und ihr Finger zeigte auf die Gruppe.
„Ja. Warum fragen Sie?“
„Könnten Sie vielleicht auch kurz auf meinen Jungen aufpassen? Ich wäre auch gleich wieder da?“
„Tut mir Leid, aber wir wollen gleich los. Sonst gern, aber wie gesagt...“
„Ja schon gut. Danke trotzdem.“
Catherine lief zurück zu Vince und schüttelte enttäuscht den Kopf.
„Er kann nicht aufpassen.“ fügte sie dem traurigen Gesicht hinzu und senkte den Kopf noch weiter.
„Dann nehmen wir ihn eben mit. Ob er will oder nicht.“
Vince nahm Julian an die Hand und zog ihn aus dem Plantschbecken. Mit lautem Gebrüll und Protest folgte er ihm und dicke Tränen kullerten aus seinen Augen.
„Julian, hör mal. Willst du denn gar nicht in der großen Rutsche rutschen? Guck mal da oben! Da geht?s los.“
Vince kniete sich neben ihn und zeigte auf sein Ziel.
„Da oben? Wirklich?“ schluchzte er ihm entgegen und er nickte eifrig. „Na gut.“
Julian wischte sich die Tränen aus den Augen und Vince winkte Catherine zu sich. Sie erklommen die unendlich vielen Stufen und standen schließlich am Eingang der Rutsche. Eine riesige Röhre offenbarte sich ihnen und Catherine vergrub ihre Zähne in ihrer Unterlippe. Hoffentlich hatte sie damit nicht zu viel gewollt. Sie war noch nie in so einer Rutsche gerutscht und die Tatsache, dass man ihnen nun auch noch große Reifen in die Hand drückte, machte die Situation für sie nicht angenehmer.
„Ist alles ok?“ fragte Vince und ließ ihr den Vortritt.
„Ziemlich hoch, was?“
„Ach was Tante!“ versuchte Julian sie wieder zu ermutigen. Vom Heulkrampf war nichts weiter geblieben, als seine leicht geröteten Augen, doch diese strahlten nun wieder vor Freude.
Sie nickte beiden zu und setzte sich auf den großen Reifen. Kaum hatte sie Platz genommen, sprang die Ampel auf grün und ein Angestellter des Spaßbades gab ihr einen heftigen Anschub. In einer rasenden Geschwindigkeit verschwand sie in der Röhre und kniff die Augen zusammen. Sie hätte doch lieber unten warten sollen. In ihrem Bauch kribbelte es ganz schrecklich und die ständigen Kurven und Richtungswechsel bekamen ihr überhaupt nicht. Ein kurzer, entsetzter Schrei entwich ihr noch und die Leuchtdioden, die von allen Seiten her zu ihr glitzerten, rasten an ihr vorbei.
„Wie alt ist der Junge denn? Kann er überhaupt schwimmen?“
„Ich bin doch bei ihm.“
„Kinder unter sechs dürfen gar nicht rutschen.“ maulte der Angestellte genervt und musterte Julian von oben bis unten.
„Julian ist sechs. Vor einer Woche geworden.“ log Vince und blickte nun genau so musternd zu dem Angestellte zurück.
„Aha.“ Der Mann runzelte die Stirn, wohl wissend, dass Julian nie und nimmer sechs war. „Sie übernehmen die Verantwortung, wenn etwas passiert. Und noch ein Tipp: Um halb sechs öffnet die Spielgruppe. Bringen Sie den Jungen doch dort hin und genießen Sie so lange die ganzen Sachen, wo er eigentlich nicht mitmachen darf.“
Vince warf dem Angestellten noch einen bösen Blick zu und sah nachdenklich zurück zu Julian. Der hatte von dem Gespräch nichts mitbekommen und blickte durch die Verglasung nach unten, um zu kontrollieren, ob Catherine bereits angekommen war.
„Komm Julian, wir sind die nächsten.“
„Oh prima!“
Vince nahm auf dem Reifen Platz und setzte Julian auf seinen Schoß. Der Junge lachte laut auf und klatschte in die Hände.
„Halt dich gut an mir fest und egal, was passiert, lass mich nicht los, klar?“
„Klar!“
„Gut.“
Die Ampel sprang auf grün und der Angestellte gab den beiden laut murrend einen kräftigen Schubs.

Mit einer riesigen Wasserfontaine schoss Catherine aus der Röhre, gefolgt von ihrem Reifen, den sie bereits nach der zweiten Kurve verloren hatte. Ihre Haare flogen wild durcheinander und hatten sich aus ihrem Zopf gelöst. Geschockt und vollkommen durch den Wind kämpfte sie sich zum Ausgang des Beckens. Um sie herum die Jugendlichen, die laut grölend und pfeifend alle Ankömmlinge begrüßten. Catherine richtete ihren Monokini neu und blickte sich etwas irritiert um. War sie wirklich von dort oben herunter gerutscht? Sie konnte es selbst nicht fassen, blieb stehen und blickte nach oben, zum Start.
„Hey du da! Raus aus dem Becken, bist du durchgeknallt?!“ rief einer der Jugendlichen und war schon im Begriff sie aus der Auslaufbahn zu ziehen, als Vince bereits mit dem laut kreischenden Julian angerast kam und sie frontal erwischte. Der Reifen riss ihr die Beine weg und mit einem lauten Klatschen landete sie wieder im Becken. Wasser lief ihr brennend in die Nase und Tränen schossen ihr in die Augen.
Vince hingegen hatte von dem Ganzen zunächst nichts mitbekommen und setzte Julian am Beckenrand ab. Der Junge lachte und klatschte wieder belustigt in die Hände.
„Lass uns nochmal rutschen, Vince. Bitte!“
„Gleich, jetzt suchen wir erstmal...“
„Hey! Du hast sie umgeraucht!“ brüllte einer der Jugendlichen und zeigte auf Catherine, die sich gerade wieder aufrappelte. Sein Blick riss sich sofort nach ihr um und er kämpfte sich durch das hüfthohe Wasser.
„Catherine?!“
Doch die röchelte und hustete nur und schüttelte immer wieder den Kopf.
„Hast du dir weh getan? Sag doch was?“
„Wasser...“ röchelte sie ihm entgegen und hielt sich die Nase zu.
„Hast du Wasser in die Nase bekommen?“
Sie nickte.
„Gut, warte. Julian! Bleib da stehen, klar?“
„Ja.“ rief er und blickte beide fragend an. Ihm war nicht klar, wo das Problem lag, aber wenn Vince fragte, ob etwas klar ist, dann meinte er es Ernst und so blieb er stehen, wo er abgesetzt wurde. Die Jugendlichen hingegen gröhlten laut weiter und hingen vor Lachen schon über der Absperrung.
„Und ihr haltet jetzt mal alle samt die Klappe, sonst sorge ich dafür, dass ihr heute nichts mehr zu Lachen habt. Ist das angekommen?!“
Vince tobte und funkelte alle wild an.
„Spießer!“ rief einer und die Gruppe zog ab. Vince hingegen nahm Catherine und hob sie aus dem Wasser. Vorwurfsvoll blickte er sich um und suchte nach einer Möglichkeit sie hin zulegen. Das hatte er ja wieder mal toll gemacht, wirklich. Auch die Tatsache, dass er ja nicht ahnen konnte, dass Catherine am Fuße der Rutsche einfach stehen bleiben würde, tröstete ihn nicht darüber hinweg. Er war sauer, sauer auf sich selbst und sein Blick strich ihr durch das Gesicht, am Hals entlang und in das Dekolleté, dass ziemlich viel Haut zeigte. Als wolle er sie über die Schwelle seines Hauses tragen, stieg er mit ihr aus dem Becken und brachte sie zu einer der unzähligen Liegen, die er auserkoren hatte. Nachdem er auch Julian geholt hatte, setzte er sich neben sie und strich ihr über den Rücken.
„Ist alles in Ordnung? Hast du dir weh getan?“
Catherine winkte kurz ab und versuchte sich neu zu ordnen. Das Wasser, wovon sie reichlich in die Nase bekommen hatte, war endlich wieder heraus gewürgt und sie blinzelte zu Vince. Der warf ihr besorgte Blicke zu und hatte die Stirn fragend in Falten gelegt.
„Alles ok.“ lächelte sie ihm entgegen.
Ein erleichterte Seufzer entfuhr ihm und er lehnte sich etwas zurück.
„Du kannst doch nicht einfach vor der Rutsche stehen bleiben, Catherine. Ich habe mir wahnsinnige Sorgen um die gemacht.“
„Echt?“ fragte sie etwas verschreckt und sah ihm direkt in die Augen, die langsam wieder begannen zu strahlen.
„Ja echt.“
„Das tut mir Leid.“ lächelte sie ihm entgegen und senkte den Kopf. Er hatte sich also um sie gesorgt. Wie schön. Er hatte sich wirklich Sorgen gemacht, um SIE!
„Vielleicht sollten wir die Sache etwas ruhiger angehen. Um halb sechs beginnt die Spielrunde. Wollen wir Julian dort hin bringen?“
„Woher weißt du das?“
„Hat mir der Typ oben an der Rutsche gesagt. Julian! Was hältst du davon?“
„Spielrunde?“ wiederholte er und legte seinen Kopf etwas schief.
„Ja, wie im Kindergarten. Das machen wir das doch auch?“
„Ist Maria auch da?“
„Nein, leider nicht. Aber dafür sind da bestimmt viele andere Kinder.“
„Also gut.“

Nachdem sie Julian zur Spielgruppe gebracht hatten, führte Vince Catherine zu den Chillout-Anlagen, des Bades. Hier war es ruhig und leise Musik drang an ihre Ohren. Sie stiegen in einen der vielen WhirlpoolŽs und schlossen die Augen.
„Hier ist es doch noch am Schönsten.“ hauchte Vince ihr entgegen und sank bis zu den Lippen ins Wasser ein. Unzählige Luftblasen strömten an seinem Körper vorbei und bliesen langsam seine Badehose auf, bis ihm ein kurzer Lacher entfuhr.
„Was ist? Warum kicherst du so?“
„Meine Hose!“ lachte er weiter und richtete sich etwas auf.
„Stimmt damit etwas nicht?“
„Sie ist voller Luft!“
Catherine versuchte durch das verwirbelte Wasser etwas zu erkennen, doch so sehr sie sich auch anstrengte, mehr als die Umrisse seiner Hose vermochte sie nicht zu sehen. Vince drückte die Hose an seine Beine und einige große Luftblasen strömten an die Oberfläche.
„Du Ferkel!“ kicherte Catherine ihm entgegen und machte sich bereits auf die Flucht vor ihm. Vince stieg sofort auf dieses Spiel ein und folgte ihr. Nicht ohne Strafe ließ er sich von ihr als ein Ferkel betiteln und so jagten sie im Kreis durch den Pool. CatherineŽs Wangen röteten sich, denn das Wasser hatte warme neununddreißig Grad und sie spürte, wie sie langsam begann zu schwitzen. Der Schweiß perlte an ihrer Stirn herab und sie wischte mit dem Handrücken durch ihr Gesicht.
„Wir sollten vielleicht wo anders weiter machen, sonst versagt mein Kreislauf.“
„Ist dir schwindelig?“
„Noch nicht.“
Er nahm ihre Hand und zog sie an sich heran, um mit ihr das Becken zu verlassen. Es wartete noch so viel auf sie und er musste ihr einfach alles zeigen. Julian war schließlich die nächsten zwei Stunden beschäftigt und so mussten sie sich keine Gedanken um ihn machen.
Ein schlechtes Gewissen hatte Vince wegen dem kleinen schon, aber andererseits genoss er die freie Zeit, die er mit Catherine verbringen durfte, sehr. Natürlich war er mit Leib und Seele Kindergärtner, aber den ganzen Tag lang, das war etwas zu viel des Guten. Hand in Hand liefen sie durch das Bad und Vince schämte sich schon ein wenig dafür. Nicht wegen Catherine oder weil sie älter war, als er, nein. Es war vielmehr dieses schreckliche Kribbeln in seinem Bauch, dass er einfach nicht wieder los wurde. Egal was er tat, es kribbelte und die Tatsache, dass er CatherineŽs Hand in seiner fühlte, ließ dieses Gefühl fast überschwappen.

Catherine eilte Vince hinterher und ihre Blicke krallten sich an seine Hand, die ihre fest umschlungen hielt. Hatte er eigentlich gemerkt, dass er sie an der Hand hinter sich her zog? Ihre Lippen begannen zu lächeln und sie achtete darauf, was die anderen Menschen im Bad für Reaktionen zeigten. Niemand der Anwesenden blickte sie komisch an oder machte den Anschein etwas hinter ihren Rücken tuscheln zu wollen. Ein wohliger Schauer durchfuhr sie und wieder raste ihr Blick zurück auf seine Hand. Sie musste etwas schneller laufen, denn sein Griff löste sich fast und es sollte, wenn es nach ihr ging noch Stunden, wenn nicht Tage so weiter gehen. Doch Vince erreichte das Ziel ihrer Meinung nach viel zu schnell und seine Hand rutschte langsam aber sicher aus ihrer.
„Na? Wie wäre es damit?“
Sie folgte seinem Finger und erblickte ein Becken, dass zu einem drittel überdacht war und zu zwei drittel unter freiem Himmel lag.
„Ist das nicht zu kalt?“
„Dann schwitzen wir nicht so schnell.“ grinste er sie breit an und sprang Kopf über in das kühle Nass. Etwas zaghaft und wesentlich zurückhaltender folgte Catherine ihm und benetzte ihren Körper mit dem spürbar kälteren Wasser. Vince machte sich einen Spaß daraus sich wie ein Hai an sie heran zu pirschen und dann aus dem Wasser zu springen. Es war aber auch zu lustig, wie Catherine immer wieder die Arme in die Luft warf, um sich vor kalten Spritzern zu schützen, dabei machte sie damit mehr Wellen als er.
Wenn sie wüsste, was er unter Wasser so alles trieb. Kaum war er unter der Oberfläche verschwunden öffnete er seine Augen und suchte nach ihren Beinen. Ohne Taucherbrille war die Sicht verschwommen und dennoch gut genug, um etwas zu erkennen. Erst schwamm er von ihr weg, um dann unter Wasser zu ihr zu tauchen und genau vor ihren Beinen aus dem Wasser zu springen.
Catherine beobachtete alles und kicherte leise auf, wenn er sich näherte. Das Becken war von unten beleuchtet und nur all zu gut wusste sie, wann er wieder herausspringen würde, wie ein wild gewordener Delphin. Als er wieder von ihr weg schwamm, nutzte sie die kurze Pause, um unter zu tauchen, damit sie sich endlich an das kalte Wasser gewöhnte. Vince hingegen startete bereits seinen nächsten Angriff und erschrak sich fast zu Tode, als er ihr Dekolleté direkt vor seinem Gesicht entdeckte. Tausende Luftblasen entwichen aus seinem Mund und er tauchte prustend auf. Sofort drehte er sich beschämt ab und tauchte wieder unter. Hoffentlich hatte sie es nicht gemerkt. Er hielt es für das Beste im Außenbereich zu verschwinden und Catherine verlor ihn aus den Augen.
„Vince?“ rief sie etwas ratlos und drehte sich etwas, um das leere Becken ab zu suchen. Doch er blieb verschwunden und so traute sie sich auch nach draußen. Sie schob die dicken Gummilappen, die den Ausgang verschlossen an die Seite und sah sich weiter um. Von der Wasseroberfläche stiegen dicke Dampfwolken in die kalte Abendluft und erschwerten ihr die Suche.
„Vince?“ piepste sie wieder und ruderte mit den Armen im Wasser herum.
„Hier!“ hörte sie ihn fast flüstern und folgte der Stimme. Das Becken verwinkelte sich etwas und in einer der unzähligen Ecken hatte es sich Vince im hüfthohen Wasser bequem gemacht.
„Da bist du ja.“ entgegnete sie ihm erleichtert und nahm neben ihm auf der kleinen Anhöhe des Beckens Platz. „Ich habe dich gesucht. Was war denn los? Haust einfach ab. Sag das nächste Mal Bescheid, ja?“
„Tut mir Leid.“ murmelte er vor sich hin und blickte auf seine Zehenspitzen, die aus dem Wasser ragten.
„Na, nun lass den Kopf nicht so hängen.“
Er presste sich ein Lächeln auf den Mund und nach ein paar Sekunden wagte er es auch wieder ihr ins Gesicht zu sehen. Sie schien von seinem Missgeschick nichts bemerkt zu haben und innerlich stürzten Tonnen von Steinen in die Tiefe, die zuvor sein Herz so schwer gemacht hatten.
„Weißt du, manchmal denke ich, dass wir uns schon seit Jahren kennen.“ Catherine sank bis zum Hals ins Wasser ein und lehnte ihren Kopf an den Beckenrand. „Dabei kennen wir uns eine gute Woche. Außerdem weiß ich fast nichts über dich.“
„Mir geht es bei dir doch nicht anders.“
„Ja, ich weiß. Trotzdem finde ich es merkwürdig.“
„Merkwürdig?“ wiederholte er etwas zurückhaltend.
„Naja. Ich meine, ich bin älter als du. Ist doch merkwürdig, dass du mit mir alten Schachtel etwas privat unternimmst. Und das, wo ich doch verheiratet bin.“
„Das macht dich doch nicht zu einem schlechten Menschen? Außerdem von einer alten Schachtel bist du Lichtjahre entfernt.“
„Danke, aber ich habe einen Spiegel zu Hause. Ich weiß wohl, dass ich nicht mehr aussehe, wie achtzehn.“
„Das wäre auch nicht passend.“
Sie wagte einen seitlichen Blick zu ihm, doch Vince stierte weiter auf seine Zehenspitzen.
„Wieso wäre das nicht passend?“ bohrte sie weiter und sah nun ebenfalls auf seine Füße.
„Weil du so wie du aussiehst, hübsch genug bist.“
Catherine entfuhr ein geschmeichelter Lacher und sie schloss die Augen.
„Man kann niemals hübsch genug sein Vince.“
„Soll das jetzt eine Fangfrage werden? In so etwas bin ich schlecht. Ich verhasple mich meistens in irgendwelchen konfusen Sachen, aus denen ich nicht wieder heraus finde.“
CatherineŽs Lippen begannen zu zittern und auf ihren Armen bildete sich eine Gänsehaut. Sie musste sich bewegen oder sie würde erfrieren, doch dann musste sie das Gespräch beenden und das war das Letzte, was sie wollte.
„Vince, sei ehrlich. Wieso triffst du dich mit mir?“
Ein verschrecktes Schlucken und das Aufreißen seiner Augen vermittelten ihr, dass sie etwas gefragt hatte, dass sie lieber hätte lassen sollen, doch nun war es raus und er war ihr eine Antwort auf ihre Frage schuldig. Sie versuchte ruhig und gelassen zu wirken, dabei tobte in ihrem Inneren eine Sturmflut, die sich zu einem Tsunami entwickeln würde, wenn er ihr etwas antworten würde, was sie vielleicht gar nicht hören wollte. Warum hatte sie ihn überhaupt gefragt, wenn sie doch solche Angst vor einer ehrlichen Antwort hatte?
„Ich...“ begann er und brach sofort wieder ab. Vince musste sich sammeln und eine gute Antwort finden. `Nett ist der kleine Bruder von Scheiße!Ž ging es ihm durch den Kopf und er versuchte das verhängnisvolle Wort aus seinem Gedächtnis zu löschen, um es ihr nicht wieder an den Kopf zu knallen.
„Vergiss es. Ist eine bescheuerte Frage.“ lenkte Catherine schließlich ein und tauchte mit den Lippen unter Wasser, um einige Luftblasen aufsteigen zu lassen.
„Weil es schön ist.“ flüsterte er knapp über die Wasseroberfläche und stierte wieder seine Zehenspitzen an.
Catherine blickte zu ihm herüber und setzte sich aufrecht neben ihn, sodass ihre Schultern an der kalten Luft waren. Auch Vince schob sich ein Stück aus dem Wasser und seine verlegenen Blicke und seine roten Wangen wurden deutlich sichtbar.
„Tut mir Leid. Manchmal rede ich dummen Scheiß.“
Ein Lächeln huschte durch sein Gesicht. Hatte sie eben dummen Scheiß gesagt? Diese Frau? Die immer darauf erpicht war, die Contenance zu wahren und niemals negativ aufzufallen? Die Frau, die für den ihm entstandenen Schaden selbstverständlich aufkommen würde? Sein Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen.
„Ich fand die Frage gar nicht so dumm.“ versuchte er sie etwas zu trösten und stieß sich sanft vom Rand ab, um in die Mitte des Beckens zu treiben.
„Schon, aber naja. Ist ja auch egal.“
Er vernahm ein verschwommenes Geräusch und identifizierte ihre Stimme, doch seine Ohren waren unter Wasser und wäre es wirklich wichtig, würde sie ihm schon ein Zeichen geben.
„Warum triffst du dich mit mir?“ fragte er, das Gesicht in die Sterne blickend und den Körper auf der Wasseroberfläche treibend. Wieder vernahm er ein hallendes, verschwommenes Geräusch und mutmaßte, dass sie ihm geantwortet hatte, also stellte er sich in das Becken und blickte zu ihr.
„Wie war das? Ich hab dich nicht verstanden.“
„Du hast schon verstanden, was ich gesagt habe.“ Etwas gekränkt blickte sie ihn an.
„Nein, wirklich nicht. Meine Ohren waren voll Wasser.“
„Tja, Pech.“
Sie verschränkte die Arme und wandte den Blick von ihm ab. So leicht wollte er sich seine Antwort nicht streitig machen lassen, also schwamm er auf sie zu und stieg vor ihrem Gesicht in die Höhe.
„Sag es nochmal. Bitte.“ hauchte er ihr entgegen und seine Atemluft stieg gut sichtbar in den sternenklaren Himmel auf.
„Lieber nicht. Lass uns rein gehen, es ist kalt.“
„Ich lasse dich erst gehen, wenn du mir sagst, was du geantwortet hast.“
„Ein ander Mal, ja?“
„Nein.“
Seine Hand legte sich sanft, aber bestimmt um ihren Arm und hinderte sie daran, Vince einfach im Außenbereich stehen zu lassen. CatherineŽs Zähne gruben sich in ihre Unterlippe und sie blickte mit gerunzelter Stirn zu ihm auf. Erst jetzt wurde ihr so richtig klar, wie groß er eigentlich war und wie unverschämt heiß er aussah. Einerseits wirkte er so unschuldig mit seinen Augen, die im Licht der Beckenbeleuchtung schimmerten, wie ein Aventurin und doch war er Mister Sex persönlich. Sein Körper, seine Arme, sein Geruch. Sie musste weg von ihm oder sie würde die Kontrolle verlieren und doch genoss sie es, dass er sie am Verschwinden hinderte. Denn so musste er sie berühren und ihr stellten sich die Nackenhaare auf.
„Warum triffst du dich mit mir? Sag schon.“
„Weil du süß bist.“ entgegnete sie ihm und löste ihren Arm aus seiner Hand, um in die Halle zurück zu kehren.
Vince blieb wie angewurzelt stehen und blickte ihr noch lange nach. Wenn Nett der kleine Bruder von Scheiße war, dann war Süß wohl die kleine Schwester von Mitleid. Vince legte die Stirn in Falten und ließ sich wieder auf dem Rücken treiben. So sah es also aus. Sie hatte also Mitleid mit ihm und traf sich deshalb mit ihm. Wahrscheinlich war sie immer noch der Ansicht etwas bei ihm wieder gut machen zu müssen. Dieser Gedanke jagte ihm einen stechenden Schmerz durch die Brust und die Kälte, die an seinem nackten Oberkörper nagte, war darüber schon fast vergessen. Was hatte er erwartet? Catherine spielte in einer ganz anderen Liga als er und sich die Sache schön zu reden brachte auch nichts, denn sie hatte ihn gerade auf den Boden der Tatsachen zurück geholt. Er hob einen Arm in die Luft und griff nach den Sternen, die nicht mal halb so weit von ihm entfernt waren, wie Catherine es war. Die Sache schien so aussichtslos und eigentlich hatte er die Lust am gesamten Abend verloren.
Vielleicht war es das Beste...
„Hey!“
Beherzt zog Catherine an seinen Füßen und drückte schließlich seinen Kopf unter Wasser. Als er auftauchte, lachte sie und hielt sich den Bauch.
„Du guckst, wie ein begossener Pudel. Was dachtest du, würdest du da oben erreichen? Wolltest du Sterne vom Himmel pflücken?“
„Nein. Ich habe nur überlegt.“
„Überlegt? Was denn?“
„Ich glaube, ich mache mich langsam auf den Heimweg.“
„Wie? Jetzt schon? Wir sind gerade mal eine Stunde da? Ich dachte...“
„Ich will deine Zeit nicht weiter verschwenden.“
Nun war es Catherine, die wie bedröppelt zurück blieb und ihm nach sah, wie er in die Halle zurück schwamm und das Becken verließ. Hatte sie etwas falsches gesagt? Sie dachte angestrengt nach und überlegte, bis ihr Kopf rauchte, doch ihr kam nichts der Gleichen in den Sinn und so folgte sie ihm, denn das musste er ihr jetzt erklären.
Noch bevor Vince die Umkleide erreichte, schnappte Catherine nach seinem Arm und riss ihn zu sich herum.
„Sag mal spinnst du? Wieso denn Zeit verschwenden? Wie kommst du darauf?“
Zerknirscht verschränkte sie ihre Arme und drückte damit ihr Dekolleté in die Höhe.
„Schon gut. Ich hab es doch verstanden, Catherine. Ich will nur nach Hause, mehr nicht.“
„Du kommst jetzt mit. Ich unterhalte mich nicht vor den Umkleiden mit dir, wo jeder uns zuhören kann.“
Sie schliff ihn hinter sich her und zerrte ihn schließlich zurück in das Außenbecken, denn hier her verirrten sich nur sehr wenige Leute.
„Also, schieß los. Was ist mit dir? Habe ich etwas falsches gesagt?“
Wieder verschränkte sie die Arme und Vince hatte Mühe mit seinen Augen in ihrem Gesicht zu verweilen und nicht versehentlich in ihren Ausschnitt zu rutschen.
„Ich weiß doch, dass du dich nur mit mir triffst, weil du Mitleid hast. Weil du denkst, dass du noch etwas gut machen musst. Aber das musst du nicht. Ich weiß, dass du so ein blödes Gefühl hast, dass du so versuchst loszuwerden. Ich kenne das selbst ja auch.“
„Ach! Was weißt du schon, Vince. Du kennst mich nicht. Zumindest kennst du mich nicht genug, um zu sagen, dass du etwas über mich weißt.“
„Was das angeht, kenne ich dich schon ziemlich gut.“ äußerte er sich etwas trotzig.
„Tust du nicht!“ entwich es ihr spitz. „Du weißt nicht, wie ich mich gefühlt habe, als mein Mann mir sagte, dass er mich nicht mehr liebt. Wie ich mich gefühlt habe, als ich merkte, dass ich wohl niemals Kinder haben werde, du weißt nicht, wie es ist, wenn man verschmäht wird, Vince. Darüber hast du dir sicher noch nie Gedanken machen müssen, denn bei deinem Aussehen laufen die Frauen dir wahrscheinlich Scharenweise nach. Du musst keine Angst davor haben, dass dein Partner betrunken ist und gewalttätig wird.“
„Halt deinen Mund!“
Vince packte ihren Arm und riss sie an seine Brust um sie fest an sich zu drücken. Sein Herz stolperte wild vor sich hin und er schloss ohnmächtig seine Augen. Was sollte er tun? Was sollte er denken? Was dachte sie? Was wollte sie? Verlangte sie, dass er etwas unternahm?
„Ich will nicht, dass du unglücklich bist, Catherine.“ hauchte er ihr gegen ihre Haare und umschlang sie noch fester. „Bei dem Gedanken daran, dass dein Mann so schrecklich ist, werde ich wirklich sauer. Zieh aus, lauf vor ihm weg, aber zwing dich nicht, bei ihm zu bleiben.“
„Vince...“ ihre Stimme begann zu zittern und sie hoffte, dass er es mit der Kälte assoziierte. „Ich wollte dir damit nur zeigen, dass ich mich nicht aus Mitleid mit dir treffe. Ich mache es, weil ich es möchte und weil ich es genieße.“
Sanft aber bestimmt drückte sie sich etwas von ihm weg, um ihm in die Augen sehen zu können, die im Moment eher Trauer und Mitleid ausstrahlten, als Mut und guten Zuspruch.
Seinem Nicken entnahm sie, dass er sie nicht nur verstanden hatte, sondern ihr auch glauben schenkte.
„Ich möchte jetzt nicht wieder alles aufwärmen. Lass uns den Abend einfach genießen, ja?“
„Gut, wie du möchtest.“
„Sag das doch nicht so.“
„Wie dann?“
Ihr entfuhr nur ein ratloses Schulterzucken und seine Umarmung löste sich langsam wieder.
„Du bist anders.“ flüsterte sie vor sich hin und senkte den Blick.
„Wie meinst du das?“
„Du bist nicht wie mein Mann und dafür bin ich dir dankbar.“
Sie drehte ab und verließ das Außenbecken. Nun wollte auch sie nichts anderes mehr, als nach Hause. Wie betäubt folgte Vince ihr und sie holten gemeinsam Julian aus der Spielgruppe ab. Während der ganzen Fahrt über zum Kindergarten, wo ja VinceŽ Wagen stand, schwiegen sie und blickten sich nicht an. Julian war bereits vor Erschöpfung eingeschlafen und so hallte ihnen nur der Gesang aus dem Autoradio an die Ohren. Auch als Vince ausstieg, schwieg Catherine verbissen weiter. Sie schämte sich so sehr für das, was passiert war und umklammerte das Lenkrad.
„Tja, dann schlaft gut. Bis morgen.“
Catherine nickte und wartete, bis Vince sein Auto erreicht hatte. Endlich löste sich ihre Steifheit und sie riss ihre Tür auf. Er drehte sich verschreckt zu ihr und hielt automatisch die Arme auf, als er sie auf ihn zu rennen sah. Sie warf sich an seinen Hals und küsste ihn auf den Mund. Tausende Blitze jagten durch ihre Körper, doch keiner bewegte sich vom anderen weg. Catherine wollte es wissen. Sie wollte endlich wissen wer er war, wie er war. Mit ihrer Zunge forderte sie ihn heraus und legte ihre Arme um seinen Hals, doch Vince wandte sich plötzlich ab und schob sie von sich weg.
„Tut mir Leid, Catherine, aber...“ er geriet ins Stocken und rang um eine Erklärung, warum er sie verschmäht hatte. Warum er ihr das antat, was sie doch so verletzte. „Das geht mir zu schnell, tut mir Leid.“
Mit diesen Worten setzte er sich in den Corsa und betete zu den Opel-Göttern, dass sein Wagen ihm nicht ausgerechnet jetzt seinen Dienst verweigerte. Und sein Beten schien erfolgreich zu sein, denn der Motor schnurrte gleich beim ersten Versuch und Vince trat das Gaspedal so durch, dass er mit quietschenden Reifen davon raste.
Catherine strich sich eine Strähne, die ihr ins Gesicht geweht war weg und trat gegen einen Kieselstein, um ihren angestauten Frust los zu werden. Was hatte sie nur getan? Wieso musste sie so sein, wie sie es war? In ihrem Gesicht bildeten sich Zornesfalten und sie ballte ihre Fäuste. Sie war so dumm. Was hatte sie denn erwartet? Dass er jetzt und hier über sie herfallen würde? Ganz sicher nicht. So ein Typ Mann war Vince nicht. Enttäuscht und frustriert stieg sie zurück in ihren Audi und fuhr mit Julian Richtung Heimat. Auf der Fahrt fiel ihr noch auf, dass Vince seine Badesachen vergessen hatte. Sie lagen in der kleinen Tasche im Fußraum des Beifahrersitzes. Direkt daneben lag noch etwas, dass merkwürdig glänzte. Doch Catherine musste sich auf die Fahrt konzentrieren und würde es sich ansehen, wenn sie zu Hause waren.

Vince raste durch die Straßen und beachtete kaum noch ein Verkehrszeichen. Um sein Gesicht hatte sich ein schwarzer Tunnel gelegt, der ihm nur den Blick nach vorn erlaubte. Prompt überfuhr er eine rote Ampel und konnte von Glück reden, dass es sich bei dieser Straße um eine wenig befahrene handelte. Er parkte, zu Hause angekommen, seinen Wagen halb auf dem Fußweg stehend und hastete die vielen Treppen zu seiner Wohnung hoch. Er musste unbedingt mit Phil reden. Der wusste schließlich immer einen guten Rat und der war, angesichts der Tatsache, dass Vince gerade wahrscheinlich totalen Mist gemacht hatte, wirklich von Nöten. Die Wohnungstür war noch nicht ganz ins Schloss gefallen, als er schon die Nummer seines KumpelŽs wählte und sich laut seufzend auf sein Sofa niederließ.
Sein Blick raste zur Uhr. Kurz vor sieben, Phil müsste also schon lange zu Hause sein, doch niemand nahm ab. Er legte den Hörer weg und faltete seine Hände vor sich, um sie auf den Schoß zu legen. Nach endlosen zehn Sekunden sprang er wieder auf und zog sich wieder an. Er musste unbedingt mit jemandem sprechen. Beim Verlassen der Wohnung stachen ihm die zwei Kuchenplatten und -deckel ins Auge. Die musste er ihr ja auch noch zurück geben.
Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und er schmiss die Wohnungstür hinter sich zu.
Während der Fahrt zu Phil ermahnte er sich ständig, auf den Verkehr zu achten und erreichte nach knapp zwanzig Minuten das Penthouse seines Freundes. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, als er das Licht brennen sah und hastete zur Haustür. Er drückte den Klingelknopf tief ein und lehnte sich gegen verglaste Tür, die nach einer Weile aufsprang.
„Vince? Was machst du denn hier?“
„Können wir reden?“ hechelte er ihm entgegen und versuchte wieder zu Luft zu kommen.
„Sicher, komm rein.“ Er drückte die Tür für ihn weiter auf und zeigte auf sein Sofa, damit er sich setzen konnte.
„Was ist denn passiert? Du bist ja total durch den Wind?“
„Phil, ich habe so eine Scheiße gebaut.“
„Willst du ein Bier?“
„Nein, lass mal.“
„Oder lieber einen Schnaps?“
„Nein, auch nicht.“
„Kaffee?“
„Phil! Ach so, äh, ja.“
„Gut, warte eben.“
Während sein Freund in der Küche zwei Kaffee fertig machte, ordnete Vince seine Gedanken. Wo sollte er nur anfangen zu erzählen? In seinem Kopf war alles durcheinander und es waren so viele Sachen, die ihm wichtig erschienen und eigentlich müsste jede einzelne Situation die erst genannte sein. Phil stellte seinen Kaffee auf den Stubentisch und trank ein Schluck aus seiner Tasse.
„So, jetzt erzähl mal. Was ist denn los?“
Vince griff nach seiner Tasse und legte seine Hände um sie. Sofort spürte er die Wärme, die in seine Finger zog.
„Sie hat mich geküsst.“
„Was? Aber das klingt doch gut? Ging aber recht schnell, was?“
„Ich bin geflüchtet.“
„Du bist was?!“
„Ich habe ihr gesagt, dass es mir zu schnell geht und bin abgehauen.“ Vince stellte seine Tasse zurück auf den Tisch und fuhr sich mit beiden Händen durch sein kurzes, blondes Haar. „Ich bin so ein Idiot!“
„Wieso bist du denn einfach abgehauen? Erzähl doch mal von Anfang an.“

Catherine parkte ihren Wagen vor dem Haus und suchte nach dem glänzenden Ding im Fußraum. Nach einer Weile fand sie es schließlich und hob es auf. An diesem Ding hing noch etwas dran und sie schaltete das Innenraumlicht des Wagens ein.
„Eine Kette mit Anhänger.“ flüsterte sie und drehte das silberne Schmuckstück im Licht. „Wie hübsch.“
Der Anhänger war stabförmig und auf seiner Rückseite war etwas eingraviert. Egal, wie nah sie ihn an ihre Augen hielt, die Schrift war so klein, dass sie sie nicht lesen konnte und so seufzte sie kurz auf und steckte die Kette in ihre Manteltasche. Nachdem sie Julian abgeschnallt und auf den Arm genommen hatte, holte sie noch die Badesachen von dem Jungen, von sich und auch von Vince und schloss das Auto ab. Mühsam schleppte sie sich mit dem Kind und dem ganzen Gepäck die Treppe hoch und schloss die Wohnungstür auf. Vor der Garderobe ließ sie die Sachen fallen, um Julian erstmal ins Bett zu bringen. Nachdem sie die Tür zum Gästezimmer geschlossen hatte, überblickte sie die Wohnung. Hatte sie das Licht denn nicht ausgeschaltet, als sie weggefahren war? Scheinbar nicht, denn es brannte noch.
Plötzlich begann ihr Herz zu rasen und ihr kam eine dunkle Vorahnung. Sie schlich sich zum Arbeitszimmer und klopfte leise an.
„Herein?“
`Oh nein!Ž
Sie drückte die Klinke herunter und blickte wenig später zu Larry. Ihr Blick raste von seinem Gesicht zum Zimmer, in welchem er saß und wieder zurück zu ihm. Sollte sie es wirklich glauben?
„Hast du etwa aufgeräumt?“
„Sieht man doch?“
„Schon, aber ich wundere mich. Sonst hast du darauf ja keinen großen Wert gelegt.“
„Und wenn schon. Was willst du?“
„Seit wann bist du wieder da?“
„Seit gestern.“
„Wieso sagst du denn nichts, wenn du wieder nach Hause kommst?“
Es war, als würde ihr jemand einen Strick um den Hals legen und kräftig zu ziehen. Sie spürte ihre zittrigen Beine und diese Ohnmacht in ihrem Körper. Jetzt war sie nicht mehr allein und musste wieder auf alles achten. Jedes Wort, dass sie sagte musste gut überlegt sein.
„Weil es dich nichts angeht.“
„Wir sind verheiratet.“ erwiderte sie ihm sachlich und ruhig, um ihn nicht zu reizen.
„Wir wissen beide, dass unsere Beziehung dahin ist.“
„Ist das so? Tja, dann können wir uns ja trennen.“
Sie löste ihren Griff von der Klinke und verschränkte die Arme.
„Sicher, wenn du das ganze Geld sofort zahlen kannst, was du mir noch schuldest.“
Catherine entfuhr ein entsetzter Seufzer und sie schloss die Tür des Arbeitszimmers, um sich nicht noch mehr mit dieser muffigen Atmosphäre zu vergiften. Das ganze Aufräumen brachte schließlich nichts, wenn das Fenster stets versiegelt blieb und der ganze Rauch wieder in ihre Wohnung zog. Sie nahm am Esstisch Platz und lehnte ihren Kopf auf ihre Hand. Julian war schon wieder ohne Abendessen eingeschlafen. Was war sie nur für eine Mutter? Auch wenn es nicht ihr Kind war, sie musste sich doch genau so gut um ihn kümmern, wie sie es für ihr Kind getan hätte. Dumpf ließ sie ihren Kopf auf den Tisch fallen und legte den Arm direkt daneben. Was war sie für eine Mutter? Gut, dass sie keine Kinder hatte, denn die würde man ihr sicher irgendwann weg nehmen.
`Ich habe ihn geküsst.Ž ging es ihr durch den Kopf. `Was habe ich mir nur dabei gedacht?Ž Ihr Blick fiel zum Fenster heraus und doch sah sie rein gar nichts, denn der Himmel war dunkel, die Laterne der MillerŽs war es auch und in ihr drin sah es nicht anders aus. Lediglich die Küchenzeile spiegelte sich im Glas wider und da gab es nichts Spezielles, was es anzustarren lohnte. Sie musste sich bei ihm entschuldigen, das war klar. Sie hatte Vince noch nie so erlebt. Er wirkte aufgewühlt und verwirrt. Und sie war Schuld daran.

„Tja, und dann bin ich eingestiegen und wie ein Bekloppter weggefahren.“
Vince rang mit seinen Tränen. Er hasste sich so dafür, dass er Catherine einfach stehen gelassen hatte, obwohl es ihm in diesem Moment als das Vernünftigste erschien. Phil blickte ihn kritisch an und schüttelte schließlich den Kopf.
„Junge, ich verstehe dich nicht. Wirklich. Da fällt sie dir nun schon um den Hals und du haust einfach ab?“
„Was hätte ich denn tun sollen? Mit mir sind die Pferde durchgegangen. Es war so nicht geplant.“
„Das ist mir schon klar. Mensch Vince. Lass es doch einfach mal zu? Lass dich gehen. Ist doch egal.“
„Das kann ich nicht.“
„Wenn du weiterhin so verbissen dagegen ankämpfst, treibst du sie vielleicht von dir weg. Ist es das, was du willst?“
„Natürlich nicht. Was glaubst du denn?“
„Ich glaube, dass du dich einfach nur zu sehr anstellst. Ich weiß nicht, was in dir vorgeht. Ich kann es nicht verstehen. Damals war ich der glücklichste Mensch der Welt und du? Du rennst ständig nur davor weg?“
„Ich weiß.“

Catherine kaute nervös auf ihren Nägeln herum und presste den Hörer an ihr Ohr, doch egal, wie oft sie seine Nummer wählte, niemand ging ans Telefon. Er schien wirklich sauer zu sein. Was hatte sie nur angerichtet? Er war also so sauer, dass er sie nicht mal mehr sprechen wollte. Zu Hause war er mit Sicherheit, denn er wohnte wesentlich näher am Kindergarten, als sie und doch ging er nicht an den verfluchten Apparat. Nachdem sie es geschafft hatte, den Nagel komplett abzukauen, legte sie wieder auf und seufzte laut auf.
„Tante?“ hörte sie Julian aus dem Gästezimmer rufen und eilte sofort zu ihm.
„Na? Bist du wieder wach?“
„Ja. Ich habe Hunger. Darf ich noch etwas essen?“
„Aber sicher doch. Komm her.“
Sie hob ihn aus dem Bett und trug ihn in die Küche zum Kühlschrank. Das Licht blendete den Jungen und er kniff die kleinen Augen zu.
„Was hättest du gern?“ fragte sie ihn, nachdem sie die Tür des Kühlschrankes geöffnet hatte.
„Pudding.“
„Pudding? Aber ich dachte du hast Hunger?“
„Ja. Auf Pudding.“
„Gut, dann also Pudding. Setz dich auf das Sofa ich koche dir welchen.“
Julian nickte und lief eilig in die Stube und Catherine raste ein eisiger Schauer über den Rücken, als sie sah, wie Julian Larry gegen die Beine rannte.
Der Junge ging ein paar Schritte zurück und wagte es nicht zu seinem Onkel aufzusehen, stattdessen blickte er hilfesuchend zu Catherine.
„Er hat nur nicht gut genug aufgepasst Larry, sei ihm nicht böse. Julian, komm her.“
Gehorsam folgte er ihrer Anweisung und flüchtete sich hinter ihren Beinen.
„Was machst du hier für einen Krach? Es ist schon nach zehn und der Junge sollte längst schlafen.“
„Er hat Hunger und ich mache ihm noch einen Pudding. Willst du auch?“
„Ich mag keinen Pudding.“
„Du hast doch früher immer Pudding gegessen?“
„Ja, früher hatte ich auch noch keine Falten.“
„Larry du bist sechsunddreißig und Falten sehen anders aus, glaub mir.“
Er murrte kurz auf und ging zum Kühlschrank. Aus der Tür nahm er sich eine Flasche Bier und blickte Catherine prüfend an.
„Du bist merkwürdig.“ stellte er fest und war im Begriff zu gehen.
„Was meinst du?“
„Erst reden wir über Scheidung und dann fragst du mich, ob ich Pudding will. Dir hat wohl irgendetwas die Sinne vernebelt, was?“
„Nein.“ fragte sie mehr, als dass sie es feststellte.
„Oder war es irgendjemand?“
Larry fuhr wieder zu ihr herum und blickte ihr mit seinen kalten Augen durch das Gesicht. Auch Catherine musterte ihn, jedoch war sie dabei wesentlich zurückhaltender, als er.
„Du erzählst Müll. Wer soll denn dieser Jemand sein?“
„Keine Ahnung. Vielleicht verrätst du es mir ja irgendwann mal?“
Er lachte ironisch auf und verschwand wieder in seinem Zimmer. Catherine entfuhr ihre angehaltene Atemluft und sie legte ihre Hand auf die Brust, um damit ihren Herzschlag zu fühlen. Es raste und stolperte wild vor sich hin.
„Ist er böse auf mich?“
„Nein, du hast nichts gemacht.“
„Ist er böse auf dich?“
„Vielleicht. Ich weiß es nicht.“
„Aber du warst doch lieb?“
Julian blickte zu ihr auf und umklammerte noch immer ihr Hosenbein mit seinen kleinen Händen.
„Komm her.“
Sie hob ihn in ihre Arme und drückte ihn an sich.
„Du bist ein Schatz, Julian. Und niemand hier ist böse wegen dir, hast du das verstanden?“
Bestimmt nickte er ihr zu.
„Gut, dann geh jetzt in die Stube und ich koche dir den Pudding ja?“
„Ist gut.“
Mit wenig Begeisterung setzte er sich auf das Sofa und blätterte in einem seiner Bücher herum, während Catherine ihm einen Vanillepudding kochte.
Gedankenverloren rührte sie in dem Topf herum. Vince hatte gesagt, dass ihm das zu schnell ginge. Er hatte nicht gesagt, dass er das nicht wolle. Sie seufzte leise auf und rührte akribisch weiter. Wie gern hätte sie das mit ihm geklärt, denn sie war selbst überrascht, über das, was sie getan hatte. So stürmisch und ungehalten kannte sie sich selbst nicht. Doch Vince hatte keinen ihrer Anrufe beantwortet und so blieb er ihr die Antworten auf ihre Fragen schuldig. Vielleicht wäre es das Beste, wenn sie ihn gleich morgen früh im Kindergarten darauf ansprach.

Vince schloss alle Türen des Kindergartens auf und schaltete das Licht ein. Die ganze Nacht hatte er schrecklich schlecht geschlafen und dem entsprechend müde und erschöpft fühlte er sich nun heute. Als er am Abend nach Hause gekommen war, die Uhr zeigte ihm, dass es schon kurz nach zwölf war, blinkte sein Telefon auf. Er hatte sieben Anrufe in Abwesenheit und er ahnte, dass es Catherine gewesen sein musste. Während er sich bettfertig machte, hatte er geflucht und sich geärgert, dass er nicht zu Hause gewesen war. Vielleicht hatte sie ihm noch etwas sehr wichtiges zu sagen und er war einfach nicht da! Da es aber schon so spät war, hatte er sich nicht getraut bei ihr anzurufen und blickte nun immer prüfend aus dem Fenster. Gegen neun Uhr hielten bereits ein paar Autos vor dem Gebäude und mit flauem Magen suchte er den schwarzen Audi von Catherine. Nach einer Weile entdeckte er ihn und atmete tief durch. Worte sortieren und sich entschuldigen. Das war sein erster Gedanke. Die T
ür des Spielzimmers öffnete sich und er drehte sich zu ihr, um Catherine gleich zu sagen, wie Leid es ihm tat. Jedoch hielt er verblüfft inne, als er nur Julian entdeckte. Hastig raste sein Blick wieder aus dem Fenster und er sah, wie Catherine zu ihrem Wagen eilte und davon fuhr.
„Hallo Vince!“ strahlte Julian ihn an.
„Guten Morgen. Na? Hast du gestern gut geschlafen?“
„Jaha! Tante Cathy hat mir sogar noch Pudding gemacht.“ erzählte er ihm stolz und widmete sich dann Maria und einem anderen Jungen, die bereits in einer Ecke saßen und spielten.
„Julian, warte mal eben. Komm noch mal zu mir.“
Der Junge drehte wieder ab und kehrte zu Vince zurück.
„Warum ist deine Tante denn nicht mit rein gekommen?“
„Sie hatte es eilig.“
„Eilig?“ wisperte er vor sich hin und blickte nochmals aus dem Fenster.
Den ganzen Tag verbrachte er teilnahmslos mit den Kindern und auch die Tatsache, dass seine Kollegin wieder da war, machte es nicht besser. Natürlich war es gut, dass sie schnell wieder gesund geworden war und er nun ihre Kinder nicht mehr beaufsichtigen musste, aber die Tatsache, dass Catherine heute morgen Julian allein rein geschickt hatte, war wirklich ein Unding und ließ ihm keine Ruhe. Sie musste wirklich noch sehr wütend und enttäuscht wegen ihm sein. Gleich heute Nachmittag, wenn sie ihn abholen würde, musste er das Ganze mit ihr Klären, denn noch eine so schreckliche Nacht wollte er nicht verbringen. Als Catherine gegen fünfzehn Uhr aus ihrem Wagen stieg, rief Vince Julian zu sich. Schließlich sollte sie es nicht zu leicht haben und er wollte sie damit zwingen, zu ihm zu kommen. Gefasst blickte er zur Tür und wartete, dass sie die Klinke herunter drückte. Nach ein paar Minuten stand er auf und übernahm diese scheinbar zu schwere Bürde für sie. Die Tür war noch nicht
richtig geöffnet, als er Catherine entdeckte, den Kopf gesenkt und die Hand bereits auf die Klinke gelegt.
„Hallo.“ entfuhr es ihm erstickt und er blickte sie fragend an. „Du hast gestern noch versucht mich zu erreichen, nicht?“
„Ja, äh Hallo. Ich wollte eigentlich nur Julian abholen.“
„Und was ist mit den sieben Anrufen von gestern?“
„Ist nicht so wichtig.“ Ohne auch nur einmal ihren Blick zu heben, schob sie ihn an die Seite und nahm Julian an die Hand.
„Catherine, ich...“ Er war im Begriff sie zu verlieren. Nur noch ein paar Sekunden und sie wäre weg. Panik beherrschte ihn und vernebelte ihm den Sinn. „Willst du nicht noch etwas bleiben?“
„Lieber nicht. Bevor ich wieder etwas tue, dass dich zum Flüchten animiert.“
Sie zog Julian im Flur die Jacke an und tauschte seine Hausschuhe gegen seine Straßenschuhe aus.
„Catherine, wegen gestern.“
Doch sie reagierte gar nicht darauf und war mit den Schnürsenkeln schon fast fertig.
„Sieh mich doch an, wenn ich mit dir rede, bitte!“
Und wieder versuchte Catherine so gleichgültig wie möglich zu sein. Er hatte ja keine Ahnung, wie unangenehm ihr das Ganze war und nun vermeinte sie aus seinen Worten zu hören, dass er sich entschuldigen wollte, dabei hatte sie ihn über den Haufen gerannt und abgeknutscht, als wäre sie blutjunge sechzehn.
„Tut mir Leid, aber ich habe keine Zeit.“ entfuhr es ihr möglichst arrogant.
„Das ist mir egal!“ hörte sie ihn sagen und fühlte, wie er seine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte.
„Mir aber nicht. Es ist schlimm genug, dass...“
Doch Vince erstickte ihren Satz und küsste sie auf ihre Lippen. Wieder zündeten unendlich viele Blitze und schließlich ließ er von ihr ab.
„Damit sind wir quitt.“ entgegnete er ihr noch und drehte ab. „Ich wollte nur, dass wir uns einig sind. Tut mir Leid.“ rief er noch und warf die Tür des Spielzimmers zu.
„Ihh!“ warf Julian ein und drückte sich beide Hände auf den Mund. „Er hat dich geküsst!“ rief er noch und schüttelte den Kopf.
„Ich weiß.“ entgegnete sie ihm mit zittriger Stimme und führte ihn zum Auto. „Waren denn noch andere Kinder da, Julian?“
„Nein.“ kam es etwas gelangweilt von ihm zurück. Sie nickte ihm zu und kramte in ihrer Manteltasche nach dem Autoschlüssel, als ihr plötzlich der Anhänger von Vince in die Hände fiel. Da war ja noch etwas, dass ihm geben wollte. Sie überlegte und blickte wieder zu Julian.
„Dann warte eben kurz hier im Auto, ja?“
„Warum denn?“
„Ich muss nur kurz mit Vince reden.“
„Und warum?“
„Weil er mich geküsst hat!“
„Ihh!“ ging es wieder und Catherine tätschelte ihm über den Kopf. Nachdem sie den Jungen ins Auto gelassen hatte, blickte sie wieder zu dem Fenster, aus dem Vince immer sah, wenn sie mit dem Audi einparkte. Mit hochrotem Gesicht marschierte sie zurück in den Kindergarten und warf die Tür des Spielzimmers auf, in dem sie Vince vermutete. Der saß auf dem Boden und blickte sie verschreckt an.
„Was machst du denn noch hier?“ fragte er und rappelte sich langsam auf.
„Ich will kurz mit dir reden.“
Seine Hände kramten bereits nach etwas, mit dem sie sich beschäftigen konnten und sie wurden schließlich mit einem Bauklotz fündig.
„Wieso denn?“ seine hilflosen Blicke rasten durch das Zimmer und blieben an seinem Anhänger kleben, den Catherine in die Luft hob.
„Meine Kette!“ rief er verschreckt und ließ den Bauklotz fallen, um sich mit den Fingern am Hals entlang zu tasten.
„Du hast sie in meinem Auto liegen gelassen.“
„Mir ist gar nicht aufgefallen, dass sie nicht mehr da ist.“
„Naja, dann freu dich, dass sie nicht verschwunden ist. Komm her, ich mache sie dir um.“
Sie legte ihm die Kette um den Hals und verschloss sie. Ohne sich von ihm weg zu bewegen holte sie tief Luft.
„Du hast mich geküsst.“
Sie war sich nicht sicher, ob ihre Sinne sie täuschten, doch sie meinte seinen Puls hören zu können.
„Tut mir Leid.“ flüsterte er ihr entgegen und verharrte.
„Mir tut es auch Leid.“ CatherineŽs Stimme flüsterte ähnlich leise, wie die von Vince.
„Es ging so schnell gestern.“ begann er und senkte seinen Kopf. „Ich war nur etwas perplex und wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Ich wollte eigentlich nicht einfach abhauen.“
„Ich wollte mich schon gestern bei dir entschuldigen, aber ich konnte dich nicht erreichen.“
„Ich war noch bei einem Freund.“
Sie standen sich gegenüber und jeder blickte am anderen vorbei.
„Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren war.“ fuhr Catherine fort und suchte nun seine Augen.
Seine Iris strahlte sie wieder so erfrischend an, dass ihr ein Stein vom Herzen fiel.
„Aber du hattest gestern Recht. Es geht wirklich ziemlich schnell und wir sollten uns vielleicht mehr Zeit lassen.“ wisperte sie und entfernte sich wieder etwas von ihm.
„Ich bin manchmal ein echter Angsthase.“ entgegnete er ihr etwas geknickt und spielte an seinem Pullover herum. „Ich wollte gar nicht so überstürzt abhauen.“
„Schon gut.“ lächelte sie ihm entgegen und lief Richtung Tür. „Deine Sachen hast du auch vergessen. Ich bringe sie dir, wenn sie getrocknet sind. Ich habe mir mal erlaubt, sie zu waschen.“
„Och, das musst du nicht. Wegen mir musst du dir keine Umstände machen.“
„Es bereitet mir auch keine, also. Im Austausch gegen meine Kuchenplatten bekommst du deine Badesachen wieder.“ grinste sie ihm entgegen und ließ leise die Tür ins Schloss fallen.
Vince blickte ihr noch durch das Fenster nach und begann schließlich auch zu lachen. Diese dusseligen Kuchenplatten. Sie standen ja noch immer bei ihm zu Hause. Er schüttelte den Kopf und strich sich über die Lippen. Diesmal war er es, der sie geküsst hatte und seine Hand formte sich zu einer Siegesfaust. Nicht immer abhauen, sondern auch mal zu langen. Das hatte Phil ihm gesagt und er hatte es sofort in die Tat umgesetzt. Nun strich er über seine Lippen, mit denen er Catherine ganz unvermittelt geküsst hatte und er könnte schwören, dass sie leicht brannten. Nachdem er die restlichen Spielsachen verräumt hatte, machte auch er sich auf den Heimweg. Zu Hause angekommen machte er sich noch einen Kaffee und verbrachte den Abend vor dem Fernseher.

Als Catherine ihre Wohnung erreichte, fand sie Larry am Küchentisch vor. In seinem Schatten stand eine Bierflasche und drei weitere geleerte Flaschen standen bereits auf der Arbeitsplatte. Innerlich seufzte sie auf und eigentlich würde sie lieber wieder gehen, fragte sich nur wohin. Sie umfasste JulianŽs Hand etwas fester und betrat die Küche.
„Hallo.“ entfuhr es ihr, obwohl sie es eigentlich nicht mehr für nötig hielt, ihn zu begrüßen.
„Hallo.“ murrte er ihnen entgegen und sog an seiner Bierflasche. „Da hat so eine Linda angerufen und wollte dich sprechen.“
„Das ist nicht so eine Linda, sondern DIE Linda!“ fauchte sie wild und blickte auf das Display des Telefons. „Hat sie dir eine Nummer gesagt, auf der ich anrufen soll?“
„Ey! Bin ich die Auskunft oder was?!“ brüllte er los und stand ruckartig auf, wodurch sein Stuhl nach hinten umkippte.
„Nein.“ gab sie kleinlaut zurück und zog Julian die Jacke aus. „Ich dachte nur...“
„Mensch, heul doch nicht gleich rum hier!“ keiferte er weiter und hob seinen Stuhl wieder auf. „Ist ja nicht zum Aushalten.“
„Onkel Larry ist blöd!“ rief Julian und funkelte Larry böse an.
„Was hat er gesagt?!“
Catherine drückte Julian die Hand auf den Mund, doch es war zu spät und die Beleidigung, die er treffend ausgesprochen hatte, hatte Larry bereits erreicht.
„Nichts. Das ist wohl ein Wort, dass er aufgeschnappt hat.“
„Ich glaube ich spinne! Junger Mann du wirst dich sofort entschuldigen!“ schrie er Julian an und bäumte sich vor ihm und Catherine auf.
„Los Julian. Sag es einfach, dann ist er doch zufrieden.“ flehte Catherine ihn an, doch Julian beharrte auf seiner Aussage.
„Onkel Larry ist blöd!“ wiederholte er und streckte ihm die Zunge heraus.
Wie in Zeitlupe sah Catherine, wie ihr Mann die Hand hob und packte Julian, um ihn aus der Gefahrenzone zu bringen. Die kleine Tischlampe, die neben dem Sofa stand krachte laut gegen die Wand und sie rannte zum Gästezimmer, wo sie Julian auf das Bett warf und die Tür hinter ihm abschloss.
„Du ist ja total besoffen! Lass den Jungen in Ruhe!“ kreischte sie, um ihren Mann davon abzuhalten die Tür einzutreten. Larry tobte und konzentrierte sich nun auf Catherine, die sich hinter den Küchentisch geflüchtet hatte.
„Du kleines Flittchen! Komm endlich her!“ brüllte er und rannte total betrunken den Stubentisch um. CatherineŽs Herz raste und verteilte das Adrenalin in ihrem Körper. Schlagen oder rennen, ihr Körper machte sich auf das Schlimmste gefasst. Sie wusste nur zu gut, wie Larry war, wenn er die Kontrolle verlor. Er war nicht aufzuhalten und sie hatte eigentlich keine Chance gegen ihn. Er sprang auf sie zu und donnerte mit seinen Fäusten auf den Küchentisch, bevor er ihn im hohen Bogen gegen die Küchenzeile schmetterte. Catherine kreischte verschreckt auf und rannte in den Flur. Aus ihrer Handtasche kramte sie ihr Handy und rannte zurück in die Stube. In letzter Sekunde drückte sie zwei mal auf den grünen Hörer, doch Larry erreichte sie und schlug ihr das Handy aus der Hand.
„Hab ich dich!“ röchelte er ihr entgegen und schlug ihr immer wieder ins Gesicht. Catherine schrie markerschütternd auf und vernahm JulianŽs Schreie aus dem Gästezimmer. Der Junge war am Ende, sie war am Ende, doch Larry bäumte sich wieder auf und schien noch lange nicht fertig zu sein. An den Haaren zerrte er Catherine ins Badezimmer und stellte sich mit ihr vor den großen Spiegel.
„Siehst du das? Ist das nicht ein schönes Bild? Sind wir nicht ein tolles Paar?“
Catherine rannen die Tränen durch das gerötete Gesicht und noch immer schoss ihr das Adrenalin durch den Körper.
„Sieh mich an!!!“
Sie hob ihren Blick gen Spiegel und sah ihm in die Augen. Nichts, aber auch rein gar nichts war von dem Mann übrig, den sie damals aus Liebe und Zuneigung geheiratet hatte. Er war kalt, brutal und herrisch geworden und er machte sie Stück für Stück kaputt.
„Du bist ja verrückt.“ presste sie aus sich heraus und Larry warf sie brutal in die Badewanne. Wieder erblickte sie seine Hände, die sich zu Fäusten ballten und krümmte sich vor ihm zusammen.
„Nicht das Gesicht! Bitte Larry! Nicht ins Gesicht!“ schrie sie, doch um ihn herum tauchte sich alles in einen hellen Schleier, der ihm den Blick vernebelte. Die vielen Schläge, die er ihr versetzte, der Schmerz der sie dabei durchfuhr, einfach alles raubte ihr den Atem und sie wimmerte auf. Ihr Herz pumpte und pumpte und doch fühlte sie sich so tot. Sie vernahm die Schläge von Julian, der weinend gegen die Tür des Gästezimmers trommelte und doch konnte sie ihm nicht helfen. Larry wandte sich kurz ab und sie befürchtete, dass er nun zu Julian gehen würde, also trat sie beherzt zu und Larry krachte mit dem Kopf gegen das Waschbecken. Blut schoss ihm aus der Nase und wild stierte er sie an. Sein Kopf musste aus Beton sein, niemand überstand so einen Schlag! Catherine krabbelte aus der Wanne und humpelte zurück in die Stube. Auf dem Boden lag ihr Handy und jetzt war es so weit. Sie würde die Polizei rufen. Sie nahm das Handy und entdeckte, dass bereits jemand am anderen Ende war
und ständig „Hallo!“ in den Hörer rief. Doch Larry packte sie schließlich und schmiss sie mit voller Wucht gegen die Wand.
„Lass mich! Larry bitte, du tust mir weh!“
„Halt endlich deine dumme Klappe!“ brüllte er so laut, dass JulianŽs Schreie verstummten. Und wieder knallte es laut. Catherine rappelte sich wieder auf und griff nach einer Vase, die auf dem Sideboard stand, direkt neben den Bildern ihrer Hochzeit. Welch Ironie dachte sie sich und funkelte ihn wild an.
„Was hast du vor? Willst du mich damit erschlagen?!“ lachte er ihr hämisch zu und ging in Abwehrstellung.
„Lass mich endlich! Ich hasse dich! Dich und deinen scheiß Alkohol, der dir die Birne vernebelt.“
„Tante!“ wimmerte es aus dem Zimmer und kurz, nur ganz kurz, schenkte sie der Tür neben sich die Aufmerksamkeit, die Larry sofort ausnutzte und ihr die Vase aus der Hand schlug.
„Und was gedenkst du jetzt zu tun?“ grinste er ihr sarkastisch zu.
„Du bist ein Teufel!“ schrie sie und presste sich gegen die Wand.
„Und du hast mich geheiratet! Dann hast du wohl den leibhaftigen Teufel geehelicht!“ fügte er hinzu und lachte diabolisch auf. „Dummes Stück!“
Catherine sammelte all ihre Kraft und stieß Larry von sich weg. Der stolperte über einen der Sessel und flog hinterrücks darüber hinweg. Blitzschnell schloss sie das Gästezimmer auf, zog den Schlüssel ab und verschloss die Tür von innen.
„Tante!“ wimmerte Julian ihr entgegen und umklammerte sie fest.
„Warte kurz.“ flüsterte sie ihm mit einer zittrigen Stimme entgegen und griff nach einem der Stühle, um ihn unter die Türklinke zu stellen.
Larry hämmerte und trat immer und immer wieder gegen das Holz der Tür und langsam aber sicher gab das Scharnier den Geist auf, als es plötzlich an der Tür klingelte.
Mit Augen zu einem Schlitz zusammen gezogen blickte er sich um und richtete seine Haare neu. Über zehn Minuten hatte er die Tür schon bearbeitet und man hatte ihn sicher dabei gehört. Er atmete kurz durch und legte ein freundliches Gesicht auf, als er die Tür öffnete. Ein junger Mann einen guten Kopf größer als er selbst stürmte auf ihn zu und packte ihm am Kragen.
„Ey! Was willst du? Wer bist du?!“ schrie Larry und Catherine umschlang Julian mit ihren Armen.
„Was ist hier los?!“ vernahm sie eine ihr bekannte Stimme und wimmerte schließlich laut auf.
„Wer bist du?!“ Larry funkelte den Mann wild an und wieder kochte die Wut in ihm hoch. Er ballte seine Hände zu Fäusten und schnaubte wutentbrannt auf.
„Du willst Schläge verteilen?! Dann schlag dich mit jemandem, der dir etwas entgegen zu setzen hat, du Bastard!“
Nun reichte es und LarryŽs Geduldsfaden riss endgültig. Laut schreiend rannte er auf ihn zu und hob seine Faust in die Luft, doch der Mann packte seinen Arm und verdrehte ihn schmerzhaft, sodass er auf die Knie sank und laut aufbrüllte.
Catherine hingegen räumte leise den Stuhl wieder an die Seite, drehte den Schlüssel im Schloss und rüttelte an der Tür, die sich durch die Schläge und Tritte total verzogen hatte und klemmte. Mit aller Kraft zog sie an der Klinke, doch es half nichts, die Tür blieb verschlossen.
Larry kniete noch immer auf dem Boden und atmete schwer.
„Hast du jetzt genug, Bastard?!“ er betonte dieses Wort immer besonders deutlich und drehte noch etwas weiter an seinem Arm.
„Ah! Lass mich los!“ schrie Larry und versuchte nach einem Bein des Mannes zu greifen, doch er fühlte nur, wie sein Arm sich weiter drehte und es plötzlich laut knackte. Schmerzerfüllt prallte er auf den Boden und blieb liegen.
„Catherine? Wo bist du?“ hörte sie ihn rufen und klopfte gegen die verschlossene Tür.
„Hier, Vince! Wir sind hier.“
„Geht die Tür nicht mehr auf?“ VinceŽ Stimme bebte und doch versuchte er ruhig zu wirken.
„Nein sie klemmt.“ wimmerte sie und brach nun komplett in Tränen aus.
„Geht von der Tür weg, ich versuche rein zu kommen.“
„Gut warte!“ entgegnete sie ihm mit zittriger Stimme und wickelte Julian in die Bettdecke ein. Nachdem sie sich in eine Ecke gekauert hatten, gab sie das Startzeichen und Vince rammte mit vollem Körpereinsatz gegen die Tür. Nach mehreren Anläufen gab das Scharnier schließlich nach und die Tür krachte auf.
Vince betrat den abgedunkelten Raum und fand zwei jämmerlich wirkende Gestalten vor. Catherine hatte Julian auf dem Schoß, in eine Decke gewickelt und vollkommen verängstigt und auch sie wirkte regelrecht apathisch. Er kniete sich zu ihnen herunter und strich ihr durch die Haare.
„Kommt, ihr schlaft heute bei mir.“
Catherine nickte stumm und übergab Vince den Jungen.
„Such euch ein paar Sachen zusammen. Ich warte auf dich in der Stube.“
Nachdem Catherine im Schlafzimmer ihre und JulianŽs Sachen in eine Reisetasche gepackt hatte, wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen. Noch immer standen Tränen in ihnen und doch versuchte sie sich selbst zu ermutigen. Schließlich musste sie jetzt stark sein, Julian zuliebe. Mit aller Kraft versuchte sie die Tasche anzuheben, doch ein stechender Schmerz durchzog sie und sie wimmerte erstickt auf.
„Lass die Tasche. Ich werde sie nehmen. Kannst du laufen?“
„Es geht, ja.“
Vince setzte Julian bei Catherine im Schlafzimmer ab und lief zurück in die Stube. Larry lag noch immer am Boden, schwieg jedoch. Vince schüttelte den Kopf und kniete sich zu ihm herunter. Der Schmerz musste ihn ohnmächtig gemacht haben. Laut klatschte er ihm die Hand ins Gesicht und wiederholte es, bis Larry wieder zu sich kam.
„Dein Arm ist ausgekugelt. Du solltest zum Arzt gehen, Arschloch.“
Mit diesem Satz ließ er ihn liegen und nahm die Tasche und Julian auf den Arm. Den anderen Arm legte er um Catherine und führte sie in den Hausflur und schließlich zu seinem Auto, mit dem er wie ein angestochener zu ihrer Wohnung gerast war. Noch immer stellten sich bei ihm die Nackenhaare auf, als er an das schreckliche Geschrei zurück dachte, dass er am Telefon gehört hatte. Catherine hatte in ihrer Panik einfach die Wahlwiederholung gedrückt und war bei ihm gelandet. Das Blut in seinen Adern pulsierte und der Druck erhöhte sich, als er zu ihr herüber blickte, wie sie wie ein Schluck Wasser in der Kurve ihren Kopf gegen das Seitenfenster gelehnt hatte und weinte. Ein Blick in den Rückspiegel genügte und ihm wurde richtig schlecht vor Wut. Auch Julian weinte bittere Tränen und beruhigte sich kein Stück.
Er biss sich auf die Lippe und versuchte sich auf den Verkehr zu konzentrieren.
„Ich denke, es wäre das Beste, wenn wir Linda anrufen und ihr sagen, dass sie wieder nach Hause kommen soll.“
Catherine reagierte fast gar nicht auf seinen Satz und doch gab sie ihm innerlich Recht. Es war bereits schwierig genug das Ganze allein durchzustehen und Julian war ein fröhliches und glückliches Kind und so sollte es auch bleiben.
„Und du wirst bis auf Weiteres bei mir bleiben. Keinen Schritt wirst du allein in deine Wohnung machen ist das klar?“
Nun nickte Catherine ihm zu und zog die Nase hoch.
„Gut.“ erwiderte er ihr trocken und ärgerte sich gleichzeitig. Warum zum Henker nochmal hatte sie ihm nicht gesagt, was wirklich los war, wenn ihr Mann so ausrastete? Dass er sie schlug, war Vince bereits klar und er hätte sich dafür ohrfeigen können, dass er es immer wieder zuließ, dass sie in ihre Wohnung fuhr. Doch dass ihr Mann so cholerisch war und sie fast tot prügelte? Mit der Faust schlug er gegen das Lenkrad und schnaubte wütend auf.
„Du hättest es mir sagen müssen.“
Catherine wagte einen seitlichen Blick zu ihm.
„Was sagen müssen?“ fragte sie und zog wieder die Nase hoch.
„Dass dein Mann so ein... „ ihm entfuhr ein undefinierbares Geräusch, um ein Schimpfwort zu umspielen. „dann hätte ich doch schon viel früher reagiert.“
„Es ist nicht deine Aufgabe fremden Menschen zu helfen, Vince.“
„Was redest du da für einen Müll?!“ schrie er plötzlich und Julian brach wieder in lautem Geschrei aus.
„Julian, beruhig dich wieder.“ sprach Catherine ihm beruhigend zu und strich ihm über die Beine.
„Streitet ihr euch jetzt auch?“ wimmerte er und blickte sie mit großen, rot unterlaufenen Augen an.
„Nein, wir streiten nicht.“
Julian nickte und wischte sich durch die Augen.
„Ich will nicht, dass jemand euch etwas tut. Außerdem bist du keine fremde, Catherine. Wenn du das Gegenteil behauptest, lügst du.“
Seine Worte ließen keine Widerrede zu und so nickte sie ihm nur zu und folgte den vorbei fliegenden Straßenlaternen, die ihnen den Weg leuchteten.
In seiner Wohnung angekommen, bereitete er das Sofa vor, damit Julian bald schlafen gehen konnte.
„Wenn du noch fern sehen willst, im Schlafzimmer ist auch ein Fernseher. Gleich die Tür da.“
Sie nickte ihm zu und drückte die Klinke der Tür herunter. Sofort sog sie seinen Duft ein und ein wohliger Schauer jagte ihr den Rücken herunter.
„Ich werde Julian morgen in den Kindergarten fahren und dann wieder kommen. Ich rufe gleich noch meine Kollegin an und entschuldige mich für den morgigen Tag, damit du nicht ganz allein zu Hause bist.“
„Das musst du nicht Vince! Wirklich, nicht wegen mir.“
„Keine Diskussion, klar?“
Sie nickte gehorsam und schaltete den Fernseher ein. Vielleicht brachte es sie auf andere Gedanken, wenn sie sich damit etwas ablenken konnte. Sie zappte eine ganze Weile durch die Programme, als sie plötzlich eine Gitarre spielen hörte.

„Der Mond ist aufgegangen,
die goldŽnen Sternlein prangen,
am Himmel hell und klar.
Der Wald steht still und schweiget
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.

Wie ist die Welt so stille
und in der Dämmerung Hülle
so traulich und so hold.
Gleich einer stillen Kammer,
wo ihr des Tages Jammer
verschlafen und vergessen sollt.

Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost verlachen,
weil unsere Augen sie nicht sehŽn.“

Julian schmatzte noch kurz auf und Vince zog die Wolldecke zu seinen kleinen Schultern hoch.
„Er schläft.“ flüsterte er Catherine leise zu. Er hatte bemerkt, wie sie sich in den Türrahmen des Schlafzimmers gestellt hatte und er lächelte sie an, denn sie hatte mit geschlossenen Augen seinem Gesang gelauscht.
„Schön.“ hauchte sie vor sich hin und ging zurück zum Bett, auf dem sie bis eben noch gesessen hatte. Ein Futon, knapp ein Meter und fünfzig breit und mit flauschiger, roter Bettwäsche bezogen. Auf dem rechten Nachtschrank stand eine kleine Palme und daneben ein Kaktus. Nun musste Catherine aber doch etwas lachen. Irgendwie hatte sie genau mit diesen beiden Wüstenpflanzen in seiner Wohnung gerechnet. Immerhin waren die nicht so kompliziert, was die Pflege anging. Im Gegensatz zu CatherineŽs Orchideen, die ihr jeden Tropfen Wasser, den sie zu viel gegossen hatte, übel nahmen. In der Stube vernahm sie VinceŽ leise Stimme. Er schien mit seiner Kollegin zu telefonieren und sagte noch etwas von einem Tag Urlaub, bevor er auflegte und zu ihr ins Schlafzimmer trat.
„Ich werde mir nur eben etwas anderes anziehen und bin dann gleich bei dir.“
„Dann ziehe ich mich auch schnell um.“
„Schon gut, lass dir Zeit. Ich klopfe dann an.“
Mit einem verständnisvollen Lächeln schloss er die Tür und machte sich auf den Weg zum Badezimmer, als er plötzlich stoppte und umkehrte. Seine Jogginghose lag ja noch im Schlafzimmer. Er klopfte an und verzog verärgert das Gesicht. Er hätte schließlich auch warten können, bis sie fertig ist! Oh Man.
„Catherine? Liegt da irgendwo eine graue Hose von mir?“
„Ja warte, ich bringe sie dir.“ hörte er sie durch die Tür sagen und senkte seinen Blick gen Boden. Leise quietschte die Tür, als sie sie öffnete und sie reichte ihm das gesuchte Kleidungsstück.
„Hier, nimm. Brauchst du noch etwas?“
Catherine versuchte sich so gut, wie irgend möglich hinter der Tür zu verstecken und doch blitzte ihr mit Spitze versetzter BH auf.
„Nein, das war alles.“
Prompt drehte er sich weg und stürmte auf das Badezimmer zu. Wieso musste er ihr auch genau dort hin sehen? Was war er doch für ein Schwein.
Mit einem hochroten Gesicht blickte er in den Spiegel, während er sich umzog.
„Ferkel!“ flüsterte er seinem Spiegelbild zu. Er hob seinen Zeigefinger und schnalzte mit der Zunge, so, wie es seine Mutter immer gemacht hatte, wenn er etwas ausgefressen hatte. Schließlich musste er grinsen und wandte seinen Blick von seinem Spiegelbild ab. Nachdem er sich umgekleidet hatte, schlich er durch die Stube zurück ins Schlafzimmer. Prüfend betrachtete er Julian noch einmal und nickte zufrieden, als er sah, dass er tief und fest schlief. Wieder klopfte er an die Tür.
„Herein.“
„Fertig?“
„Ja.“
Er trat ein und blickte sie kurz verlegen an. `Ferkel.Ž ging es ihm wieder durch den Kopf und wieder musste er grinsen. Catherine inspizierte sich und ihre Kleidung, ob sich etwas zeigte, dass ihn zum Lachen brachte, doch als sie nach langem Suchen nichts entdecken konnte, fragte sie ihn schließlich.
„Warum lachst du?“
„Tut mir Leid.“ grinste er weiter. „Aber ich bin ein Ferkel.“
„Was?“ Vince lachte nun leise auf und steckte sie damit an. „Wieso bist du ein Ferkel?“
Nicht immer abhauen, sondern auch mal zu langen. Das war PhilŽs Rat an ihn.
„Weil ich deinen BH gesehen habe.“
Catherine legte ihre Hand auf ihre zu einem Lächeln verzogenen Lippen und blickte an sich herunter.
„Ferkel.“ entfuhr es ihr und nun lachten beide.
„Tut mir Leid.“
„Schon gut. Es bringt mich ja nicht gleich um.“ Diesen Satz musste sie mühsam aus sich heraus quetschen und sie senkte ihren Kopf. `LarryŽ war ihr nächster Gedanke und sie umfasste ihre Wangen. Er war so schrecklich zu ihr gewesen.
Vince bemerkte schnell, wo sich Catherine in Gedanken aufhielt und versuchte sie abzulenken.
„Was hältst du davon, wenn ich dir in meinem Schrank etwas Platz mache? Dann kannst du deine Sachen rein hängen und musst nicht mit zerknitterten Blusen herum laufen?“
„Wenn da noch ein Plätzchen für mich frei ist?“
„Das kriegen wir schon hin. Guck mal. Hier nehme ich die Sachen raus. Da kommst du doch dran oder?“
„So klein bin ich nun auch nicht.“ empörte sie sich und verschränkte gekränkt die Arme.
„Ich weiß, war doch nur Spaß.“ zwinkerte er ihr entgegen und legte seine Pullover ein Fach höher zu den ShirtŽs und Sommersachen. Nachdem Catherine und er ihre Blusen und Hosen aus der Tasche in den Schrank geräumt hatten, nahm er auf seinem Bett Platz und warf die Decke etwas zurück.
„Da ich heute nicht mit deiner Anwesenheit gerechnet habe, habe ich natürlich auch nichts vorbereitet. Das heißt im Klartext, dass du um deine Decke heute Nacht kämpfen musst.“
„Damit komme ich klar.“
Ein dumpfes Grummeln erhellte den Raum und Catherine legte ihre Hand auf ihren Bauch.
„Sorry.“ entfuhr es ihr und sie strich sich durch die Haare.
„Ist doch nicht schlimm. Was möchtest du essen?“
Ratlos zuckte sie mit den Schultern. Hunger hatte sie schon, fragte sich nur auf was?
„Was hast du denn im Angebot?“
„Pizza, Brot oder lieber was Süßes?“
„Pizza wäre toll.“
„Gut, dann mach ich uns Pizza.“
Catherine nickte und schaltete erneut den Fernseher ein. Irgendein Sender musste doch etwas bringen, dass sie sich angucken konnten, doch sie zappte und zappte. Nichts, alles nur Schrott.

Vince stand in seiner kleinen Küche und schob zwei Pizzen in den Backofen. Julian schlief noch immer tief und fest und es stellte sich heraus, dass es gut war, dass er beim Mittagessen so zugeschlagen hatte. Leise schlich er sich zu Catherine zurück und nahm neben ihr auf dem Bett wieder Platz.
„Und? Schon etwas interessantes gefunden?“
„Nein. Es läuft wirklich nur Mist.“
Gefrustet legte sie die Fernbedienung beiseite und ließ sich in die Kissen hinter ihr fallen. Ihre Rippen schmerzten und ihr Bein hatte sie sich bestimmt auch gestaucht. Wut und Ohnmacht stiegen in ihr auf.
Wieder schien es, als könne Vince Gedanken lesen und so legte er sich neben sie auf die Seite und stützte seinen Kopf mit seiner rechten Hand.
„Denkst du an heute Nachmittag?“
Sie nickte ihm schweigend zu und blickte an die Decke.
„Lass dich von ihm scheiden, Catherine. Er zermürbt dich. Irgendwann wirst du nicht mehr die Kraft haben, dich von ihm zu trennen und gehst kaputt.“
Seine Worte klangen so erwachsen und vernünftig und doch fielen Catherine viele Gründe ein, sich nicht von Larry zu trennen. An erster Stelle stand natürlich das Geld, welches sie ihm noch schuldete und das war nicht wenig.
„Woran denkst du?“ fragte Vince wieder und durchdrang mit seiner ruhigen Stimme das Gequatsche des Fernsehers.
„Es ist nicht so einfach. Eine Scheidung ist teuer und außerdem spielen noch andere Sachen eine wichtige Rolle.“
„Was kann denn wichtiger sein, als deine Gesundheit und dein Wohlergehen?“
Ihr stockte kurz der Atem und sie überlegte angestrengt. Natürlich, er hatte Recht, aber er wusste auch nicht um die Schulden, die sie bei ihrem Mann hatte.
„Lass uns über etwas anderes reden, bitte.“
„Hat er dir sehr weh getan?“ bohrte Vince unbeeindruckt weiter.
„Nein.“ log sie ihn an und legte ihren Arm über ihre Augen.
„Du hast geschrien, dass er dir weh tut, also lüg mich nicht an.“
„Du hast es gehört?“
„Was glaubst du denn? Wäre ich sonst zu dir gefahren, wie ein Bekloppter? Ich habe den ganzen Streit am Telefon mitverfolgt und erst aufgelegt, als ich vor deiner Tür stand.“
„Dann habe ich dich angerufen?“
„Scheinbar schon.“
„Tut mir Leid.“
„Hat er dir sehr weh getan?“ fragte er wieder und nahm ihren Arm von ihren Augen, damit er sie ansehen konnte.
„Das hast du schon mal gefragt.“
„Und ich wurde belogen, also sag schon.“
„Du kennst die Antwort.“
Ihre Augen füllten sich mit Tränen und Vince biss sich auf die Unterlippe. Manchmal war er aber auch ein Trampel.
„Shht. Tut mir Leid. Ich wollte nicht alles wieder aufwärmen.“
Schützend legte er seinen Arm um sie und zog sie an sich heran. Catherine hörte sein Herz in seiner Brust schlagen und schloss ihre Augen, aus denen dicke Tränen perlten. Was sollte jetzt aus ihr werden? Und was sollte aus Julian werden? Wo sollten sie jetzt hin? Sie konnten ja schlecht für immer bei Vince bleiben. Er hatte auch ein Leben und das wollte er sicher nicht mit ihnen auf knapp fünfundvierzig Quadratmetern teilen.
„Ich sehe mal kurz nach den Pizzen.“ hörte sie ihn nach einiger Zeit sagen und er löste seine Umarmung. Er eilte in die Küche und rette das Essen vor dem Feuertod. Nachdem er die Pizzen in Stücke geschnitten und auf einen großen Teller drapiert hatte, schlich er zurück zu Catherine und drückte die Tür mit dem Rücken zu.
„Bedien dich.“
„Wer soll das denn alles essen?“ stirnrunzelnd blickte sie immer abwechselnd auf ihn und die Pizzen.
„Das schaffen wir schon, keine Panik.“ feixte er und nahm wieder Platz. Da CatherineŽs Wahl der Channel 5 war, starrten sie nun essend und schweigend zum Fernseher.
„Schlimm, das mit den Bränden in Australien.“ entgegnete sie ihm mit vollem Mund und verfolgte weiter die Nachrichten.
„Ja. Ich wüsste gar nicht, was ich tun sollte. Einerseits flüchten aber andererseits will man sein Hab und Gut ja auch retten.“
„Hmm.“ erwiderte sie ihm und biss wieder von ihrem Stück Pizza ab. Nach vier Stücken rieb sie sich den Bauch und sank zufrieden in die Kissen ein, die hinter ihr lagen. Die letzten zwei Stücke verputzte Vince noch und bei dem Gedanken, dass er kein Gramm Fett an sich zu haben schien, wurde Catherine richtig neidisch. Sie wurde ja schon vom Zusehen dick und er? Er konnte fast anderthalb Pizzen essen. Gemeinheit.
Vince stellte den Teller auf die Kommode neben dem Fernseher und legte sich wieder neben Catherine.
„Das waren die Nachrichten und nun viel Spaß beim acht Uhr Programm.“ flötete die Nachrichtensprecherin. Es dauerte nicht lange, bis beide die Musik erkannten, die ihnen an die Ohren hallte.
„Titanic.“ seufzte Vince.
„Stimmt.“ lächelte Catherine ihm entgegen. „Den habe ich glaube ich schon mindestens fünf mal gesehen und er ist immer wieder schön.“
„Willst du ihn gucken?“
„Willst du denn?“
„Mir ist es egal.“
Catherine richtete sich auf und blickte ihn kritisch an.
„Nicht, dass du mir vor Langeweile stirbst?“
„So schnell geht das nicht.“
Ein freches Grinsen breitete sich auf seinem Mund aus und schließlich nickte er.
„Komm her, wir decken uns zu und gucken, ja?“
„Na gut.“
Sie kuschelten sich unter die wärmende Bettdecke und vertieften sich in den Film. Als Jake und Rose schließlich halb erfroren im Wasser trieben, drehte Catherine sich zu Vince um und blickte ihn an. Seine Augen waren geschlossen, war er also vor Langeweile nicht gestorben, sondern eingeschlafen. Frechheit.
Catherine schmunzelte und hielt ihm die Nase zu. Nach einer Weile schlug Vince die Augen wieder auf und hechelte die frische Luft durch den Mund ein.
„Was tust du?“ fragte er etwas verstört und blickte Catherine an.
„Du bist eingeschlafen.“
„Oh, ach so.“
„Jetzt hast du verpasst, wie das Schiff gesunken ist.“
„Und dabei ist das die spannendste Stelle im ganzen Film.“
„Das war sehr unromantisch von dir.“
„Was soll das denn heißen? Ist doch wahr?“
„Also. Am Spannendsten ist ja wohl die Stelle, wo sie in dem Auto miteinander schlafen.“
„Wieso das denn?“
„Weil sie drohen, erwischt zu werden.“
„Also...“ Vince runzelte die Stirn und grinste sie süffisant an. „Das Untergehen des Schiffes ist meiner Meinung nach wesentlich spannender. Außerdem ist es auch romantisch. Oder sind dir die vielen tausend Lichter, die den Nachthimmel erhellen nicht aufgefallen? Und die vielen Sterne?“
Wortlos ließ sie ihren Blick durch sein Gesicht streichen und drehte sich weiter zu ihm um.
„Catherine, ich...“
Doch sie drückte ihm schon ihre Lippen auf seine und schloss die Augen. Zurückhaltend legte er seinen Arm um ihren Körper und zog sie näher an sich heran. Einerseits genoss er ihre Zärtlichkeit, jedoch kam er nicht um den Gedanken herum, dass sie nur nach etwas suchte, dass sie tröstete. Eigentlich wollte er genau das nicht denken, aber was sollte er tun? Sollte er sie von sich weg stoßen? Sie einfach ablehnen, obwohl er sie wollte? Sicher würde er es bereuen, wenn er irgendwann von ihr zu hören bekam, dass sie nur Ablenkung brauchte und sie in ihm fand, aber vielleicht wollte er jetzt, in diesem Moment, auch eine Ablenkung für sie sein?
Catherine hingegen wurde langsam fordernder und legte ihre Hand auf seine Brust, in der sein Herz raste.
„Meinst du, dass das gut ist?“ hauchte er ihr gegen die Lippen und küsste sie erneut.
„Warum nicht?“ flüsterte sie ihm entgegen und drehte sich nun komplett zu ihm. Sie ließ ihre Hand langsam an seinem Bauch herunter gleiten und vernahm nur all zu gut sein schweres erregtes Atmen.
„Sollten wir damit nicht lieber noch etwas warten?“
„Warten worauf?“ wisperte sie und setzte ihren Weg nach unten unbeirrt fort.
„Warte!“ presste er plötzlich heraus und nahm ihre Hand in seine.
„Was denn?“ irritiert sah sie in sein Gesicht und erblickte seine panischen Augen. „Alles ok. Du musst keine Angst haben, ich tu dir schon nicht weh?“
„Das ist es nicht.“
„Was dann?“
Vince rutschte Stück für Stück weiter von ihr weg, doch Catherine ließ sich so leicht nicht abwimmeln, also folgte sie ihm.
„Ich...“
„Was? Hast du keine Lust?“
„Doch schon...“
„Na also.“
Beherzt griff sie in seinen Schritt und in dem Moment polterte es laut auf und Vince lag neben dem Bett.
„Was soll das? Komm wieder her?“
„N... Das geht nicht.“ stellte er bestimmt fest und erhob sich vom kalten Boden.
„Warum nicht? Los, nun komm.“ Sie pirschte sich langsam wieder an ihn heran und umfasste seinen Hosenbund, um ihn zurück ins Bett zu ziehen.
„Halt!“ rief er wieder laut aus und Catherine blickte ihn mit großen Augen an.
„Was zum Henker ist los?!“ entfuhr es ihr nun etwas genervt. Wenn er keine Lust hatte, dann konnte er es ihr doch sagen, aber dieses Herumdrucksen ging ihr wirklich gegen den Strich.
„Wenn du keine Lust hast, dann sag es endlich Vince.“
„Das ist es nicht!“
„Was denn sonst?!“
„Ich...“ er hielt inne und überlegte. Schließlich presste er das Erste heraus, was ihm in den Sinn kam und hätte sich dafür am liebsten eine geklatscht. „Ich bin nicht rasiert.“
„Was?!“
Catherine ließ von seiner Hose ab und blickte ihm in die Augen. Im nächsten Moment rannen ihr schon Tränen über die Wangen und sie rollte sich ein vor Lachen.
„Das ist nicht komisch.“ bestimmte Vince und hob den Finger in die Luft.
„Doch, es ist komisch.“ brüllte sie los und rollte vor lachen durch das Bett.
Da war sie wieder. Diese Unsicherheit und der absolute Verlust der Selbstkontrolle. Auch wenn sie es sicher nicht böse meinte, lachte sie schließlich über ihn und das verletzte ihn. Seine Augen suchten nach einem Punkt, an dem sie sich fest krallen konnten. Catherine lag noch immer lachend vor ihm im Bett und ein Ende war nicht abzusehen. Seine Zähne gruben sich schmerzhaft in seine Unterlippe und er atmete tief durch. Weg hier, nur weg hier. So schnell wie möglich.
„Tut mir Leid.“ piepste er noch kurz, bevor er die Schlafzimmertür aufriss und im Badezimmer verschwand. Catherine versuchte sich zu beruhigen, denn Julian schlief und er sollte nicht aufwachen. Außerdem war es ohne den Geschädigten nicht mal halb so lustig. Sie stand auf und zog ihren Pulli, der sich durch das Herumrollen nach oben geschoben hatte, wieder herunter. Leise schlich sie an Julian vorbei und lehnte ihre Stirn gegen die Tür des Badezimmers. Ihre Augen weiteten sich entsetzt, als sie die kläglichen Geräusche aus dem Raum hinter der Tür vernahm. Hatte sie ihn damit etwa verletzt?
„Vince?“ flüsterte sie gegen die Tür und die Geräusche verstummten.
„Ich komme gleich. Geh ruhig wieder ins Bett.“ hörte sie ihn gefasst sagen und nickte schweigend. Sie wickelte sich in die Decke und blickte an die Wand. Warum hatte er sich so dagegen gesperrt? Catherine schüttelte den Kopf und ließ alles noch einmal vor ihrem geistigen Auge abspielen.

Vince blickte in den Spiegel und hätte diesen Typ, der ihn so dumm anglotzte am liebsten eine geschmiert.
Was? Guck mich doch nicht so an? Ich habe so reagiert, wie es zu erwarten war. Alles ist in Ordnung. Sie fand es doch nur ein wenig lustig und hat nur deshalb so gelacht. Es war nicht wegen dir oder deiner Person.
Vince senkte seinen Blick und stützte sich auf sein Waschbecken.
„Nicht rasiert.“ flüsterte er vor sich hin und musste nun auch leise lachen. Was für ein dummer Spruch. Natürlich war es lustig. Kein Wunder, dass sie so lachen musste. Und er? Er war mal wieder geflüchtet. Phil würde ihm jetzt wahrscheinlich eine Kopfnuss geben. Verdient, versteht sich. Sein Blick schweifte auf das kleine Regal neben dem Waschbecken, auf dem ihm die scharfen Klingen seines Rasierers entgegenblitzten. Entschlossen griff er nach einer und hielt sie unter den Wasserhahn. Wenn er nicht rasiert war, würde er es jetzt ändern. Er hatte es satt. Jetzt lag es an ihm alle Fluchtmöglichkeiten aus dem Weg zu räumen. Nachdem er sich fertig gemacht hatte, wanderte seine Hand in die kleine Schublade des Regals und fischte nach der Packung Kondome, die er damals gekauft hatte. Er kam sich so idiotisch vor. Mit einem verunsicherten Blick musterte er noch einmal sein Gesicht und zog einige Grimassen. Schließlich glitt eines der Präservative in die Tasche seiner Jogginghose un
d er schaltete das Licht aus. Leise schlich er sich zum Schlafzimmer zurück und schloss die Tür hinter sich. Catherine lag breit über dem Bett verteilt und hatte die Augen geschlossen. Zu tiefst enttäuscht und andererseits überaus glücklich betrachtete er sie und schaltete den Fernseher aus, der noch immer lief.
Sachte schob er Catherine etwas zur Seite und legte sich neben sie. Durch die Jalousie an seinem Fenster blitzte wieder der Mond, so wie es immer war. Alles war so wie immer. Nur dass eine Frau neben ihm lag. Er drehte sich auf die Seite und blickte durch die Spalten seiner Jalousie nach draußen.

Catherine blinzelte in die Dunkelheit, die sie umgab und lauschte angestrengt in die Nacht hinein. Sie vernahm VinceŽ Atem und starrte wieder an die Decke. Er war wahrlich nicht der Typ Mann, wie sie ihn schon so oft kennengelernt hatte. Und sie? Sie hatte sich benommen, wie ein dummes Flittchen, die sich jedem fremden Mann gleich an den Hals wirft und die Beine breit macht. Ihre Hände krallten sich in die Bettdecke und sie stierte wütend gegen die Wand. Tief holte sie Luft und blies sie durch ihr Gesicht.
„Du bist ja noch wach.“ hörte sie Vince plötzlich flüstern und schloss wie mechanisch die Augen. „Nun hör schon auf, Catherine. Ich habe dich gehört.“ flüsterte er weiter und drehte sich zu ihr.
„Das kann nicht sein, denn ich schlafe.“ murmelte sie vor sich hin und kniff weiter die Augen zu.
„Du schläfst also?“ seine Stirn legte sich in nachdenkliche Falten.
„Ja genau. Siehst du nicht, dass meine Augen geschlossen sind?“
„Schon, aber meinst du, dass das ein Zeichen dafür ist, dass du schläfst?“
„Natürlich.“
„Und wieso redest du dann mit mir?“
„Ich rede immer im Schlaf.“
Er drehte sich auf den Rücken und fing an zu kichern.
„Du bist komisch, Catherine.“
„Du auch. Haust einfach ab.“
„Tut mir Leid, dass ich eben so bockig war.“
„Schon gut. Aber eigentlich hatte ich nicht gedacht, dass du mein Lachen gleich so Ernst nehmen würdest.“
„Naja...“ seine Unsicherheit stieg wieder auf und dieses dusselige Kondom in seiner Tasche begann unsanft in sein Bein zu pieksen.
„Wenn du es nicht möchtest, dann musst du es mir sagen, Vince.“
„Ich weiß.“
„Warum schweigst du dann?“
„Naja, ich... Es ist ja nicht so, dass ich es nicht wollte.“
„Ist es wegen mir? Wenn ich dir zuwider bin, dann sag etwas.“
„Zuwider?! Du mir?! Niemals.“
„Aber es muss doch einen Grund geben, warum du so abblockst?“
„Ich finde es einfach ein wenig zu früh. Ich meine, wie lange kennen wir uns jetzt? Etwas mehr als eine Woche. Ich möchte bei dir nicht den Eindruck erwecken, dass ich dich nur ins Bett kriegen will.“
„Da mach dir mal keine Gedanken, diesen Eindruck habe ich nicht. Vielmehr denke ich, dass du so über mich denkst.“
„Was? Ach Quatsch.“ Vince ließ seinen Kopf in sein Kissen fallen und fing an zu kichern. „Du redest wirres Zeug. Wahrscheinlich Schlafmangel.“
„Das wird es wohl sein.“ gab sie ihm enttäuscht zurück und zog die Bettdecke über ihren Kopf.
„Meine Füße liegen frei.“ lachte er ihr plötzlich entgegen und zog die Bettdecke wieder runter.
„Ich will mich jetzt aber eingraben.“ schmollte sie ihm entgegen und zog die Decke wieder hoch.
„Aber meine Füße erfrieren!“ Decke runter.
„Mein Kopf auch.“ Decke hoch.
„Catherine, ich flehe dich an, meine armen Füße.“
„Ich muss die Decke aber hier lassen.“
„Warum denn? So kalt ist es doch nun auch wieder nicht.“
„Ich kann dir nicht in die Augen sehen.“
„Was? Wieso denn nicht?“
Zaghaft zog er die Decke wieder runter und drehte sich zu ihr.
„Weißt du, ich habe vorhin gedacht, dass du nur deswegen nicht mit mir schläfst, weil du mich vielleicht zu alt findest. Ich meine, ich bin zweiunddreißig. Ich bin verheiratet und werde mit jedem Tag älter.“ Ihre Stimme begann zu zittern und sie legte ihre Hände auf ihr Gesicht. „Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich schon wieder abgewiesen werde.“
„Cathy...“ kurz atmete er heftig ein und überprüfte ihre Reaktion auf ihren Namen. „Ich weise dich doch nicht ab, nur weißt du, ich bin wirklich was das angeht etwas zurückhaltender. Ich falle nicht gern mit der Tür ins Haus. Du bist eine wirklich hübsche Frau und nichts bereitet mir mehr Kopfzerbrechen, als die Angst, dass ich dich mit irgendeiner Dummheit von mir verletzen könnte. Und um ehrlich zu sein, mir ist es scheiß egal, wie alt du bist. Nur... Gib mir noch etwas Zeit, ja?“
Durch ihre Finger blinzelte sie ihm zu und erkannte seine Umrisse im Schatten des Mondes. Seine Haare standen wild von seinem Kopf ab und wirkten zerzaust und doch wirkte er geordnet und erwachsen auf sie. Warum auch nicht, mit fünfundzwanzig ist man schließlich kein Kind mehr, obwohl seine Augen manchmal wirklich sehr kindlich wirkten. Genau, wie vor ein paar Minuten, als sie so panisch zu ihr blickten. Sie hatte sie einfach ignoriert und im Nachhinein ärgerte sie sich darüber, denn männliche Erregung sah weiß Gott anders aus. Und doch wollte es ihr nicht so recht dämmern, warum er sich vor ihr geflüchtet hatte.
„Habe ich dir irgendwie Angst gemacht?“ fragte sie nach einiger Zeit und nahm die Hände vom Gesicht. Ein dicker Kloß bewegte sich auf seine Stimmbänder zu und war schon im Begriff sich dort einzunisten. „Ach vergiss es. War eine dumme Frage.“
Mit diesen Worten kehrte sie ihm den Rücken zu und schloss die Augen.
„Keine Angst, nur etwas Panik, weil ich nicht darauf vorbereitet war.“ flüsterte er ihr ins Ohr und kuschelte sich von hinten an ihren Rücken. Wieder lief ihr ein wohliger Schauer über den Körper und so schliefen sie beide ein.

Es war kurz nach zwei Uhr nachts, als Larry das Krankenhaus verließ. Mit letzter Kraft hatte er den Notarzt rufen können und wurde dort hin gebracht. Mit einem Verband um den Arm und einer Packung Schmerzmittel wurde er nun entlassen und stand auf dem Gehweg an einer stark befahrenen Hauptstraße. Um ihn herum drehte sich alles und noch immer pulsierte sein rechter Arm bis hoch in die Schulter. Er zündete sich mühsam eine Zigarette an und blickte sich suchend um, bis schließlich ein Auto vor ihm hielt und die Beifahrertür aufgestoßen wurde.
„Da bist du ja endlich.“ maulte er etwas genervt und stieg ein.
„Na hör mal. Ich habe mich wirklich beeilt. Du weißt selber, wie lange ich brauche, bis ich in der Stadt bin. Wie ist das überhaupt passiert?“
„Ach, dumme Geschichte. Lassen wir das Thema.“
„Gib mir erstmal einen Kuss, Larry.“
Er beugte sich zu ihr herüber und küsste Madeleine auf den Mund.
„Wenn du willst, können wir heute bei mir schlafen. Meine Frau ist heute Nacht nicht da.“
„Ich habe doch gar keine Wechselsachen mit.“
„Dann schlafe ich bei dir?“ grinste er ihr breit entgegen und Madeleine nickte ihm schließlich zu. Sie setzte den Blinker und schlängelte sich in den dichten Verkehr. Nach einer halben Stunde Fahrt parkte sie ihren Wagen in einer kleinen Nebenstraße und beide stiegen aus. Larry blickte sich um und sog die kalte Nachtluft ein. Hier fühlte er sich wohl, auch wenn er manchmal fand, dass er mehr Gast als alles andere war. Er folgte Madeleine in ihre kleine Wohnung und schloss hinter sich die Wohnungstür.
„Ich wusste nicht, dass du heute kommen würdest, also sei mir nicht böse, dass nicht so aufgeräumt ist.“
„Schon gut. Wollen wir noch etwas fern sehen?“
„Bist du verrückt? Ich muss morgen oder besser heute noch arbeiten. Ich gehe schlafen. Komm mit oder sieh fern.“ reagierte sie spitz und etwas gekränkt über seine Frage. Ihm musste doch endlich mal klar sein, dass ihre Arbeit wichtig war und sie sie nicht vernachlässigen durfte. Immerhin verdiente sie damit ihr Geld. Sie entkleidete sich und warf die Sachen unordentlich über die Lehne des Sofas. Larry sah ihr kurz nach und folgte ihr schließlich ins Schlafzimmer, indem die Rollos bereits herunter gelassen waren.
„Kannst du mir beim Ausziehen helfen?“
„Sicher.“ entgegnete sie ihm trocken und nachdem sie ihn mühsam entkleidet hatte, legten sich beide schlafen.

Als Vince die Augen aufschlug, fiel sein erster Blick auf den Wecker neben sich. In zehn Minuten würde er klingeln und er würde aufstehen. Kurzerhand schaltete er den Weckruf aus und blickte zu Catherine. Sie lag eingekuschelt neben ihm und schlief noch immer tief und fest. Leise schlich er sich aus dem Schlafzimmer und weckte Julian. Nachdem er ihn angezogen hatte, machte auch er sich fertig und sie verließen gegen acht das Haus. Julian gähnte während der ganzen Fahrt und war im Begriff wieder einzuschlafen. Entschlossen drehte Vince das Radio auf und blickte wieder in den Rückspiegel.
„Hast du gut geschlafen?“
Ein müdes Nicken erreichte ihn und er blickte wieder auf die Straße.
„Gestern, da hatte ich Angst.“ hörte er Julian plötzlich leise sagen und trat die Bremsen seines Wagens bis zum Anschlag durch. Die ihm folgenden Autos hupten laut und die Insassen zeigten ihm den Scheibenwischer, als sie ihn immer noch laut hupend überholten. Vince parkte den Wagen zweiter Reihe an der Straße und drehte sich zu dem Jungen um.
„Sag das nochmal.“
Doch Julian schwieg und wagte es nicht, aufzublicken.
„Julian, hör mal. Wenn deine Mama wieder da ist, kannst du wieder zu Hause schlafen. Ich weiß, dass es dir bei Tante Catherine nicht sonderlich gut gefällt, aber sie gibt sich wirklich Mühe.“
„Es ist nicht wegen Tante Cathy. Es ist wegen Onkel Larry. Er hat geschrien und es war so laut und Tante Cathy hat geweint und mich wieder ins Gästezimmer eingesperrt, weil der Onkel so böse auf mich war. Ich war frech.“
„Wieso warst du frech?“
„Ich habe gesagt, dass ich ihn doof finde.“
„Und was war dann?“
„Dann wollte er mich hauen, aber Tante Cathy hat mich weggenommen und dann hat er die Lampe getroffen und dann...“ Julian brach ab und dicke Tränen rollten an seinen kleinen Wangen herunter. Vince blickte in den Rückspiegel und stieg bei der sich bietenden Gelegenheit aus, um zu Julian auf den Rücksitz zu gelangen.
„Da war deine Tante aber ganz schön mutig was? Genau so mutig, wie du. Auch wenn man so etwas nicht zu anderen sagt, Julian.“
„Aber es stimmt doch. Onkel Larry ist blöd und gemein.“ wimmerte er ihm entgegen und wischte sich mit den Fingern durch sein kindliches Gesicht. Vince schloss ihn in seine Arme und schaukelte ihn sanft hin und her. Es schien ewig zu dauern, bis sich der Junge wieder zu beruhigen schien und erst gegen kurz vor neun stieg Vince wieder vorne ein und brachte ihn zum Kindergarten. Nachdem er ihn zu seinen Freunden gebracht hatte, unterhielt er sich noch etwas mit seiner Kollegin, die ihn für den heutigen Tag vertreten würde.
„Außerdem möchte ich, dass du auf Julian ein Auge hast. Er ist seit gestern ziemlich durcheinander.“
„Was war denn los?“
„Eine lange Geschichte. Ich erzähle es dir ein anderes Mal. So, ich muss los. Wenn etwas ist, meine Handynummer hast du?“
„Ja die habe ich.“
„Gut, dann bis heute Nachmittag. Ich hole ihn gegen drei ab.“
„Ist ok. Bis dann.“
„Bis dann.“
Er strich Julian noch einmal beruhigend über den Kopf und verließ recht geknickt den Kindergarten. Der Junge hatte mehr mitbekommen, als er sich erhofft hatte. Auch wenn Catherine ihn wieder in das Gästezimmer gesperrt hatte, um ihn vor größeren Schäden zu bewahren, er hatte es gehört und schon das allein reichte, um aus seiner kleinen bunten Welt ein einziges Chaos zu machen. Warum nur hatte er nicht früher bei den beiden sein können? Dabei ist er doch schon so schnell wie möglich losgefahren und hatte sich extra beeilt und doch schien die Hilfe zu spät gekommen zu sein. Seine Kiefer arbeiteten gegeneinander und an seinen Schläfen drückten sich deutlich sichtbar ein paar Adern hervor. Dieser Bastard! Dieser Gottverdammte Bastard!!!
Er stieg in seinen Wagen und hielt noch kurz beim Supermarkt, um für sich und Catherine etwas zum Frühstück zu besorgen.

Catherine schlug um kurz nach halb zehn die Augen auf und blickte sich vollkommen irritiert um. Sie war durchgeschwitzt und ihre langen Haare standen wirr vom Kopf ab. Sie warf die Bettdecke zurück und stand auf, um sich einen Überblick zu verschaffen. Nach einiger Zeit dämmerte es ihr, wo sie war und warum sie hier war. Tränen stiegen in ihren Augen auf und sie klopfte sich auf die Wangen, um sich selbst etwas mehr unter Kontrolle zu bringen. Sie nahm sich ein paar Sachen aus dem Schrank und legte sie mit dem Handtuch zusammen über ihren Arm. Nachdem sie die Badezimmertür verschlossen hatte, schälte sie sich aus ihren Wohlfühlkleidern und blickte an ihrem Körper herunter. Erste Blutergüsse wurden sichtbar und wieder drückte es Catherine Tränen der Verzweiflung, der Ohnmacht und der Angst in die Augen. Sie erinnerte sich an VinceŽ Worte, die ihr strikt verboten, ihre Wohnung noch einmal zu betreten. Angestrengt dachte sie nach, was überhaupt alles geschehen war und wie Vince
es geschafft hatte, ihren Mann so schnell zu Fall zu bringen. Er lag auf dem Boden und rührte sich nicht. Nur ihrer Contenance hatte sie es zu verdanken, dass sie sich nicht dazu herabgelassen hatte, ihm ins Gesicht zu spucken. Dem Mann, vor dem sie sich nun ängstigte und der ihr sogar bis in die Träume gefolgt war. Sie huschte unter die Dusche und trocknete sich schnell wieder ab, als sie Geräusche von der Wohnungstür vernahm. Ihre Bewegungen wurden immer schneller und schließlich warf sie noch einen Blick in den Spiegel, bevor sie das Badezimmer wieder verließ.
„Ah, wie ich sehe bist du schon wach. Ich war eben noch einkaufen. Außerdem habe ich Julian in den Kindergarten gebracht. Hast du Hunger?“
Catherine stand noch immer im Türrahmen des Badezimmers und schwieg. Vince, der bis eben die Einkäufe in den Kühlschrank geräumt hatte, blickte nun zu ihr und seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Ihr Hals, ihre Arme, die Lippe. Alles blau und teilweise rot unterlaufen.
„War es deswegen?“ fragte sie schließlich. „Hast du deswegen nicht mit mir geschlafen?“ Sie brach in Tränen aus und empfand sich gleichzeitig als so unglaublich kindisch. Schließlich hatte er ihr doch erklärt, warum er nicht mit ihr schlafen wollte. Wie kam sie also auf diese hirnrissige Idee?
„Catherine, hör mir jetzt genau zu. Ich habe dir bereits gestern erklärt, was meine Gründe sind und ich verlange von dir, dass du das akzeptierst und nicht ständig nach neuen Ursachen suchst, warum ich nicht mit dir geschlafen habe. Willst du, dass ich dich behandle, wie eine Nutte vom Strich? Willst du das?“
„Vielleicht wäre es im Moment genau das, was ich brauche?“ giftete sie ihn plötzlich an und wusste selbst nicht genau, warum sie es tat, denn im Grunde war sie ihm ja dankbar.
„Du willst also, dass ich dich behandle, wie ein Mädchen vom Strich?“ seine Stirn legte sich in Falten und er ließ die Einkaufstüten achtlos vor dem geöffneten Kühlschrank stehen.
„Vielleicht?“ sie verschränkte die Arme und zog einen Schmollmund. Natürlich sollte er sie genau so nicht behandeln, doch sie hatte es herausgefordert und durfte sich über seine Reaktion nicht wundern, denn er kam auf sie zu und zerrte sie ins Schlafzimmer. Unsanft warf er sie auf das Bett und legte sich auf sie. Ihre Rippen schmerzten und seine Küsse drückten ihr fast die Luft ab. Nach einer Zeit wurde es ihr zu viel und sie presste ihn mit aller Kraft von sich weg.
„Lass das endlich!“ schrie sie und richtete sich wieder auf. Vince hingegen stellte sich neben das Bett und strich sich mit dem Handrücken über seine geröteten Lippen. Unter Tränen blickte er sie an.
„Das war es doch, was du wolltest, als beschwere dich nicht bei mir!“
Laut knallte er die Tür zum Schlafzimmer hinter sich zu und ließ Catherine allein zurück. Entsetzt blickte sie gegen die schweigende, nichtssagende Wand und erhoffte sich doch, von ihr irgendwelche Antworten zu erhalten. Larry hatte nach und nach ihr Leben verkorkst und nun war sie im Begriff Vince das gleiche anzutun. Ihre Faust schlug tief in das Kissen neben ihr ein und sie seufzte entsetzt auf, denn sein leises Schluchzen war selbst durch die geschlossene Tür zu hören. Wie konnte sie nur?
Vince saß auf dem Sofa und strich sich immer wieder über seine Lippen. So ekelhaft, wie er gerade zu ihr gewesen war, hatte er noch nie eine Frau behandelt und Gewissensbisse durchzogen seinen Körper. Nicht ein Stück erregend war es, von Romantik ganz zu schweigen. Er war eben nicht der Typ Mann, der eine Frau nahm und dann liegen ließ, wie ein Stück Dreck. So, wie er es gerade getan hatte.
„Es tut mir Leid, Vince.“ hörte er plötzlich ihre Stimme und wischte sich seine Tränen aus den Augen.
„Bitte, es tut mir doch so Leid.“ wimmerte sie und schließlich sprang er auf und eilte zu ihr ins Schlafzimmer, damit er sie und auch sich ein wenig trösten konnte. Sie lagen sich minutenlang in den Armen und schwiegen sich an.
„Du hattest Recht Vince. Ich war dumm. Es tut mir Leid.“
„Shht.“ hauchte er ihr ins Ohr und drückte sie noch ein wenig fester an seine Brust. „Lass uns etwas essen und dann überlegen wir, was wir heute schönes machen ja?“
Sie nickte ihm gehorsam zu und er hauchte ihr noch einen Kuss auf die Lippen.
„Was möchtest du essen? Ich habe Brötchen geholt und da ich nicht wusste, ob du süß oder herzhaft frühstückst, habe ich einfach von allem ein bisschen gekauft.“
„Also am liebsten süß.“ brachte sie wieder etwas gefasster heraus und verschaffte sich einen kurzen Überblick.

Larry schloss seine Wohnung auf und blickte sich um. Er legte die Stirn in Falten und blickte auf seinen bandagierten Arm. Die Wohnung sah aus wie ein Trümmerfeld und es war ruhig, fast schon tot. Catherine war gestern also nicht mehr nach Hause gekommen und der kleine Junge, dessen Name ihm im Moment nicht einfallen wollte, auch nicht. Er atmete tief durch und schloss die Wohnungstür hinter sich. Auf dem Boden lagen Scherben und die kleine Leselampe aus der Stube war auch hin. Im Badezimmer brannte noch immer Licht und auf dem Boden waren unzählige Blutspritzer verteilt. Kurz blickte er weiter in den Raum und entdeckte ein dickes Büschel Haare, die eindeutig von Catherine stammten.
„Was habe ich nur getan?“ Mit der linken Faust schlug er sich vor seinen Kopf und blickte sich weiter um. Die Tür zum Gästezimmer war aufgebrochen und überall lagen kleine und größere Holzsplitter am Boden. Einer der Stühle lag am Boden und der Teppich vor der Tür war aufgerissen. Sie hatte also sogar einen Stuhl gegen die Tür gestemmt, damit er sie nicht auf bekam. Die Stuhlbeine hatten sich in den Teppich gefressen und ihn zerrissen. Entsetzt machte er ein paar Schritte rückwärts und blickte in die Küche. Der Tisch aus der Essecke lag gegen die Küchenzeile gelehnt und ein Bein hatte wohl einen Knacks bekommen und hing lose herunter.
„Ein Schlachtfeld.“ murmelte er vor sich hin und sah sich weiter um. Er schlich sich ins Schlafzimmer. Die Türen und Schubladen sämtlicher Schränke waren aufgerissen und einige Sachen seiner Frau fehlten. Dieser Typ vom Vorabend hatte sie sicher mitgenommen. Doch, wer war dieser Mann? Er hatte ihn noch nie zuvor gesehen und nun zermürbte er sich den Kopf über ihn. Vielleicht war es ein guter Freund von ihr. Oder es war ein Nebenbuhler. Seine Schläfen begannen zu pulsieren und er begann hastig CatherineŽs Kommode zu durchwühlen. Vielleicht ließ sich irgendetwas finden, dass ihm den Beweis dafür erbrachte. Er wühlte sich durch Berge von Unterwäsche und Socken, doch er wurde einfach nicht fündig. Sein Blick raste durch das Zimmer und verharrte an den Orchideen, die seine Frau so liebte und hütete, wie ihren Augapfel. Wutentbrannt zertrümmerte er die Blumentöpfe auf dem Boden und zertrat die zarten Triebe der Pflanzen.

Vince schlug die Zeitung auf und ging akribisch jede Wohnungsanzeige durch. Nie wieder sollte Catherine auch nur einen Schritt in diese Höllenschlucht setzen, die sie ihr zu Hause nannte.
„Ein oder zwei Zimmer?“
„Naja. Zwei mindestens, sonst gehe ich ja ein.“ flötete sie müde über den Küchentisch und legte den Kopf schief.
„Das hier klingt doch gut? Zwei Zimmer, Küche, Bad mit Dusche. Balkon und Keller. Nach Wunsch auch mit Einstellplatz für PKW.“
„Und wo?“
„Oh, ach ja. Nein, da solltest du besser nicht wohnen. Das ist ja fast schon die Bronx!“ lachte er und suchte weitere Anzeigen heraus. Mit erhöhter Anstrengung verfolgte Catherine seinen Bewegungen und rieb sich nach kurzer Zeit die Augen. Vince blickte zu ihr auf und runzelte die Stirn.
„Alles in Ordnung?“
„Mir ist schwindelig.“ stellte sie etwas zittrig fest und versuchte sich am Stuhl hochzuziehen.
„Bleib lieber sitzen.“ Er stand auf und eilte um den Tisch, als er sah, wie sie es wieder versuchte, aufzustehen.
„Vince, mir geht?s nicht gut.“ röchelte sie ihm plötzlich entgegen und kippte vorn über auf den Tisch. Sein Herz begann zu rasen und er griff nach seinem Telefon, um den Notarzt zu verständigen.
„Was ist passiert?“ rief die männliche Stimme am anderen Ende.
„Sie ist einfach umgekippt. Sie meinte noch, dass ihr schwindelig sei und dann ist sie einfach umgekippt.“
„Können Sie einen Puls feststellen?“
„Moment.“ er kniff das Telefon zwischen Schulter und Ohr und tastete an ihrem Hals.
„Nein!“ brüllte er plötzlich schrecklich aufgelöst in den Hörer und Panik stieg in ihm auf.
„Immer die Ruhe bewahren. Es könnte ein sehr schwacher Puls sein. Kontrollieren Sie die Atmung.“
„Wie denn?“ winselte er total überfordert.
„Legen Sie ihr Ohr auf ihren Brustkorb und blicken Sie dann auf ihren Bauch, ob er sich hebt und senkt.“
„Aber sie sitzt ja noch am Tisch.“
„Können sie sie hinlegen?“
„Schicken Sie doch endlich einen Arzt.“
„Der Arzt ist bereits unterwegs. Legen Sie die Frau hin, wenn es Ihnen möglich ist.“
„Gut, warten Sie.“
Er legte den Hörer auf die Arbeitsplatte und blickte wieder zu ihr.
„Cathy. Hey!“ sachte klopfte er ihr auf die Wangen und hoffte auf eine Reaktion, doch sie blieb stumm und so trug er sie kurzerhand zurück ins Schlafzimmer.
„Sie liegt!“ rief er nach kurzer Zeit in den Hörer und presste selbigen wieder ans Ohr.
„Gut, dann prüfen Sie jetzt die Atmung.“
Vince beugte sich über sie und blickte auf ihren Bauch. Sachte hob er sich an und senkte sich wieder.
„Sie bewegt sich.“ wimmerte er und rieb sich seine tränennassen Augen.
„Sehr gut. Halten Sie noch etwas durch, der Arzt ist sicher gleich bei Ihnen.“
Und tatsächlich. Nach ein paar Minuten, die Vince wie eine Ewigkeit erschienen, klingelte es und er rannte vollkommen aufgelöst zur Tür. Zwei Sanitäter und ein Notarzt stürmten in seine Wohnung und untersuchten Catherine nur kurz, bis sie entschieden, sie ins Krankenhaus zu bringen.
„Was hat sie denn?“ schrie er die Sanitäter immer wieder an und kam überhaupt nicht zur Ruhe.
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Auf jeden Fall muss sie jetzt ins Krankenhaus.“ endlich hatte sich einer der drei Zeit für ihn genommen und beantwortete wenigstens zum Teil seine Fragen.
„Ist es sehr schlimm?“
„Wie gesagt, ich kann Ihnen nichts näheres sagen. Ihre Arme und ihr Bauch sehen übel aus. Wissen Sie, woher das kommt?“
Vince senkte seinen Blick und nickte.
„Ihr Mann.“ stellte er nur in den Raum und wandte den Blick wieder zu Catherine, die mittlerweile auf einer Trage lag und wirkte, als würde sie tief und fest schlafen.
Der Sanitäter runzelte die Stirn und drehte schließlich ab, um beim Tragen zu helfen. Die Tür krachte noch laut und Vince blieb allein in seiner Wohnung zurück. Mit seiner Hand wischte er sich über den Mund und schnaufte tief durch. Mit einem Satz sprang er zur Tür und riss sie wieder auf.
„In welches Krankenhaus bringen Sie sie?“ brüllte er den Männern noch nach.
„Ins städtische!“ rief der Sanitäter noch und schon fiel die Haustür ins Schloss.

Nach knapp zehn Minuten traf der Krankenwagen in der Klinik ein und Catherine wurde direkt in die Notaufnahme gebracht, wo auch schon Dr. Vivianne Foster bereitstand und auf sie zu stürmte.
„Was haben wir?“ fragte sie gestresst und folgte den Sanitätern, die Catherine in den Behandlungsraum eins schoben.
„Massive Gewalteinwirkung im abdominalen Bereich. Wir vermuten eine Schlägerei.“
„Hat sie irgendwelche Drogen genommen?“
„Erste Tests waren negativ.“
„Gut. Ein Blutbild und ein CT, schnell. Seit wann ist sie bewusstlos?“
„Bereits, seit wir eingetroffen sind.“
„Das ist schlecht. Irgendwelche Auffälligkeiten beim EKG?“ Dr. Foster hörte Catherine ab und blickte fragend zum Sanitäter. „Hallo? Was sagt das EKG?!“
„Keine Störungen im Herzrhythmus.“
Sie verdrehte genervt die Augen und konzentrierte sich nun wieder mehr auf ihr Stethoskop.
„Blutdruck fünfundachtzig zu sechzig!“ rief eine Schwester dazwischen und blickte die Ärztin alarmierend an.
„Ich brauche sofort einen Abdominal CT Scan! Beeilung!“
„Der Blutdruck fällt weiter!“
„Verdammt!“ Dr. Foster hängte sich ihr Stethoskop um den Hals und blickte die Schwester an. „Ein Liter Kochsalz und sagen Sie oben Bescheid. Die sollen einen Psychologen bereithalten wenn sie wieder aufwacht. Wer weiß, was sie durchgemacht hat.“
Im nächsten Moment riss eine Pflegekraft die Tür zum Behandlungsraum auf und fuhr Catherine zum CT. Dr. Foster eilte ihr nach und schmiss die Tür der CT-Abteilung zu.

Vince saß regungslos und wie eingefroren auf dem Sofa. Er starrte schon seit Minuten auf die selbe Stelle am Boden und fuhr sich schließlich mit den Händen durch die Haare. Was hatte Larry nur mit ihr gemacht? Warum konnte er nicht schon früher da sein? Eine tiefe Ohnmacht riss ihm den Boden unter den Füßen weg und seine Gedanken drehten sich um ihn, als läge er in einer Art Trance. Hätte er bereits beim ersten Klingeln abgehoben oder wäre er noch schneller gefahren, dann hätte er sich etwas schlimmeres verhindern können, doch jetzt war es dafür zu spät. Catherine war vor seinen Augen zusammengebrochen und er hatte ihr nicht helfen können. Er hatte den Notarzt gerufen, doch er sah sich nicht mal dazu in der Lage ihren Puls zu messen. Seine Hände umfassten seinen Schopf noch fester und einzelne Haare gaben dem starken Zug bereits nach.
Er musste zu ihr, sofort! Er schnappte sich seinen Autoschlüssel und verließ Hals über Kopf die Wohnung.

„Massive Hämorrhagie im gesamten Abdomen.“ murmelte Dr. Foster vor sich hin und starrte weiter auf die Monitore, die vor ihr standen und die Untersuchungsaufnahmen darstellten. „Einzeitige Milzruptur. Sofort in den OP mit ihr!“ schrie sie und eilte aus der CT-Abteilung zurück in die Notaufnahme, wo bereits der nächste Rettungswagen eintraf.

„Ich suche eine Miss Catherine Hoover. Sie muss vor einer halben Stunde oder so eingeliefert worden sein.“ Vince fummelte am Reißverschluss seiner Jacke herum und stieg von einem Bein auf das andere. Der ältere Herr, der ihm gegenüber an der Rezeption saß, warf einen Blick in den Computer.
„Tut mir Leid, ich kann sie zwar als eingeliefert erkennen, aber ihr wurde noch kein Zimmer zugewiesen.“
„Was soll das heißen? Ist sie noch in der Notaufnahme?“ seine Fragen wurden hektischer und der Reißverschluss hielt dem Geziehe und Gezerre kaum noch Stand.
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie wird hier noch als ambulant angezeigt.“
„Wo ist die Notaufnahme?“
„Hören Sie, sollte diese Miss Hoover tatsächlich noch dort sein, dann können Sie ihr eh nicht helfen. Nehmen Sie dort hinten Platz und sobald sich Neuigkeiten ergeben, werde ich Sie informieren.“
Vince holte gerade Luft, um zu protestieren, doch im Grunde hatte der Mann an der Rezeption Recht und so nickte er schließlich und nahm Platz. Die Zeit verging und zog sich doch wie Kaugummi. Vince blätterte durch unzählige Magazine und stierte eine Weile lang auf den kleinen Fernseher, der an einer Halterung an der Wand angebracht war. Es liefen die Nachrichten auf Channel 5, doch Vince maß dem keine Bedeutung bei. Springfluten, Hurrikan, Erdbeben. Ihm war es egal, Hauptsache Catherine ging es gut.

Catherine schlug die Augen auf und blinzelte dem schwachen Licht, das direkt über ihrem Kopf brannte, zu. Sie fühlte sich wie betäubt, als hätte man sie mit irgendetwas geimpft, dass den gesamten Körper lähmte. Ihr war übel und ihr Mund war so schrecklich trocken, dass ihre Lippen aneinander klebten. Für sie wirkte es, als müsste sie schon seit Stunden damit kämpfen und so riss sie den Mund auf, damit sich ihre Lippen voneinander trennten. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Licht und sie sah sich um. Über ihr, um sie herum einfach überall diese gekalkten, weißen Wände. Nur eine mintgrüne Bordüre zerriss dieses furchtbar eintönige Bild und fesselte kurz ihre Aufmerksamkeit. Und dann dieses monotone Piepen. Es nervte sie. Am liebsten wäre sie mit verschlossenen Ohren aus diesem Raum geflüchtet, doch sie war so schwach. So unendlich schwach.
„Miss Hoover?“ hörte sie eine weibliche Stimme sagen und versuchte dieses verschwommene Geräusch zu orten. „Miss Hoover? Verstehen Sie mich?“
Sie erblickte den Umriss der Frau, sie stand direkt neben ihr und doch war ihre Stimme Meter weit entfernt und so kniff Catherine eisern ihre Augen zu.
„Miss Hoover, Sie sind im Krankenhaus. Hallo? Hören Sie mich?“
`Krankenhaus? Was soll ich hier? Vince? Vince, wo bist du?Ž
„Das Narkosemittel lässt gleich nach. Danach bringen wir Sie auf Station.“
Catherine ließ all die Worte über sich ergehen und schlief wieder ein.

Nach knapp drei Stunden endlich wurde Vince durch den Rezeptionisten aus seiner Trance geholt.
„Hallo? Sie da!“
„Ich?“ fragte Vince verstört und drehte sich zu dem älteren Herren um.
„Ja genau. Kommen Sie.“
„Wissen Sie etwas Neues?“
„Sie ist jetzt auf die Unfallchirurgie verlegt worden. Zimmer einhundertfünfzig. Fahren Sie mit dem Aufzug in die zweite Etage und dann halten Sie sich rechts.“
„Vielen Dank!“
Vince stürmte auf die Fahrstühle zu und zwängte sich in letzter Sekunde in die Kabine eines Lifts, der bereits die Türen schloss.
„In die zweite.“ hechelte er aufgeregt der Schwester entgegen, die ihn verdutzt ansah. Unsicher stieg er dann wieder aus und blickte sich um. Überall diese sterilen Wände und dieser schreckliche Krankenhausmief. Er ließ seine Hände in seine Jackentaschen gleiten und biss sich auf die Unterlippe.
„Zimmer einhundertfünfzig.“ murmelte er still vor sich hin und blickte auf die großen verglasten Türen, die sich mit einem lauten Surren öffneten. Er blickte auf jedes Zimmerschild und stoppte schließlich, als er die besagten Ziffern entdeckte. Gerade, als er die Klinke herunter drücken wollte, öffnete sich die Tür und Dr. Foster lief ihm in die Arme.
„Oh, entschuldigen Sie bitte.“ lächelte sie ihm etwas müde entgegen und statt ihm die Tür offen zu halten, verschloss sie diese wieder.
„Darf ich denn nicht rein?“ fragte Vince mit gerunzelter Stirn und blickte die Ärztin groß an.
„Gehören Sie zur Familie?“
„J-ja.“ presste er heraus und blickte sie weiter an. „Ist es schlimm?“
„Folgen Sie mir.“ Dr. Foster führte ihn ins Schwesternzimmer und schloss die Tür hinter sich. „Miss Hoover hatte eine Milzruptur und dadurch eine massive Hämorrhagie im Abdomen.“
„Was ist?!“ Vince drehte sich der Kopf und er nahm auf einem der freien Stühle Platz. „Was soll das alles sein? Ich verstehe nicht.“
„Entschuldigen Sie. Also, es war ein Milzriss. Bedingt durch die Verletzung der Milz hat sie sehr viel Blut verloren. Wir haben sofort eine Not-OP durchgeführt und konnten den Riss Gott sei Dank nähen.“
Vince fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht und schnaufte schwer auf.
„Wird sie denn wieder gesund?“
„Aber ja. Nur keine Angst. Die erste Nacht werden wir sie hier noch intensiv beobachten und dann denke ich, wird es mit ihr bergauf gehen. Einer Verlegung auf eine andere Station dürfte dann nichts mehr im Weg stehen.“
„Darf ich sie sehen?“
„Oh, sie schläft noch. Vielleicht wäre es besser, wenn Sie morgen noch einmal wieder kommen. Am Besten bringen Sie ihr noch ein paar Sachen mit. Kulturtasche und...“
„Schon klar.“ Vince senkte seinen Blick und nickte schließlich. „Danke Dr. äh, ...“
„Foster. Dr. Foster.“ lächelte sie ihm aufmunternd entgegen und reichte ihm die Hand.
„Danke, Dr. Foster.“ er nahm ihre Hand und drückte kurz zu, bevor er geknickt und völlig am Ende das Schwesternzimmer verließ.
„Soll ich ihrer Frau noch etwas ausrichten, wenn sie aufwacht?“ rief sie ihm in der Tür stehend nach.
„Meiner Frau?“ wiederholte er und drehte sich wieder zu ihr um.
„Sie sind doch der Mann von Miss Hoover?“
„Achso, äh, ja.“ `Ihr Mann?! Spinne ich jetzt komplett?! Was sage ich denn da?!Ž „Sagen Sie ihr, dass ich da war. Vince ist mein Name.“
„Gut. Ich werde es ihr sagen.“
„Danke.“ Vince drehte ab und verließ die Station. So schlecht wie gerade eben ging es ihm schon lange nicht mehr und als er endlich seinen Wagen erreichte, nahm er lediglich auf dem Fahrersitz Platz. Er fühlte sich keineswegs im Stande dazu, das Auto auch nur einen Meter zu bewegen.

Wild schnaubte Larry auf und nachdem auch die letzte Blüte von CatherineŽs Orchideen zertreten war, nahm er auf dem Bett Platz und stierte in den großen Schlafzimmerspiegel. Warum hatte er es nicht schon viel früher gemerkt? Sie hatte einen Verehrer, ganz klar. Eine räudige Affäre, einen Liebhaber und er hatte es die ganze Zeit über nicht bemerkt. Nun rechtfertigte sich natürlich auch seine Liebschaft zu Madeleine, denn Catherine war keinen Deut besser, als er. Diese Schlampe. Wie lange es wohl schon mit ihr und diesem, wie hieß er doch gleich? Vince! Wie lange es wohl schon zwischen ihr und diesem Vince lief? Ein paar Monate? Vielleicht auch schon Jahre? Als er begann, sich von ihr abzukapseln, nicht mehr bei ihr mit im Bett schlief, spät nach Hause kam, nicht mehr mit ihr aß. Das alles hatte sie einfach so hingenommen. Sie hatte sich niemals daran gestört. Wahrscheinlich arbeitete sie auch gar nicht in ihrem Laden, sondern fuhr lieber zu diesem Vince!
„Verdammt!“ brüllte Larry laut auf und seine Faust donnerte gegen den Rahmen des Ehebettes, auf dem er saß.
Wahrscheinlich hatte sie ihn angelogen, als sie sagte, dass der Laden nicht gut lief. Vielmehr war sie wohl nie da und deshalb brach der Umsatz auch so ein. Es wäre besser gewesen, wenn er ab und zu mal bei ihr auf der Arbeit vorbei geschaut hätte. Früher oder später wäre ihm schon aufgefallen, dass sie ständig nicht da ist. Diese Schlampe!
„Catherine, du Miststück!“ brüllte er und begann erneut ihre Sachen zu durchwühlen. Irgendwo ließ sich sicher ein Anhaltspunkt finden. Und wenn es einen gab, dann würde er ihn schon noch entdecken. Früher oder später.

Gegen fünfzehn Uhr stieg Phil aus dem Taxi, dass direkt vor dem städtischen Krankenhaus gehalten hatte und eilte über die Straße zu dem Wagen von Vince. Der saß noch immer wie versteinert am Steuer und starrte auf die Scheibenwischer. Zaghaft klopfte Phil gegen die Seitenscheibe des Autos und öffnete schließlich die Tür, nachdem sein Kumpel auch auf lauteres Hämmern nicht reagierte.
„Vince?“ fragte er leise und tippte ihn an. „Hey Alter.“
„Ich war nicht schnell genug.“ murmelte Vince vor sich hin und schüttelte den Kopf. „Ich war einfach nicht schnell genug.“
„Was redest du da? Komm rutsch mal rüber. Ich fahre dich erstmal nach Hause und du erzählst mir alles in Ruhe. Am Telefon vorhin habe ich nur die Hälfte verstanden.“
Vince stieg schließlich aus und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Nach mehreren Anläufen surrte der Motor des CorsaŽs auf und Phil blickte prüfend in den Rückspiegel.
„Sie wollte Julian schützen.“ wimmerte Vince und stierte noch immer auf die Scheibenwischer.
„Wo ist der Junge überhaupt?“
„Im Kindergarten.“ gab er Phil teilnahmslos zurück.
„Der macht doch um drei zu?“
Die Blicke der beiden Männer trafen sich und Vince durchfuhr ein dumpfer Schlag. Julian!!!
„Oh Gott!“ schrie Vince und klatschte sich die Hände auf die Wangen. „Ich habe den Jungen ja total vergessen! Was bin ich für ein Mensch? Nicht mal das bekomme ich geregelt!“
„Jetzt komm mal wieder runter. Dann fahren wir eben erst in den Kindergarten und dann zu dir. Alles kein Problem, ok?“
Während der Fahrt zum Kindergarten erläuterte Vince seinem Freund die ganze Situation im Schnelldurchlauf und hatte Mühe die Fassung zu bewahren.
„Und wieso sagst du der Ärztin nicht, dass du nicht ihr Mann bist?“
„Ich konnte nicht. Einerseits, weil ich gelogen habe, als ich ihr sagte, dass ich zu ihrer Verwandtschaft gehöre und andererseits, weil ich in diesem Moment so perplex war. Ich wusste, dass es nicht richtig war, aber in diesem Moment war alles so wirr und ungeordnet in meinem Schädel.“
„Schon gut. Das passt schon. Morgen solltest du das Missverständnis aber aus der Welt räumen. Stell dir mal vor, sie sagt, dass ihr Mann sie so zugerichtet hat. Dann verfolgen sie dich und du wirst in den Knast gesteckt.“
„Quatsch.“ Vince zog seine Augenbrauen zusammen und blickte Phil ungläubig an.
„Ohne Scheiß. Das geht schneller, als du gucken kannst.“
Vince biss sich auf die Unterlippe und nickte vor sich hin.
„Das ist echt eine scheiß Situation.“ Phil legte seinen Kopf kurz schräg und bog an einer kleinen Kreuzung rechts ab. „Hat die Ärztin denn gesagt, wann Catherine wieder raus kommt?“
„Sie konnte mir nicht mal genau sagen, wann sie aufwacht. Sie meinte nur, dass sie diese Nacht überstehen muss und dann würde es hoffentlich bergauf mit ihr gehen.“
„Übel.“
„Phil. Wenn sie das nicht übersteht, verzeihe ich mir das nie. Ich war damals schon zu spät. Ich will nicht, dass es wieder so kommt.“
„Du kannst damals nicht mit heute vergleichen.“
„Natürlich!“ schrie Vince und schlug erbost auf das Armaturenbrett. „Es ist doch genau die gleiche Situation! Nur andere Darsteller!“
Phil schnaubte laut aus und schüttelte den Kopf. Natürlich war ihm die Ähnlichkeit der beiden Fälle aufgefallen, aber er verstand einfach nicht, warum Vince sich wieder die Schuld an allem gab. Er war der Aktor, der am Wenigsten ausrichten konnte. Damals und auch heute.
Um kurz vor halb vier erreichten sie den Kindergarten und an der Pforte standen bereits zwei Gestalten, die Vince als Julian und seine Kollegin identifizierte. Er sprang aus dem Wagen und schloss den Jungen in den Arm.
„Tut mir Leid, dass ich zu spät bin, aber... Mir ist etwas dazwischen gekommen.“
„Schon gut.“
„Wir sehen uns dann morgen.“ flüsterte Vince seiner Kollegin noch zu und machte Kehrt. Sicher, er hatte bereits daran gedacht sich den Rest der Woche frei zu nehmen, doch dann wäre seine Kollegin, die ja doch noch recht jung war, allein mit über zwanzig Kindern. Außerdem würde er dann den ganzen Tag zu Hause sitzen und wüsste nichts, mit sich anzustellen. Es war sicherlich das Beste, wenn er seinen gewohnten Alltag hatte. Außerdem war Catherine sicher noch sehr erschöpft und sollte sich ausschlafen können. Er schnallte Julian an und setzte sich zu ihm auf die Rückbank, während Phil das Auto fuhr.
„Wo ist Tante Catherine?“ fragte Julian bereits nach ein paar Minuten und blickte Vince mit seinen großen viel sagenden Augen an.
„Sie ist...“ doch Vince stockte und blickte zu Phil in den Rückspiegel. Der nickte ihm zu. „Sie ist im Krankenhaus.“
„Was? Warum denn? Ist sie krank?“
„Ja so in Etwa. Ihr ging es heute morgen nicht so gut.“ Vince versuchte krampfhaft die Fassung zu wahren und strich Julian über den blonden Schopf.
„Wird sie denn wieder gesund?“
Ein stechender Schmerz breitete sich in ihm aus und er blickte hastig zum Fenster heraus.
„Ich hoffe es.“
Julian verstummte und blickte Vince weiter fragend an, doch der bemühte sich stur aus dem Fenster zu sehen, um nicht sofort in Kummer und Verzweiflung auszubrechen.

Catherine schlug die Augen auf und blickte sich entsetzt um. Wo war sie? Was war das für ein Zimmer? Sie hatte von einer Frau geträumt, die ihr gesagt hatte, dass sie im Krankenhaus sei, doch der Raum wirkte so kalt und steril. Sie war in der Hölle, ganz sicher. Kein Krankenhaus hatte solche schrecklichen Zimmer. Dieses grelle Licht und dieser Geruch. Die Hölle.
„Miss Hoover? Mein Name ist Dr. Vivianne Foster. Ich bin Ihre zuständige Ärztin. Wie fühlen Sie sich?“
„Wo bin ich?“ presste sie nach ein paar Sekunden heraus und zog die Augenbrauen zusammen.
„Sie sind im Krankenhaus. Sie hatten einen Milzriss und wir mussten eine Not-OP durchführen.“
„OP?“ wiederholte Catherine und schließlich sprengten sich endlich ihre Augenlider von einander ab.
„Ja genau. Wie fühlen Sie sich?“
Catherine stierte die unbekannte Frau an und folgte dann den Schläuchen, die direkt durch eine Kanüle in ihren Arm führten.
„Was ist das? Machen Sie das weg!“ Catherine fixierte panisch diese Nadel in ihrer Vene und wurde unruhig.
„Das ist eine Infusion. Die ist da, damit es Ihnen bald besser geht. Wie fühlen Sie sich?“
„Schlecht. Ich, ich habe Schmerzen. Aber dieses Ding...“ Catherine stierte weiter auf die Nadel.
„Wäre Ihnen geholfen, wenn wir eine Mullbinde darum wickeln?“
Catherine zuckte mit den Schultern und in Windeseile holte Dr. Foster eine Binde, die sie ihr um die Kanüle und ihren Arm wickelte.
„Gegen die Schmerzen habe ich Ihnen bereits etwas gegeben, das sollte bald anschlagen.“
Sie nickte der Ärztin zu und kniff wieder die Augen zu.
„Das Licht, es ist so hell.“
„Ihre Augen müssen sich erst etwas gewöhnen. Ihr Mann war übrigens hier.“
CatherineŽs Puls schoss in die Höhe und die vielen Maschinen und Messgeräte zu ihrer Rechten piepten bedrohlich auf. Dr. Foster blickte sie kritisch an und legte den Kopf etwas schräg.
„Was wollte er?“ fragte Catherine sie stumpf und stierte an die Decke.
„Er wollte Sie besuchen, aber dafür war es noch zu zeitig.“
„Hat er noch etwas gesagt?“
„Nein. Ich sollte Ihnen nur sagen, dass er da war.“
CatherineŽs Herz pumpte und pumpte und die Maschinen neben ihr piepten alarmierend monoton weiter.
„Beruhigen Sie sich. Geht es Ihnen nicht gut?“
„Alles in Ordnung.“
Woher wusste Larry, dass sie hier war? Wie hatte er das so schnell heraus bekommen? Panik beherrschte sie und sie schloss wieder ihre Augen. Was wollte er hier? Wollte er zu Ende bringen, was Vince verhindert hatte? Wollte er sie tot sehen? Eine Träne perlte an ihrer Schläfe entlang und versickerte im gestärkten Kissenbezug.
„Ich möchte jetzt lieber allein sein.“
„Nun. Ein bisschen müssen Sie schon noch durchhalten. Ich möchte Sie noch einer Kollegin von mir vorstellen. Dr. Abigail Brando. Sie ist Psychologin.“
„Psychologin?!“ wiederholte Catherine entsetzt und riss ihre Augen erneut auf. „Was soll das? Ich bin doch nicht verrückt.“
„Sie sollen sich nur kurz mit ihr unterhalten.“
„Aber...“
Doch Dr. Foster verließ bereits das Zimmer und schloss die Tür. Vom Flur vernahm sie leise Stimmen und so bemühte sich Catherine die Decke über den Kopf zu ziehen. Ihr Bauch schmerzte etwas und so beließ sie es dabei, die Decke bis zum Kinn zu ziehen. Leise öffnete sich die Tür erneut und eine zierliche, kleine Frau mit tief schwarzen Haaren und rotem Lippenstift trat ein. Sie hatte ihre Haare zu einem strengen Dutt gebunden, so, wie es Catherine auch öfter tat. Passend zum roten Lippenstift trug sie einen roten Blazer, der, wenn es nach CatherineŽs Modegeschmack gegangen wäre, verboten gehörte. Auf der Nase trug sie eine Brille, die ihr ganzes Äußeres noch strenger wirken ließ. Umso überraschter war Catherine schließlich, als ihr die Frau freundlich die Hand reichte und neben ihrem Bett Platz nahm.
„So, Miss Hoover. Um uns das Gespräch etwas einfacher zu machen schlage ich vor, dass wir uns mit dem Vornamen anreden. Wenn es Ihnen Recht ist, versteht sich.“
Catherine nickte ihr zu und blickte sie weiter an.
„Mein Name ist Dr. Abigail Brando. Nennen Sie mich einfach Abi. Sie sind Catherine Hoover, richtig?“
Wieder nickte sie.
„Dann darf ich Sie also Catherine nennen?“
Und wieder ein nicken.
„So, nur nicht so schweigsam. Das macht das Gespräch immer so schwierig, wissen Sie, Catherine?“
Sie lächelte breit und schlug ein dickes Notizbuch auf.
„So, erzählen Sie mir mal, wie es zu diesen wirklich schweren Verletzungen gekommen ist.“

Phil setzte sich neben seinen Kumpel und drückte ihm eine große Tasse Kaffee in die Hand. Julian saß bereits vor dem Fernseher und schaute wieder seine Lieblingsserie.
„Und was willst du jetzt tun? Ich meine, was ist mit seiner Mutter? Willst du sie nicht anrufen?“
„Schon, ja. Aber ich möchte Catherine nicht in den Rücken fallen und außerdem weiß ich ja auch, wie wichtig ihr dieser Job in Japan ist.“
„Aber wenn Catherine doch im Krankenhaus ist? Ich meine, das wird sie wohl verstehen oder?“
„Verstehen ja, aber das bringt ihr diesen Job auch nicht wieder. Ich möchte einfach nicht ohne CatherineŽs Wissen handeln.“
Phil lehnte sich zurück und trank einen Schluck aus seiner Tasse.
„Du hörst dich an, als seist du mit ihr verheiratet. Sie hat es dir wirklich angetan, was?“
Vince bedachte diese Frage mit einem akribischen Schweigen und so bohrte Phil munter weiter.
„Wie weit seid ihr mittlerweile?“
Vince drehte sich zu ihm und erschoss ihn regelrecht mit seinem Blick.
„Sorry. Die Frage war blöd.“
„Allerdings. Außerdem werde ich mich vor dem Jungen sicherlich nicht über dieses Thema unterhalten.“
„War ja auch nur rein interessehalber.“
„Keine Panik. Wenn etwas neues passiert ist, dann bist du der erste, der es erfährt.“
Vince nippte an seiner Tasse und stierte auf den flimmernden Fernseher. Im Grunde verstand er nichts, von dem was er sah, aber er sah im Prinzip auch nicht das, was vielleicht Julian oder Phil erblickten. Vielmehr kochten in ihm viele alte Bilder von früher hoch. Bilder, von denen er geglaubt hatte, dass sie sich nie wieder aus den versteckten Schubladen in seinem Kopf erheben würden. Doch jetzt hatten sie es geschafft. Die Schubladen waren weit aufgestoßen, die Bilder lagen verstreut am Boden und er musste nur hinunter blicken, um sie zu sehen. Das Hinauf erschien ihm aber so unendlich schwer und so zwang er sich selbst, diese schrecklichen Bilder und Szenen anzusehen. Er biss sich in die Lippe, um sich selbst zur Ordnung zu rufen und doch ließ es sich nicht vermeiden. Die schrecklichen Schreie, das Blut, das Weinen. Alles war wieder da. Alles hallte in seinem Kopf wider und erstickte ihn fast.
„Ich muss raus.“ Vince sprang auf und stellte seine Kaffeetasse auf den Stubentisch.
„Wo willst du denn jetzt hin?“
„Einfach nur raus.“
„Und was ist mit dem Jungen?!“ Phil platzierte seine Tasse neben der von Vince und blickte diesen ratlos an.
„Pass eben auf ihn auf. Ich bin in einer halben Stunde wieder da.“

„Also Catherine, wenn Sie nicht mit mir reden, werde ich Ihnen nicht helfen können.“
„Man muss mir nicht helfen.“ bockte sie plötzlich und kniff wieder die Augen zu. Das musste sie nur so lange machen, bis diese Abi keine Lust mehr hatte und ging. Doch die Geduld der Ärztin erschien unerschöpflich und als sie nach zehn Minuten noch immer schweigend in CatherineŽs Gesicht blickte, wurde diese schließlich wütend.
„Was?!“ brüllte sie, so laut es ihre Schmerzen ihr zu ließen. „Warum starren Sie mich so an? Haben Sie noch nie eine Frau gesehen, die blaue Flecken hat?“
„Doch Catherine. Und jede einzelne hatte schreckliche Geschichten zu erzählen. Ich glaube, dass es bei Ihnen ähnlich ist und ich möchte Ihnen helfen, es besser zu verarbeiten.“
„Es gibt nichts zu erzählen! Hauen Sie ab! Los! Verschwinden Sie!“
CatherineŽs Stimme brach unter ihren neu aufkommenden Tränen und sie drehte gefrustet den Kopf von Abi weg.
Nach weiteren zehn Minuten stand die auf und lief um das Bett herum.
„Ich werde morgen noch einmal nach Ihnen sehen. Vielleicht sind Sie dann etwas gesprächiger. Vergessen Sie bitte nicht, dass ich Ihnen nur helfen möchte.“
Catherine schwieg sich weiter aus und atmete erleichtert auf, als Abi die Tür hinter sich schloss und sie wieder allein im Zimmer lag.

Vince stürmte aus dem Wohnhaus und setzte sich in seinen Wagen. Er war ohne ein weiteres Wort zu verlieren aus der Wohnung geflüchtet und hatte Phil mit Julian allein gelassen. Es war das Beste, wenn er jetzt erstmal Ordnung in seinem Inneren schaffen konnte und so drehte er den Zündschlüssel und fuhr los. Die Laternen wirkten wie große Lichtpunkte, die darauf erpicht waren ihn zu blenden, doch Vince kniff angestrengt die Augen zusammen und versuchte seine Konzentration auf die Straße zu legen. Vor dem großen Stadtfriedhof kam sein Wagen zum Stehen und er stieg aus. Nicht mal eine Jacke hatte er mitgenommen und so stand er nun an den verschlossenen Pforten des Friedhofs und blickte sehnsüchtig durch die eisernen Gitterstäbe, die ihm den Zugang verwehrten. Wut stieg in ihm auf und er blickte sich kurz suchend um. Es war keine Menschenseele zu sehen und so hangelte er sich an den schweren Eisentoren hoch und überkletterte sie schließlich. Ein paar Minuten lief er bereits über d
ie Wege, vorbei an unzähligen Gräbern, bis er schließlich inne hielt und seine Schritte immer kleiner wurden. Ein Grabstein, in dem eine Rose eingraviert wurde, stellte sich ihm in den Weg und die verdorrten Blumen, die auf ihm lagen, knackten, als er sie in die Hand nahm, um sie weg zu werfen.
`Christa TaylorŽ immer und immer wieder las er diesen Namen und schließlich kniete er sich vor das Grab.
„Weißt du Mom, ich habe jemanden kennengelernt. Sie ist wirklich eine tolle Frau und das sage ich, obwohl ich sie erst knapp zwei Wochen kenne. Lustig, nicht? Sie wohnt im Moment bei mir. Ich weiß, dass du dich jetzt sicher wunderst, aber ich musste sie zu mir nehmen. Ihr Mann ist so ein Ekel. Ja, sie ist verheiratet. Mir ist das egal. Ich weiß, dass sie nicht mehr glücklich ist, mit ihrer Ehe. Ihr Mann schlägt sie und nur wegen ihm ist sie im Krankenhaus. Wegen ihm und wegen mir. Weil ich schon wieder zu langsam war. Genau wie damals. Es tut mir so Leid.“
Seine Stimme brach und seine Tränen tropften auf den kalten Boden, um von der Erde aufgesaugt zu werden.

Larry schnappte sich das Telefon und wählte zum ersten Mal auf diesem Gerät MadeleineŽs Nummer. Bisher hatte er es nicht gewagt, von diesem Telefon aus bei ihr anzurufen, doch jetzt, wo klar war, dass Catherine ihn hinterhältig betrog, spielte das keine Rolle mehr. Nach einer ganzen Weile nahm endlich jemand ab und Larry atmete erleichtert auf.
„Liebes?“ hauchte er in den Hörer und presste ihn an sein Ohr.
„Larry? Von wo aus rufst du an? Was ist das für eine Nummer?“
„Meine Festnetznummer.“ flötete er unbeeindruckt und nahm auf dem Sofa Platz, nachdem er sich eine Zigarette angesteckt hatte.
„Wie kommtŽs?“
„Catherine ist nicht da, da dachte ich mir, ich kann dich ja mal anrufen und dir Neuigkeiten mitteilen.“
„Neuigkeiten?“ Madeleine begann zu lächeln und nahm nun auch auf ihrem Sofa Platz. „Was gibt es denn neues?“
„Meine Frau, sie betrügt mich.“
„Bitte?“ Kurz herrschte Ruhe auf beiden Seiten und beide lauschten angestrengt, was der andere machte.
„Ganz richtig. Sie betrügt mich. Ihr Liebhaber hat sie aus der Wohnung geholt. Ich glaube, so schnell kommt die nicht wieder.“
„Ja aber... Also ich meine, was ist passiert? Wieso haut sie so plötzlich ab?“
„Mein Arm.“ begann Larry und aschte auf den hellen Teppichboden. „Es war ihre Affäre. Der Typ hätte mich fast um den Verstand gebracht. Ich dachte, er würde mir den Arm brechen.“
„Was? Aber wieso? Ich meine, was hat ihn dazu veranlasst?“
„Wenn ich das wüsste. Ich kann es dir bei aller Liebe nicht sagen.“
„Was ist das denn für ein Mann? Und du glaubst wirklich, dass sie mit ihm durchgebrannt ist?“
„Was denn sonst? Sie ist nicht mehr da. Sie hat alle ihre Sachen, bis auf ein paar Kleinigkeiten mitgenommen und nun sitze ich hier und telefoniere über mein Festnetztelefon mit dir.“ Larry lachte ironisch auf und drückte seine Zigarette auf dem Teppich aus.

Schon seit Stunden blickte Catherine an die Decke und schwieg. Ihre Lippen klebten wieder einmal aneinander und ließen sich kaum noch von einander lösen. Doch es war auch nicht ihr Wunsch, etwas daran zu ändern, denn gedanklich ging sie das Gespräch mit Abi durch, was sie morgen erwarten würde. Die Ärztin war erst gegangen, nachdem sie so geschrien hatte. Eigentlich war das nicht CatherineŽs Art, aber diese Abi hatte es tatsächlich geschafft, sie zur Weißglut zu treiben. Das Letzte, was sie wollte war, dass fremde Menschen in ihrem verkorksten Privatleben herum schnüffelten. Auch wenn diese Abi meinte, dass sie ihr nur helfen wolle. Catherine war es egal. Sie wollte ihre Ruhe und vor allem, sie wollte hier raus und zwar so schnell wie möglich. Sie verbrachte ein unruhige Nacht und wachte schweißgebadet auf, als eine Schwester die Frechheit besaß, gegen sieben Uhr morgens einfach das Licht einzuschalten.
„Guten Morgen!“ rief sie noch in einem eher künstlich gehaltenen Ton und schmiss dann wieder die Tür zu.
Catherine atmete tief durch und betastete die schmerzende Stelle am Bauch. Ein dickes Pflaster klebte an ihrer Haut und darunter pulsierte es stetig. Nachdem sie das wirklich dürftige Frühstück herunter gewürgt hatte, platzte auch schon Abi in den Raum und nahm wieder neben ihrem Bett Platz.
„Guten Morgen, Catherine. Wie haben Sie geschlafen?“

Vince schlug seine Augen auf und blickte auf den Radiowecker, der neben ihm auf dem kleinen Nachttisch stand. Es war bereits nach acht und er war spät dran. Eigentlich hatte er gehofft noch länger zu schlafen, denn dann musste er die Zeit nicht mit vollem Bewusstsein totschlagen. Natürlich, er musste arbeiten. Aber seine Arbeit konnte ihn auch nicht über CatherineŽs Zustand hinweg trösten. Er versuchte sich zusammenzureißen und warf die Bettdecke zurück. Schon allein Julian zuliebe musste er einen positiven Eindruck machen, denn er wollte den Jungen ja nicht verunsichern. Er stand auf und eilte ins Bad, wo er sich ein paar Minuten im Spiegel betrachtete. Lustlos bekleckste er seine Zahnbürste mit einem Streifen Zahnpasta und steckte sie in den Mund. Akribisch schäumte er alles auf und blickte wieder in den Spiegel. Seine Augen waren rot und tiefe Ringe, die einen müden Eindruck vermittelten, hatten sich über Nacht unter ihnen gebildet. Er spuckte den Schaum ins Waschbecken un
d machte sich schnell fertig. Julian war noch nicht geweckt und er hatte sich noch keine Brote für die Arbeit gemacht.
„Julian! Wach auf. Wir müssen uns etwas beeilen.“

„In den ersten Nächten schlafen die meisten Patienten recht unruhig. Das ist normal und liegt an der ungewohnten Umgebung.“
„Wann kann ich wieder nach Hause?“
Abi runzelte die Stirn und blickte durch ihre streng wirkende Brille zu Catherine.
„Nun, eine Woche werden Sie schon noch bleiben müssen. Wenn ich Dr. Foster richtig verstanden habe, dann sollten Sie sich die Ruhe auch noch gönnen, damit die Wunde gut verheilen kann.“
Catherine nickte und blickte zum Fenster heraus. Keine Stunde würde sie es hier noch aushalten und Abi sprach tatsächlich von einer ganzen Woche und das nur unter Vorbehalt. Ihr drehte sich der Magen und sie biss sich auf die Unterlippe.
„Catherine. Was ist passiert? Erzählen Sie mir, wie es zu den Verletzungen gekommen ist.“
„Darüber möchte ich ehrlich gesagt nur sehr ungern reden.“
„Ich weiß, dass Ihnen das sehr schwer fällt, aber versuchen Sie es trotzdem. Wir können jederzeit abbrechen, wenn es Ihnen zu anstrengend wird.“
„Ich weiß nicht.“
„Ich habe ärztliche Schweigepflicht. Sie müssen sich also keine Gedanken darüber machen, dass etwas an die Öffentlichkeit getragen wird. Alles, was wir zwei in diesem Raum besprechen, wird diesen Raum auch nicht verlassen.“
Catherine nickte und überlegte. Diese Abi war ihr irgendwie unheimlich, denn es schien, als könne sie Gedanken lesen. Noch bevor Catherine ihre Bedenken äußern konnte, hatte Abi sie davon zu überzeugen versucht, dass sie sich darüber keine Sorgen machen musste.
„Wer hat Ihnen das angetan?“
„Es, es war mein Mann. Wir haben uns gestritten.“
„Ihr Mann?“ Abi runzelte die Stirn und kritzelte eifrig etwas in ihr Notizbuch, welches sie auch heute wieder mitgebracht hatte. „Erzählen Sie mir von sich und Ihrem Mann. Wie haben Sie sich kennengelernt?“

Als Vince etwas Ruhe in die Gruppe gebracht hatte, fiel ihm ein, dass er seine Brote auf der Arbeitsplatte zu Hause vergessen hatte. Hunger verspürte er auch nicht, also war das nicht so dramatisch. Er blickte sich um und beobachtete die Kinder, die im Moment alle am Tisch saßen und ihre Brote aßen. Generell war die Stimmung heute eher verhalten und niemand fiel aus der Rolle. Seine Kollegin nebenan schien da ein ganz anderes Problem zu haben, denn aus ihrem Zimmer dröhnte der Lärm der schreienden Kinder und auch ihre Stimme hallte ihm ans Ohr.
„Ich möchte, dass ihr hier ganz ruhig weiter esst. Wenn ich etwas höre, komme ich sofort zurück, klar?“
Die Kinder nickten ihm zu und aßen ruhig weiter. Vince hingegen stieß die Tür des Spielzimmers auf und eilte zu seiner Kollegin. Mit einem Satz warf er die Tür auf und stemmte seine Arme in die Hüfte.
„Was ist den hier los?“ rief er und runzelte verärgert die Stirn. „Es klingt, als würde hier eine Schlacht toben.“
„Tut mir Leid.“ Seine Kollegin warf ihm einen mitleidigen Blick zu und die Kinder wurden langsam still.
„Ich möchte dich heute nach Feierabend in meinem Büro sprechen.“
Sein Blick fiel wieder kalt ins Gesicht seiner Kollegin und musterte sie strafend. Sie nickte ihm zu und Vince warf die Tür wieder zu. In ihm brodelte es und er hatte Mühe seine fröhliche und aufgeschlossene Art zu behalten. Die Kinder konnten schließlich nichts dafür, also durfte er ihnen auch nicht diesen Eindruck vermitteln. Es herrschte noch immer Stille, als er zu seiner Gruppe zurückkehrte und so nahm er auf dem Boden Platz und wälzte die Zeitung. Bei den Anzeigen für Kino und Kultur machte er Halt und las interessiert die Eintragungen. Einen Kinobesuch fänden die Kleinen sicher auch mal toll. Er umrahmte die Anzeige, die er passend fand mit einem Kugelschreiber und widmete sich dann wieder seinen Zöglingen.

„Und was denken Sie? Seit wann hat er sich so verändert?“
Abi bohrte immer weiter und Catherine schluckte schwer, denn bald würde ein recht emotionaler Teil ihres Lebens kommen. Eigentlich wollte sie ihn für sich behalten und mit niemanden teilen, doch diese schreckliche Ärztin grub immer tiefer und ließ sich einfach nicht abwimmeln. Catherine mobilisierte ihren letzten Mut und blickte Abi bestimmt an.
„Für heute reicht es mir. Ich bitte Sie. Lassen Sie mich.“
Erstaunt erblickte sie, wie Abi nickte und aufstand.
„Ich denke, das ist in Ordnung. Ich bin schließlich auch schon gut drei Stunden hier. Ruhen Sie sich aus. Wenn Sie heute noch einmal mit mir reden wollen, dann sagen sie einer Schwester Bescheid. Ich werde dann umgehend angepiept.“
„Ok.“ presste Catherine noch heraus und reichte der Ärztin die Hand zur Verabschiedung. „sagen Sie, wissen Sie, ob heute noch irgendjemand zu mir kommt? Also Besuch?“
„Ich weiß nicht. Schon möglich. Heute sind Sie ja auch schon wach.“ strahlte Abi ihr entgegen und war im Begriff zu gehen.
„Wenn mein Mann wieder kommt; Ich will ihn nicht sehen.“
„Ich werde den Schwestern Bescheid geben.“
„Danke.“
Catherine atmete erleichtert durch und warf wieder einen Blick aus dem Fenster. Eine Träne perlte an ihrer Schläfe entlang und versickerte wieder in dem gestärkten Bezug ihres viel zu harten Kissens. Die Sonne schien und ein paar Vögel zwitscherten. Sie vernahm die Geräusche durch das angekippte Oberlicht und sehnte sich danach, endlich hier weg zu dürfen. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse mit dem Tee, den sie zum Frühstück nicht ganz geschafft hatte und atmete tief durch. Ihr Bauch schmerzte und sie kam ins Grübeln.
Das Leben war schon unfair. Jetzt hatte sie sich mal Urlaub genommen und fristete ihn im Krankenhaus. In einem Zimmer, dass steriler und kälter nicht wirken konnte. Und doch erinnerte es sie an ihre Wohnung, in der auch alle Wände weiß waren. Weiß wie Kalk und nirgends auch nur ein Staubkorn, denn sie achtete ja immer akribisch darauf, dass es sauber war. Sauberkeit war wichtig, so hatte es ihr ihre Mutter immer beigebracht und sie hatte gehört und alles so umgesetzt, wie ihre Mutter es wollte. Selbst nachdem ihre Eltern starben, ließ sie sich nicht davon abbringen. Das Putzen war ihr bereits in Fleisch und Blut übergegangen und sie hielt es nicht lange aus, wenn sie irgendwo etwas schmutziges in ihrer Wohnung sah. Sie musste es einfach reinigen.
Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und eine Pflegekraft trat ein.
„Guten Tag! Ich werde Sie jetzt verlegen.“ strahlte die junge Frau Catherine an und löste die Bremsen an den Rollen des Bettes. Ohne groß darauf zu reagieren, blickte Catherine sich um und folgte mit ihren Augen den langen Gängen, durch die sie gerollt wurde. Nach ein paar Minuten erreichten sie ein anderes Zimmer und Catherine war nicht mehr allein, denn in dem Raum stand bereits ein anderes Bett und eine ältere Frau blickte sie freundlich an.
„Guten Tag.“ entgegnete sie ihr und erhob sich von dem Tisch, an dem sie saß.
„Guten Tag.“ erwiderte Catherine und innerlich freute sie sich, denn jetzt hatte sie wenigstens jemanden, mit dem sie etwas reden konnte.

Larry angelte mit seiner Hand im Briefkasten herum und zog einige Schreiben heraus. Mehrere Stunden hatte er bereits damit verbracht, nach dem Schlüssel zu suchen, doch da Catherine sonst immer den Briefkasten leerte, hatte er seinen wohl verlegt. Ein Brief erschien ihm besonders interessant und so eilte er hastig die Treppen hoch. In der Wohnung angekommen öffnete er das Kuvert und überflog die Zeilen des Schreibens. Sein Mund breitete sich zu einem Grinsen aus und seine Hand ballte sich zu einer Siegesfaust.
„Sie nehmen mich!“ schrie er laut aus sich heraus und griff nach seinem Handy. Nachdem er an Madeleine eine SMS versandt hatte, zündete er eine Zigarette an und sank im Sofa ein, dass in der Stube stand. Er hatte also eine neue Chance bekommen und die Tatsache, dass Catherine verschwunden war, war wohl ein Wink des Schicksals. Da wollte ihm das Schicksal wohl ein wenig auf die Sprünge helfen. Das Grinsen in seinem Gesicht verblasste nur langsam und nachdem er aufgeraucht hatte, machte er sich auf die Suche nach seinem Autoschlüssel. In der Hand hielt er noch immer das Handy, dass nach einiger Zeit piepte.
„Das hört sich aber toll an! Lass uns heute Abend darüber reden. Habe gerade etwas Stress. Ich liebe dich. Madeleine.“
Wieder jubelte Larry laut auf und kramte in seinen Unterlagen herum. Die Briefe und Schreiben, die er ordentlich abgeheftet in seinem Arbeitszimmer verstaut hatte, schimmerten schon gelblich durch den Zigarettenrauch und doch wurde er nach einigen Minuten fündig. Er knickte die Unterlagen auf, damit er die Telefonnummer erkennen konnte und wählte sie hastig ein.
„Anwaltskanzlei Parker und Sohn. Mein Name ist Dickson, was kann ich für Sie tun?“ meldete sich eine freundliche, weibliche Stimme und Larry räusperte sich kurz.
„Äh ja. Mein Name ist Hoover. Ich möchte gern einen Termin mit Mister Parker Junior vereinbaren.“
„Sehr gern. Sind Sie bei uns schon gelistet?“
„Ja.“
„Gut, einen Moment bitte.“
Larry vernahm das klicken der Tastatur und schluckte.
„Wie ist Ihr Vorname, Mister Hoover?“
„Larry. Larry Hoover.“
„Ja, einen Moment noch mal bitte.“
Wieder vernahm er das klicken der Tastatur und blickte auf seine Unterlagen.
„So. Da haben wir Sie. 06.04.1973, ist das so richtig?“
„Ja genau.“
„Gut. Dann schauen wir mal nach. Um was handelt es sich denn?“
„Ich möchte mich scheiden lassen.“
Kurz herrschte Ruhe und Larry zog seine Augenbrauen zusammen.
„Mister Hoover, ich verbinde Sie direkt mit Mister Parker. Einen Moment bitte.“

„Tja, seit dem bin ich hier. Das Bein wird sicher nicht mehr richtig. Ich kann nur noch humpeln. Einen Herzschrittmacher habe ich auch vor Kurzem bekommen. Das hat mich jedoch nicht so sehr beeinflusst, wie dieser dumme Ausrutscher bei mir im Bad. Naja. Dann humple ich eben. Aber lieber so, als im Rollstuhl, nicht?“
„Das stimmt.“ Catherine nickte und lächelte etwas. Ihre Zimmergefährtin Miss Clark war eine aufgeschlossene Persönlichkeit und hatte es bereits geschafft, Catherine etwas aufzutauen.
„Wieso sind Sie hier?“
„Ach, eine Operation. Dumme Sache.“ spielte Catherine ihre Situation herunter und winkte mit der Hand ab.
„Sind Sie gestürzt?“
„Ja. Die Treppe herunter.“
„Das ist ja furchtbar. Hat man Sie gleich gefunden?“
„Ja, Gott sei Dank war ich nicht allein, sondern bei einem guten Freund. Der hat mich dann...“ Catherine überlegte angestrengt. Sie war ja bei Vince gewesen. Sie hatte bei ihm geschlafen. Bei ihm und neben ihm. Und dann hatten sie gefrühstückt und sie hatte so ein merkwürdiges Gefühl im Bauch. Ihr hatte sich der Kopf gedreht und dann wurde ihr schwarz vor Augen. Aber was war mit Vince? Hatte er einen Krankenwagen gerufen? Oder hatte er sie hier her gebracht? Was war überhaupt passiert, nachdem Catherine das Bewusstsein verloren hatte? Sie wusste es nicht und so doll sie auch überlegte, es fiel ihr nicht ein. Es war, als hätte jemand einen halben Tag ihres Lebens aus ihrem Kopf gestrichen. Einfach gelöscht. Unwiederbringlich verschwinden lassen.
„Naja. Er hat mich dann hier her gebracht.“ beendete Catherine ihren Satz, als sie merkte, dass Miss Clark sie noch immer ansah. Das letzte, was sie gebrauchen konnte, war eine Zimmernachbarin, die sich als Hobbypsychologin entpuppte, also log Catherine, dass sich die Balken bogen und hoffte, dass es niemandem auffallen würde.

„Du wolltest mich sprechen?“ Sie drückte die Tür zum Büro etwas weiter auf und blickte Vince groß an.
„Genau. Setz dich bitte.“
Sie nahm ihm gegenüber Platz und verfolgte seine Bewegungen. Er kramte in einem Ordner herum und zog einen kleinen Zettel heraus.
„Erklär mir bitte, was es damit auf sich hat.“
Sie blickte auf den Zettel und runzelte die Stirn. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn und sie senkte den Blick.
„Ich kann es verstehen, wenn man krank ist. Man kann dann nicht arbeiten, schon allein, weil wir die Kinder ja nicht anstecken wollen, aber das hier übertrifft den Gipfel der Dreistigkeit!“
Vince ließ seine Hand laut auf den Schreibtisch knallen und blickte seine Kollegin böse und zu gleich enttäuscht an.
„Das hast du doch sonst nicht gemacht?“
„Aber...“ erwiderte sie und ließ ihren Blick nicht steigen. „Ich war wirklich krank!“
„Ich bitte dich! Willst du mich verarschen?! Hast du keinen Spiegel zu Hause?!“
„Was? Wieso denn?“
„Sieh dich doch mal an! Hast du die ganze Zeit im Solarium geschlafen?! Ich warne dich.“
Sie blickte auf ihre Arme und nickte. Er hatte es also bemerkt.
„Ich bin so was von enttäuscht von dir! Hast du eine Ahnung, wie verarscht ich mir vorkomme? Du weißt ganz genau, was um diese Zeit bei uns hier los ist und du lässt mich einfach hängen! Außerdem dachte ich, dass ich erstmal nichts sage, weil ich dachte, dass du allein auf mich zukommen würdest. Stattdessen versuchst du mir noch hier im Büro klar zu machen, dass du wirklich krank warst! Wenn du so nötig Urlaub brauchst, dann rede mit mir!“
„Aber ich dachte, es wäre Urlaubssperre?“
„Und weil Urlaubssperre ist, erdreistest du dir einfach, dich krankschreiben zu lassen?! Ich weiß nicht, was dich da geritten hat, aber ich garantiere dir, dass dies das erste und letzte Mal war, dass ich so was durchgehen lasse. Du erhältst eine Abmahnung. Nimm dir den Wisch mit nach Hause und lies ihn dir gut durch. Am Freitag möchte ich eine Unterschrift unter dem Schreiben sehen und danach verlange ich, dass du deine Arbeit genauso gewissenhaft machst, wie damals, als du hier noch Praktikantin warst. Nur deshalb habe ich dich eingestellt!“
„Ich weiß, es tut mir so Leid.“ wimmerte sie ihm entgegen und wischte sich durch die Augen.
„Das ist ja schon mal ein Anfang. Du kannst dann jetzt gehen. Bis Morgen.“
„Bis Morgen.“ Sie stand auf und nickte noch einmal kurz, bevor sie das Büro verließ. Vince war stock sauer und das zu recht. Wütend sortierte er noch ein paar Unterlagen und zog sich schließlich an. Julian saß noch immer im Spielzimmer und heute wollten beide zu Catherine gehen und sie besuchen.
Er rief den Jungen zu sich und zog ihm seine Jacke an. Nachdem Vince den Kindergarten abgeschlossen hatte, machten sich beide auf den Weg ins Krankenhaus. Sie parkten den Wagen auf einem der großen Parkplätze und eilten in das große Gebäude. Viele Menschen strömten an ihnen vorbei und überall vernahmen sie Gespräche. Julian griff fester nach VinceŽ Hand und blickte ihn etwas geängstigt an.
„Können wir nicht wieder gehen?“
„Willst du deine Tante denn nicht sehen?“
„Doch, aber hier gefällt es mir nicht.“
„Ich weiß, aber wir sind gleich da.“
Sie eilten zur Rezeption und stellten sich an. Nach wenigen Minuten waren sie an der Reihe und Vince blickte wieder dem älteren Herrn ins Gesicht, der ihm schon gestern eine Auskunft gegeben hatte.
„Guten Tag. Wir möchten zu Catherine Hoover.“
„Einen Moment.“ der Mann hackte auf der Tastatur seines Computers herum und blickte wieder zu Vince.
„Zimmer sechs. Station eins B. Wenn Sie durch die Tür dort gehen, gleich links. Dann noch etwas gerade aus und wieder rechts. Melden Sie sich bitte bei der Schwester.“
„Danke.“
Vince nahm Julian auf den Arm und folgte der Wegbeschreibung, die er gerade erhalten hatte. Wieder strömte ihm der Krankenhausmief in die Nase und wieder stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Die Glastüren surrten wieder und öffneten sich automatisch.
„Dort ist ihr Zimmer. Geh du ruhig schon mal rein, ich komme gleich nach. Ich muss noch etwas mit den Schwestern bereden.“ entgegnete er Julian und ließ ihn wieder herunter. Julian verschwand in dem Zimmer und Vince machte sich auf die Suche nach einer Schwester.
„Hallo, Sie da!“ rief er einer Frau nach und die drehte sich auch prompt um. „Ah, Dr. Foster.“ lächelte er ihr entgegen, doch er stieß auf ein kaltes Gesicht, dass sich kaum rührte.
„Sie!“ rief sie und hob den Finger, um mit ihm auf Vince zu zeigen. „Dass Sie es sich überhaupt noch wagen, hier wieder her zu kommen. Ihre Frau möchte Sie nicht sehen. Gehen Sie.“
„Was? Wieso sollte Sie mich nicht sehen wollen?“
„Sie hat den ausdrücklichen Wunsch geäußert, von Ihnen nicht besucht zu werden, also gehen Sie oder ich rufe den Sicherheitsdienst!“
„Aber das muss ein Missverständnis sein!“
Vince blickte Dr. Foster panisch an. Es schien genau das passiert zu sein, wovor Phil ihn gewarnt hatte. Alle mussten denken, dass er Catherine die schlimmen Verletzungen beigebracht hatte. Wie sollte er dieses Missverständnis nur wieder aus dem Weg räumen?
„Ich bin doch gar nicht ihr Mann?“
„Aber natürlich! Schwester! Rufen Sie den Sicherheitsdienst! Schnell!“
„Nein! Warten Sie doch! Dr. Foster! Ich bin nicht ihr Mann. Wirklich nicht! Außerdem ist der Junge doch schon bei ihr im Zimmer?!“

Julian schmiss laut die Tür zu und stürmte an Miss Clark vorbei zu Catherine. Die breitete glücklich ihre Arme aus und hob Julian unter Schmerzen auf ihr Bett.
„Julian!“ rief sie und drückte ihn wieder an sich. „Schön, dass du da bist. Aber du bist doch nicht allein oder?“
„Nein. Vince ist auch da. Er muss noch mit einer Schwester reden. Das hat er gesagt!“
„Na, dann kommt er sicher auch gleich.“
Julian zuckte mit den Schultern und blickte zu Miss Clark.
„Wer ist das?“
„Das ist Miss Clark. Sie teilt ihr Zimmer mit mir.“
„Das ist aber nett.“
„Ja, genau. Geh ruhig mal hin und sag ihr Hallo.“
Julian schüttelte akribisch den Kopf, denn nett hieß nicht gleich, dass man sich mit dieser Frau anfreunden musste. Schließlich hob er die Hand zu einem Winken und auch Miss Clark winkte ihm zu.
„Was für ein reizender Junge. Ist das ihr Sohn?“
„Nein, leider nicht.“ Catherine senkte den Blick und versuchte sich schnell mit etwas anderem abzulenken, als sie plötzlich laute Schreie und Gepolter vom Flur vernahm.
Mit aller Kraft versuchte sie aufzustehen, doch die Schmerzen übermannten sie und so blieb sie liegen und starrte verunsichert zur Tür.
„Was ist denn da draußen los?“ empörte sich Miss Clark und öffnete kurzerhand die Tür, vor der Vince gerade von zwei Sicherheitsbeamten abgeführt wurde.
„Wenn ich es Ihnen doch sage! Ich bin nicht ihr Mann! Wie oft denn noch?!“
„Sicher. Jetzt beruhigen Sie sich. Sie sollen lediglich das Haus verlassen.“ sprach einer der beiden beruhigend auf ihn ein und drängte ihn Richtung Ausgang.
„Vince!“ schrie Catherine und hielt sich den Bauch, vor Schmerzen. „Lassen Sie ihn!“
„Cathy! Sag ihnen, dass ich nicht dein Mann bin!“ hörte sie ihn noch rufen und biss sich auf die Unterlippe. Sie sammelte ihre Kräfte und hievte sich aus dem Bett an die Tür. Die Schmerzen ließen sie fast ohnmächtig werden und doch schaffte sie es.
„Lassen Sie ihn los! Das ist nicht mein Mann verdammt! Das ist meine Affäre!“ brüllte sie und plötzlich wurde es still.
„Lassen Sie ihn los.“ entgegnete Dr. Foster den Beamten und Vince richtete seine Jacke von neuem.
„Sie sagten doch, dass Sie ihr Mann sind?“ und die Ärztin zeigte auf Catherine.
„Sie haben das gesagt, nicht ich. Ich war in dem Moment nur so perplex, dass ich Ihnen nicht widersprochen habe.“
Laut polterte es und Catherine brach im Türrahmen zusammen. Vince stürmte sofort auf sie zu und legte sie zurück in ihr Bett. Verängstigt blickte er sie an und vernahm das dumpfe Schlagen seines Pulses. Er spürte jeden Herzschlag, jeden einzelnen, dumpfen Schlag. Und jeder hallte zig Mal in seinem Ohr wider. Wenn sie doch nur die Augen öffnen würde.
Und als hätte sie seine Bitte verstanden, öffnete Catherine ihre Augen und blickte Vince groß an.
„Vince!“ rief sie glücklich auf und breitete nun auch für ihn die Arme aus.
„Vince, hmm?“ wiederholte Miss Clark CatherineŽs Worte und schmiss die Tür vor Dr. Foster laut zu. „Diesen Namen kenne ich doch?“ und ihm lief sogleich ein kalter Schauer den Rücken herunter, denn auch Vince kannte diese Stimme. Er drehte sich zu Miss Clark um und sackte etwas zusammen, als er sie erblickte.
„Miss Clark!“ rief er verschreckt und sank an CatherineŽs Bett etwas zusammen. „Aber, was machen Sie denn hier?“
„Ich bin krank. Und was machst du hier?“ Ihre Augen wurden feucht und sie lächelte breit.
„I-ich besuche Miss Hoover.“
Beide blickten sich an und schwiegen.
„Woher kennt ihr euch?“ fragte Catherine dazwischen und umfasste VinceŽ Hand. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und Catherine spürte, wie seine Hände zitterten.
„Das ist eine lange Geschichte.“ begann Miss Clark und legte sich wieder in ihr Bett, ohne dabei Vince aus den Augen zu lassen. „er war früher, als Jugendlicher oft bei mir, nachdem seine Mutter...“
„Halten Sie den Mund!“ Vince hob den Finger und strafte Miss Clark mit einem bösen Blick. Sie sollte das alles nicht wieder aufwärmen. Sie sollte schweigen und die Vergangenheit ruhen lassen. Auch, wenn er früher gern bei ihr gewesen war und immer Unterschlupf und Trost bei ihr fand. Das gab ihr noch lange nicht das Recht aus seinem damaligen Leben zu erzählen. Außerdem war es nichts, was Julian unbedingt hören sollte. Er war noch so klein und für seine Ohren war das Ganze nicht bestimmt. Catherine musterte beide prüfend und nickte schließlich. Wenn Vince nicht wollte, das Miss Clark etwas erzählte, dann hatte er sicher seine Gründe und sie würde nicht danach fragen. Nicht jetzt. Schließlich wusste sie selbst gut genug, wie unangenehm es war, wenn andere Menschen im eigenen Leben herum schnüffeln. Miss Clark blickte zu Catherine und zwinkerte kurz, bevor sie ihre Augen schloss.
„Ich freue mich wirklich, zu sehen, dass du ein stattlicher Mann geworden bist Vince.“
Verunsichert blickte er immer wieder zwischen ihr und Catherine hin und her.
„Ja.“ entwich es ihm knapp.
Catherine nickte ihm zu und so stand er wieder auf.
„Es tut mir Leid Miss Clark. Ich wollte Sie nicht so an herrschen.“
„Ist schon gut.“ Miss Clark hielt ihre Augen geschlossen. „Ich bin wirklich sehr sehr glücklich, dass es dir so gut zu gehen scheint. Und eine liebe Frau hast du dir ausgesucht.“
Catherine errötete leicht und lächelte etwas.
„Ich bin müde.“ wisperte Miss Clark und schlief ein.
„Wie geht es dir?“ fragte Vince, nachdem er sich wieder gefasst hatte und nahm mit Julian auf dem Schoß auf einem der Stühle Platz.
„Es geht. Ich habe Bauchschmerzen und hätte vielleicht nicht so schnell aufstehen sollen. Aber sonst ganz gut.“
„Das ist schön. Blumen habe ich dir gar keine mitgebracht. Ich habe es total vergessen, tut mir Leid.“
„Schon gut. Die gehen hier sowieso ein. Blödes Krankenhaus. Guck dir mal das Zimmer an. Schrecklich. Nicht so schlimm, wie das, wo ich aufgewacht bin, aber trotzdem. Und das Telefon hier ist auch noch aus der Steinzeit.“
„Das wird schon. Zumindest kann ich dich jetzt anrufen. Weißt du denn schon, wann du nach Hause kannst?“ Vince tippte schnell die Nummer des Apparates in sein Handy und blickte dann wieder fragend zu Catherine.
„Naja, eine Woche haben die Ärzte gesagt. Aber ich möchte so lange nicht warten. Ich habe Dr. Foster vorhin erst gesagt, dass ich die Formulare zur frühzeitigen Entlassung haben will. Sie meinte aber, dass ich wenigstens diese Nacht noch bleiben soll. Also werde ich das machen.“
„Das klingt vernünftig. Auch wenn ich finde, dass eine Woche hier zu überleben ist. Meinst du nicht?“
„Willst du mich etwa los werden?“
„Keines Wegs. Ich bin doch gern deine Affäre.“
Catherine und Vince blickten sich schweigend an und begannen schließlich laut zu lachen. Julian hingegen saß auf VinceŽ Schoß und langweilte sich etwas.
„Krankenhaus ist doof, was Julian?“ fragte Catherine ihn und versuchte ihn etwas aufzumuntern.
Der Junge nickte ihr zu und fing an mit den Beinen zu wedeln.
„Ihr müsst wegen mir nicht so lange hier bleiben.“
„Na hör mal. Unter höchsten Anstrengungen habe ich mich in dein Zimmer gekämpft und jetzt soll ich wieder gehen?“
„Nein.“ schmunzelte sie ihm entgegen und versuchte sich etwas mehr aufzurichten. „Sollte ich morgen tatsächlich entlassen werden, kannst du mich dann abholen?“
„Sicher. Wann meinst du, wirst du entlassen?“
„Naja, die machen sicher noch einige Untersuchungen. Gegen zwölf?“
„Dann nehmen wir uns morgen mal frei, was Julian? Oder möchtest du lieber in den Kindergarten?“
„Ja. Hier ist es langweilig.“
Verständnisvoll blickte Catherine zu dem Jungen und dann wieder zu Vince.
„Aber nur, wenn es dir nicht zu viele Umstände macht.“
„Kein Problem. Ich habe dir übrigens auch ein paar Sachen mitgebracht. Zahnbürste und so.“
„Das ist gut. Ich habe nämlich einen richtigen Pelz auf meiner Zunge.“ lachte sie ihm entgegen und blickte wieder zu Miss Clark, die bereits laut schnarchte.
Nach einer halben Stunde wurde Julian unerträglich und Catherine und Vince einigten sich darauf, dass es besser war, wenn die beiden jetzt gehen würden. Wehmütig blickte sie den beiden noch nach und zog die Bettdecke etwas höher, als die Tür ins Schloss fiel.
„Er hat sich ganz schön verändert.“ durchdrang Miss ClarkŽs Stimme plötzlich die Ruhe und Catherine stierte sie akribisch an. Die Dame hatte doch bis eben noch geschlafen?!
„Sie sind ja wach?!“ entfuhr es Catherine spitz und sie drückte ihren Kopf etwas tiefer ins Kissen.
„Tut mir Leid, aber Mister Taylor wirkte auf mich nicht so, als würde er sich freuen, mich zu sehen.“
„Woher kennen Sie ihn?“
„Seine Reaktion vorhin war auch nicht die, die ich erwartet hatte. Oder es war eben genau die Reaktion, die ich erwartet habe und deshalb bin ich so geschockt.“
„Miss Clark! Woher kennen Sie ihn?“
„Er war früher immer bei mir. Als er noch fünfzehn war. Oder war er sechzehn? Na jedenfalls war er noch ein junger Bursche. Er wohnte mit seinen Eltern direkt neben mir und seine Mutter hatte mich damals oft gebeten auf ihn aufzupassen. Damals, als er noch ganz klein war.“
Catherine versuchte sich mit aller Macht auf die Seite zu drehen, damit sie Miss Clark besser sehen konnte, doch nach ein paar Versuchen ließ sie es lieber bleiben.
„Seine Mutter ist früh gestorben. Den Vater habe ich danach nie wieder gesehen und Vince kam ins Heim.“
„Ins Heim?!“
Catherine verschluckte sich fast an ihrer Zunge und schluckte schwer, nachdem sie den Mundmuskel endlich wieder unter Kontrolle hatte.
„Der Junge kam ins Heim, ja. Er besuchte mich noch eine ganze Weile lang. Nach einem halben Jahr wurden seine Besuche weniger und als das Jahr sich dem Ende näherte, bekam ich ein Paket von ihm. Ein Foto hatte er mir rein gelegt und einen Brief, indem er schrieb, dass er den Kindergarten seiner Mutter übernehmen wolle. Außerdem war da noch die Schachtel von den Pralinen, die ich immer so gerne gegessen habe. Ja, die waren wirklich lecker.“
„Und was war dann?“
„Seit dem Tag habe ich nichts wieder von ihm gehört und irgendwann hatte ich ihn schon fast vergessen. Dass er doch noch so gewachsen ist.“ Miss Clark lachte laut auf und begann zu husten.
Catherine nickte schweigend und blickte gegen die kahle Wand. So sah es also um seine Kindheit aus. Wie schrecklich. Vince hatte also eine Zeit lang im Heim gelebt. Deshalb war er wohl auch so zurückhaltend. Wie oft hatte Catherine im Fernsehen schon Berichte über Heime gesehen? Wie schrecklich es dort stellenweise zu ging. Und Vince hatte selbst wohl auch in so einem Heim gelebt. Was war sein Vater wohl für ein Mensch? Den ganzen Abend beschäftigte Catherine sich mit diesem Thema und fiel schließlich in einen unruhigen Schlaf, der durch eine Schwester jäh beendet wurde.
„Morgen.“ maulte die und schaltete das Licht ein. „Miss Hoover. Sie sind gleich dran.“
„Dran? Womit?“
„Nachkontrolle der Wunde und Ultraschall sowie CT.“
„Aha.“ entfuhr es Catherine trocken und sie wischte sich den Schlaf aus den Augen. Nach wenigen Minuten wurde sie aus dem Zimmer gefahren und durch die langen Gänge gerollt.

Larry saß im Wartebereich und blätterte in einer Zeitung. Er hatte den Job tatsächlich bekommen und er würde sich jetzt scheiden lassen. Endlich, er konnte Nägel mit Köpfen machen. Mister Parker, sein Anwalt, hatte ihm schon gut zugesprochen, denn mit dem Geld, dass Catherine ihm noch schuldete, hatte er eine gute Waffe, falls sie Ansprüche auf LarryŽs neues Gehalt haben würde.
„Mister Hoover bitte.“ rief eine junge Frau und führte ihn in ein Zimmer. „Der Arzt ist gleich da.“
Larry nickte nur und starrte an die kalten Wände. Ein junger Arzt betrat schließlich das Zimmer und begutachtete LarryŽs Arm.
„Hatten Sie Beschwerden?“
„Na aber hallo! Haben Sie sich schon mal mit links den Arsch gewischt?!“
Dr. Seboth blickte mit gerunzelter Stirn zu ihm auf und zog einen Rezeptblock aus seiner Kitteltasche.
„Ich verschreibe Ihnen noch einmal ein Schmerzmittel. Damit müsste es gehen. Falls Sie weiterhin Beschwerden haben sollten, wenden Sie sich bitte an Ihren Hausarzt. Hier ist der Behandlungsbericht. Legen Sie den auch vor.“
Larry beobachtete den Mann, wie er mit der linken Hand über den Rezeptblock kritzelte. Musste es ausgerechnet ein Linkshänder sein? Der wischte sich den Hintern sicher auch mit Links. Larry verzog das Gesicht und nahm das Rezept entgegen.
„Tja, dann auf Wiedersehen.“ stammelte er Dr. Seboth noch entgegen und verließ das Behandlungszimmer. Das Rezept steckte er in seine Hosentasche, ungeachtet dessen, dass es dort vollkommen zerknüllte. Er lief durch die Flure und an einer Ecke rief er plötzlich laut auf, als eine Schwester ihn fast mit dem Bett vor sich über den Haufen fuhr. Er riss seine Augen auf und blickte in ein mindestens genauso verdutztes Gesicht.
„Catherine?!“ fragte er fast apathisch und zog die Augenbrauen zusammen. „Was machst du denn hier?!“
CatherineŽs Herz raste und ihre Hände krampften in die Bettdecke hinein. Ein diabolisches Kratzen und Kribbeln unter ihrer Haut setzte ein und sie Kämpfte um jeden Liter Luft.
„Du Schwein!“ schrie sie und die Schwester stellte sich symbolisch zwischen die beiden. „Warum ich hier bin?! Weil du mich fast totgeschlagen hast!“
„Was ist?! Schrei mich nicht so an!“
„Sicherheitsdienst!“ kreischte die Schwester und war bemüht, Larry von CatherineŽs Bett fern zu halten, denn der war schon im Begriff seine Frau anzuspringen.
Zwei Beamte kamen nach ein paar Minuten angelaufen und Larry zog es vor sich aus dem Staub zu machen. CatherineŽs Herz hingegen pumpte wieder angestrengt Adrenalin durch ihren Körper und beflügelte sie bis in die Fingerspitzen.
„Ich will sofort die Entlassungspapiere!“ schrie sie immer und immer wieder. Selbst, als die Schwester sie wieder in ihr Zimmer brachte, kam Catherine nicht zur Ruhe und Dr. Foster brachte ihr endlich die gewünschten Unterlagen. Jeder Versuch, Catherine zum Bleiben zu bewegen schlug fehl und die Ärztin gab es nach einigen Anläufen schließlich auf. Diese Frau ließ sich nicht bekehren und wollte sich auch nicht eines Besseren belehren lassen. Also bitte, dann sollte sie eben gehen.
So richtig zur Ruhe kam Catherine aber auch nicht, als sie die Unterlagen endlich unterschrieben hatte und so beschäftigte sie sich damit, Miss Clark weiter auszufragen.
„Haben Sie eigentlich manchmal etwas mitbekommen? Also ich meine, als die TaylorŽs noch neben Ihnen gewohnt haben?“
„Mitbekommen?“ Miss Clark lachte laut auf und begann erneut zu husten. „Mitbekommen ist gut. Gestritten haben die sich. Fast jeden Tag war da Unruhe und Streit. Der Junge hatte mit sechzehn den Führerschein gemacht und war immer abgehauen. Und sobald er weg war, ging es richtig los. Ganz schlimm war das, sage ich Ihnen.“
„Haben Sie etwas verstehen können?“
„Sie sind recht neugierig, was? Sie mögen Vince, nicht?“ Miss Clark drehte sich zu Catherine und blickte sie mit einem sanften Lächeln an.
„Ja ich mag ihn.“ gab Catherine zu und atmete tief durch. „Er lässt mich mein total verkorkstes Leben vergessen.“
„Dabei war sein Leben bis dahin selbst nicht das Beste. Bei uns hat es das nicht gegeben. Selbst, als mein Vater damals in den Krieg geschickt wurde, meine Mutter liebte uns und behandelte uns immer gut.“
„Seine Mutter etwa nicht?“
„Doch, sicher. Sie hütete ihn, wie ihren Augapfel. Ich denke, dass das der Grund war, wieso ihr Tod ihn so sehr getroffen hat. Ich meine, wenn die Mutter stirbt ist das immer sehr schlimm, aber bei ihm war es ganz, ganz furchtbar. Und dann musste er ja auch noch ins Heim.“
„Das klingt alles so furchtbar.“
„Das war es auch.“
Catherine schwieg und hasste sich dafür, dass sie so sehr in VinceŽ Vergangenheit geschnüffelt hatte, denn jetzt wusste sie von Dingen, die sie vielleicht gar nicht wissen sollte und wollte.

Larry stürmte aus dem Krankenhaus und wählte hastig MadeleineŽs Nummer in sein Handy. Wie zu erwarten klingelte es und sie nahm wieder nicht ab. Wie er das doch hasste. Nur weil sie auf der Arbeit war, ging sie nicht an ihr Telefon. Er legte wieder auf und drückte das Handy in seiner Hand fest zusammen. Er musste sofort einen Termin beim Anwalt machen. CatherineŽs Aufenthalt im Krankenhaus würde sicher noch Konsequenzen für den Prozess haben und Larry wollte gewinnen, um jeden Preis. Er rief sich ein Taxi und ließ sich direkt zur Kanzlei fahren.

Vince warf einen prüfenden Blick auf die Uhr und dann zurück auf den Fußboden. Es war kurz vor elf und der Boden glänzte. Schließlich hatte er ihn eine halbe Stunde lang geputzt. Und überhaupt! Er war heute schon früh aufgestanden, hatte Julian in den Kindergarten gefahren und nun putzte er seine Wohnung. Catherine sollte es doch gut haben, wenn sie wieder nach Hause kam. Bei dem Gedanken, dass CatherineŽs neues Heim seine Wohnung war, lief ihm ein wohliger Schauer über den Rücken. Doch noch bevor er lange darüber nachdenken konnte, klingelte sein Telefon und eine weinerliche und total verstörte Stimme wimmerte in sein Ohr.
„Linda? Sind Sie es?“
„Vince!“ kreischte sie und brach noch mehr in Tränen aus. „Endlich erreiche ich mal jemanden. Was ist denn nur los?! Was ist mit meinem Jungen? Was mit Catherine?!“
„Beruhigen Sie sich, Linda. Alles ist in Ordnung. Julian geht es ausgezeichnet. Er ist im Kindergarten.“
„Und warum sind Sie zu Hause?! Wer passt denn auf ihn auf? Wo ist Catherine?!“
„Halt, Stopp! So geht das nicht. Beruhigen Sie sich erstmal etwas. Dann reden wir weiter.“
Linda schnaufte schwer durch und nahm auf ihrem Bett im Hotelzimmer Platz.
„Julian ist, wie gesagt, im Kindergarten. Meine Kollegin betreut heute seine Gruppe mit, weil ich dringend Urlaub nehmen musste.“
„Wieso Urlaub? Seit wann brauchen Sie Urlaub?“
Vince lachte leise auf und sprach ruhig weiter.
„Catherine, also, sie liegt im Krankenhaus.“
„Was?!“ kreischte Linda und war einer Ohnmacht nahe. „Und wer passt dann auf Julian auf?!“
„Ich.“
„Sie?“
„Ich, genau.“
„Sie?“ wiederholte Linda wieder und räusperte sich ungläubig.
„Trauen Sie mir das etwa nicht zu, Linda?“
„Was?! Doch natürlich. Aber... Oh Gott. Seit dem Wochenende versuche ich Catherine zu erreichen und es geht niemand dran und ihr Handy ist auch aus und zu Hause da geht keiner dran und bei Ihnen ist auch keiner dran gegangen und die Nummer vom Kindergarten habe ich verschusselt und...“
„Linda, beruhigen Sie sich. Es ist alles in bester Ordnung. Catherine möchte sich noch heute darum bemühen das Krankenhaus zu verlassen. Sie wird also auch bald da sein. Ich hole sie heute Mittag ab und um drei fahren wir gemeinsam in den Kindergarten und holen Julian ab.“
„Wieso werde ich über so etwas nicht informiert?! Und wieso liegt Catherine im Krankenhaus?“
„Linda, es wäre mir lieb, wenn Sie heute Abend noch einmal mit Catherine persönlich sprechen würden. Sicher kann sie Ihnen besser Auskunft erteilen, als ich.“
„Heute Abend? Wann soll das sein?! Ich muss arbeiten. Die Zeitverschiebung! Ich glaube, es ist das Beste, wenn ich meinen Aufenthalt hier beende und nach Hause komme.“
„Nun, das müssen Sie wissen, aber ich denke, es wäre das Beste, wenn Sie noch warten, bis Catherine zu Hause ist und dann mit ihr reden.“
Eine Weile lang schwiegen beide und ab und zu knackte es in der Leitung.
„Ich werde auf einen Anruf warten. Ich gebe Ihnen meine Nummer vom Hotel. Catherine soll versuchen mich morgen zwischen acht und neun zu erreichen. Dann ist es hier zwar schon nachts, aber die Chance, dass sie mich erreicht ist am höchsten.“
„Gut, so machen wir es. Wie ist die Nummer Ihres Hotels?“

Abi stieß die Tür zum Zimmer Nummer sechs auf und blickte prüfend in die zwei Gesichter, die sie anstarrten.
„Guten Morgen!“ strahlte sie beiden entgegen und stellte sich an CatherineŽs Bett. „Wie geht es Ihnen, Catherine?“
„Es geht.“ murrte die kurz auf und ihr Blick fiel flüchtig auf die bereits fertig gepackte Tasche neben ihrem Bett.
„Sie wollen also heute schon nach Hause?“
„Allerdings. Hier hält mich nichts mehr.“
„Würden Sie mich für ein Gespräch noch kurz in mein Büro begleiten?“
„Es gibt nichts mehr zu besprechen.“
„Woher der plötzliche Sinneswandel?“
„Ich habe schon gestern bereut, dass ich Sie in meinem Leben habe herum schnüffeln lassen. Diesen Fehler werde ich nicht noch einmal machen.“
Abi zog die Augenbrauen zusammen und aus dem anfangs recht freundlichen Gesicht wurde ein ernstes.
„Ich glaube, dass wir noch ein paar Sachen in meinem Büro besprechen sollten. Natürlich ginge das auch hier, aber ich denke, dass Miss Clark nicht daran interessiert sein dürfte.“
„Sagen Sie, wann geben Sie eigentlich auf?“
„Niemals. Denn sonst könnte ich meine Patienten nicht betreuen. Würden Sie mir also in mein Büro folgen?“
Catherine gab irgendwann klein bei und ließ sich von einer Schwester in den Rollstuhl setzen, den Abi direkt in ihr Büro schob. Sie öffnete die Tür zum Sitzungsraum und schaltete das Licht an.
„Ich bin sofort wieder da. Einen Moment bitte.“ sprach es und verschwand.
Catherine blickte sich um. In den zwei Ecken, die ihr gegenüber lagen standen zwei große Benjamin-Bäume, die mit ihren Ästen bereits an die Decke des Raumes reichten. Das Holz der Möbel war dunkel, genau wie der Teppich.
`Kein Wunder, dass man hier depressiv wird.Ž ging es Catherine durch den Kopf und sie atmete schwer ein, denn ihre Wunde am Bauch schmerzte noch immer.
„So.“ durchdrang AbiŽs Stimme die Ruhe. „Jetzt habe ich alles.“
„Es ist schon nach halb zwölf.“ stellte Catherine fest und blickte Abi überheblich an.
„Haben Sie sich schon etwas vorgenommen?“
„Ich werde abgeholt.“
„Das hört sich doch gut an. So Catherine. Ich weiß, dass Ihnen eine Unterhaltung mit mir nicht schmeckt, aber ich glaube, es wäre das Beste, wenn wir uns ab und zu noch mal über Ihre Ehe und das Drumherum unterhalten. Ich gebe Ihnen hier diese Mappe mit. Darin enthalten sind Informationen und auch meine Karte. Wenn Sie es sich noch einmal anders überlegt haben, wenden Sie sich einfach an diese Nummer hier.“ Abi schlug die dicke Mappe auf und zeigte mit dem Finger auf eine Visitenkarte.
„Und wenn ich mich nicht melde?“
„Ich kann Sie nicht zu einer Behandlung zwingen.“
„Aber das würden Sie gern, nicht wahr?“
„Dazu äußere ich mich nicht. Also. Lesen Sie die Infomappe gut durch und vielleicht entscheiden Sie sich ja doch dazu, sich noch einmal mit mir zu unterhalten.“
„WarŽs das jetzt?“
„Ja das warŽs.“
„Gut, dann möchte ich jetzt in mein Zimmer.“

„Verdammt! Verdammt! Verdammt!“ fluchend hetzte Vince zu seinem Wagen und stieg ein. Es war bereits zehn vor zwölf und er würde auf Garantie zu spät kommen. Linda hatte ihn länger aufgehalten, als erwartet und nun war er noch nicht einmal losgefahren. Er drehte den Schlüssel im Zündschloss und fluchte erneut.
„Du dumme Kiste! Spring an! Spring an los. SPRING ENDLICH AN!“
Er knallte seine Faust dumpf auf das Lenkrad und ließ seinen Kopf auf die Nackenstütze fallen. Wieso musste sein Wagen ausgerechnet jetzt seinen Dienst versagen? Kurzerhand stieg er wieder aus und überlegte. Diese alte Mistkarre würde sich heute keinen Meter mehr bewegen. CatherineŽs Autoschlüssel lag bei ihm in der Wohnung. Allerdings musste er ja auch erstmal zu ihr kommen. Er zückte sein Handy und wählte CatherineŽs Nummer. Es klingelte und klingelte. Niemand nahm ab. Fluchend legte er wieder auf und rief sich ein Taxi.
Er konnte Catherine schließlich auch unterwegs Bescheid geben.

Catherine blieb in ihrem Zimmer gleich im Rollstuhl sitzen und blickte aus dem Fenster in den krankenhauseigenen Garten. Die Sonne schien und die ersten Knospen bildeten sich an den Bäumen. Auf den Wiesen blühten bereits die ersten großen Ansammlungen von Schneeglöckchen und Krokussen. Ungeachtet dessen fiel ihr Blick auf die Uhr. Es war schon zehn nach zwölf und Vince war noch nicht da. `Wahrscheinlich sein AutoŽ ging es Catherine durch ihren Kopf und sie betrachtete weiter die bunten Blumen im Garten, als Miss Clark plötzlich aus dem Badezimmer gehumpelt kam.
„Miss Hoover.“ begann sie und nahm auf ihrem Bett Platz. „Da hat jemand für Sie angerufen. Es hat oft geklingelt, aber ich wusste nicht, ob es sinnvoll ist, einfach dran zu gehen. Deshalb habe ich es gelassen.“
„Ach, das war sicher Vince.“ lächelte sie ihr atemlos entgegen und wandte den Blick wieder gen Garten. Miss Clark nickte ihr schweigend zu und legte sich wieder hin.
„Wollen Sie nicht auch lieber wieder nach Hause?“ fragte Catherine und drehte sich samt Rollstuhl zu ihr um.
„Nach Hause? Ja, das wäre schön, aber seit mein Mann tot ist, hält mich da nichts mehr. Da ist ja niemand, der nach mir sieht. Wenn es mir wieder schlechter geht, dann bin ich allein.“
Catherine nickte und biss sich auf die Unterlippe. Es war, als hätte sie sich eben selbst reden gehört. Immerhin war Larry, als sie so sehr krank war, auch nicht für sie da gewesen. Er hatte sich betrunken und das ganze Geld in der Kneipe nebenan versoffen und sie? Sie lag mit neununddreißig Grad Fieber im Bett und halluzinierte vor sich hin, weil es ihr so schlecht ging.
Gegen halb eins wurde die Tür zum Zimmer aufgerissen und in ihr stand Vince, völlig außer Atem, die Haare wirr und in Jogginghose. Catherine blickte ihn an und begann kurz zu lachen.
„Was ist denn mit dir passiert?“ kicherte sie und sah ihn weiter fragend an.
„Dieses Auto.“ fluchte er und versuchte zu Atem zu kommen. „Es wollte einfach nicht anspringen. Dann habe ich versucht dich zu erreichen, aber ich hatte wohl einen schlechten Zeitpunkt erwischt.“
„Und jetzt läuft der Wagen wieder?“
„Nein, ich habe kurzerhand dein Auto geholt.“
„Mein Auto?“ Catherine blickte ihn groß an und überlegte. Natürlich, ihr Auto. Das stand ja noch bei ihr zu Hause.
„Hast du jemanden gesehen?“
„Naja jemand nicht, aber in der Wohnung war das Fenster auf Kipp. Ich denke mal, dass Larry zu Hause ist.“
Catherine nickte und drehte sich samt Rollstuhl zu ihrer Tasche.
„Na, lass das. Die Tasche nehme ich.“
Sie nickte ihm zu und blickte dann zu Miss Clark.
„Ich wünsche Ihnen alles Gute, Miss Clark. Werden Sie schnell wieder gesund. Und das mit dem Bein wird wieder. Irgendwann müssen Sie nicht mehr humpeln.“
„Wenn es soweit ist, komme ich Sie in ihrem Laden besuchen, Miss Hoover.“
„Ich werde es mir merken. Und wehe, Sie kommen nicht.“ Catherine hob ihren Finger ermahnend in die Höhe, worauf die beiden Frauen begannen zu lachen. Schließlich schob Vince Catherine durch die Flure und brachte sie zu ihrem Auto.
„Kannst du so sitzen?“
„Es geht.“ stöhnte sie ihm entgegen und verzog das Gesicht.
„Soll ich die Rückenlehne etwas weiter zurück stellen?“
„Ja bitte.“
„So. Dann bringe ich jetzt noch schnell den Rollstuhl weg und komme gleich wieder, ja?“
„Ist gut.“
Vince machte Kehrt und überquerte bei sich bietender Gelegenheit die Straße. Catherine blickte ihm noch etwas nach.
`Was für ein Hintern!Ž Catherine schmunzelte kurz und lehnte ihren Kopf gegen die Nackenstütze. Schließlich lachte sie laut auf und rieb sich den Bauch, denn der tat noch immer weh.
Kurze Zeit später erreichte Vince CatherineŽs Wagen und stieg zu ihr.
„Ich glaube, du solltest heute nicht mehr so viel reisen. Am besten legst du dich gleich hin, wenn wir zu Hause sind.
„Ich habe doch die ganze Zeit gelegen. Jetzt möchte ich etwas sehen. Ich habe das Liegen nämlich satt.“
„Keine Widerrede. Wir fahren ohnehin erstmal nach Hause und dann sehen wir weiter.“
„Aber.“
„Kein Aber. Ich mache das schon.“
Vince startete den Motor und schlängelte sich in den fließenden Verkehr. Obwohl es Donnerstag Mittag ist, wirkte es eher so, wie Freitag Abend Rushhour. Alles, was Reifen hatte, schien in diesem Moment unterwegs zu sein und Vince zog die Augenbrauen zusammen. Ein sicheres Zeichen, dass er sich konzentrierte. Catherine beobachtete ihn während der ganzen Fahrt und lächelte ihm ab und zu zu, wenn er zu ihr herüber blickte.
„Hast du einen Krankenwagen gerufen?“ durchdrang CatherineŽs Frage das Gequatsche, dass aus dem Radio drang.
„Hmm?“
„An dem Morgen. Hast du da einen Krankenwagen gerufen?“
„Sicher, was denkst du?“
„Ich frage nur, weil ich mich nicht daran erinnern kann.“
„Du hast mir einen wahnsinnigen Schreck eingejagt. Im ersten Moment dachte ich wirklich, dass... Naja, dass es dir nicht so gut geht.“ korrigierte er sein Gedachtes und blickte stur auf den grauen Asphalt, der vor ihnen lag.
„Es tut mir Leid.“
„Wenn es dir nochmal schlecht gehen sollte, dann sag mir das bitte rechtzeitig. Du ahnst ja nicht, wie hilflos ich mir vorgekommen bin.“
„Es tut mir Leid.“ wiederholte sie und blickte ihn an. Sein Gesicht hatte seine gesamte Ausstrahlung verloren und wirkte dumpf und grau. Sie entdeckte, dass seine Kiefer wieder gegeneinander arbeiteten, denn an seinen Schläfen pulsierte es.
„Lass das.“ ermahnte sie ihn und drückte ihm den Finger auf die Nase.
„Was soll ich lassen?“
„Nicht mit den Zähnen knirschen. Das ist nicht gut.“
„Ich knirsche doch gar nicht?“
„Und ob.“
„Nein!“
„Na, wenn du es nochmal machst, filme ich es.“
Sein Gesicht verzog sich endlich wieder zu einem Lächeln und Catherine schloss zufrieden die Augen.
Nachdem sich Vince durch den Verkehr gedrängt hatte, erreichten sie schließlich seine Wohnung und er parkte den Wagen direkt vor seinem. Er nahm CatherineŽs Tasche und blickte zu ihr herüber.
„Schläfst du?“
Doch Catherine antwortete nicht und Vince hielt ihr kurz die Hand unter die Nase. Warme Luft strömte an seiner Haut vorbei und er atmete erleichtert auf. Eilig hastete er in die Wohnung und warf die Tasche vor die Garderobe, um dann wieder zum Auto zu gehen und Catherine zu holen. Behutsam trug er sie die Treppen hoch und legte sie ins Bett, damit sie noch etwas schlafen konnte. Die Jalousie hatte er heute Morgen noch gar nicht hochgezogen und deshalb war es auch angenehm dunkel, sodass Catherine wahrscheinlich nicht so schnell aufwachen würde.
Er schloss die Schlafzimmertür und blickte sich um. Vielleicht hatte sie ja Hunger, wenn sie aufwachen würde. Kurzerhand stellte er sich in die Küche und kramte ein paar Utensilien zusammen, die er brauchen konnte, um ihr etwas leckeres zu kochen.

Larry verließ die Kanzlei und zündete sich eine Zigarette an. Sollte Catherine ihn wirklich anzeigen, sah es schlecht aus, den Prozess vor Gericht zu gewinnen. Vielleicht hatte er tatsächlich ein klein wenig überreagiert, aber andererseits war sie ja auch selber Schuld. Sie hätte ihn nicht so reizen dürfen. Schließlich kannte sie ihn ja. Fünfzehn Jahre kannten sie sich schon, zehn davon waren sie bereits verheiratet. Da kann man doch annehmen, dass der Partner einen kennt. Larry blies sich etwas Luft durch das Gesicht und überlegte, was er als nächstes tun könnte. Madeleine war noch bis fünfzehn Uhr auf Arbeit. Noch eine Stunde bis dahin. Vielleicht sollte er sie mal besuchen. Er rief sich ein Taxi und machte sich auf den Weg. Am Ziel angekommen stieg er aus und überquerte schnell die kleine Straße. Er stieß die Tür auf und blickte sich um. Hier war er noch nie gewesen und das Kindergeschrei drang ihm an die Ohren. Akribisch durchsuchte er den Kindergarten und wurde bald fünd
ig.
„Larry!“ schrie Madeleine auf und erhob sich aus der Spielgruppe. „Was machst du denn hier?!“
„Ich wollte dich besuchen.“ er blickte sich um und entdeckte plötzlich Julian, der ihn mit großen Augen anblickte. Kein Wort kam über seine Lippen. Er saß da und schwieg seinen Onkel an.
„Hallo Julian.“ entfuhr es ihm und er blickte ihn durchdringend an. Doch Julian antwortete nicht und nahm hinter Madeleine reiß aus. „Willst du deinem Onkel nicht Guten Tag sagen?“
Dicke Tränen quollen aus JulianŽs Augen hervor und er klammerte sich so fest er konnte in MadeleineŽs Hosenbein.
„Du kennst ihn?“ fragte Madeleine, um Julian aus der prekären Situation zu befreien.
„Allerdings. Wieso fragst du?“
„Naja, ich habe mich nur gewundert. Was macht dein Arm?“
„Naja, es geht. Ich muss nachher noch zur Apotheke und dann mal sehen. Wie sieht es bei dir aus? Hast du heute Zeit?“
„Nun, morgen wäre mir lieber. Der Kindergarten hat ja nur bis Mittag auf. Wenn du willst, hole ich dich dann zu Hause ab, denn fahren kannst du so sicher noch nicht.“
„Gut, dann machen wir es so.“
„Geh jetzt lieber. Mein Chef holt den Jungen sicher bald ab.“
„Gut, wie du meinst.“
Larry küsste Madeleine noch kurz zum Abschied und verließ den Kindergarten. So recht etwas anzustellen wusste er jedoch nicht und so schlenderte er durch die Straßen, als ihm plötzlich etwas in den Sinn kam.
`Geh jetzt lieber. Mein Chef holt den Jungen sicher bald ab.Ž hallte es in seinem Kopf wider und er blieb abrupt stehen. Ihr Chef? Was wollte ihr Chef denn von dem Jungen? Richtig, Catherine lag im Krankenhaus und konnte Julian nicht abholen. Aber warum holte MadeleineŽs Chef den Jungen vom Kindergarten ab? Kurz überlegte er und lief eilig wieder zurück. Es war zwanzig vor drei, als er sich hinter einem Auto, auf der anderen Seite des Kindergartens auf die Lauer legte.

Vince stieg in CatherineŽs Auto und machte sich auf den Weg zum Kindergarten. Wenigstens sprang ihr Wagen sofort an. Der Verkehr hatte etwas nachgelassen und so kam er gut voran. Catherine schlief noch immer, als er die Wohnung verlassen hatte. Gegessen hatte sie auch noch nichts. Dabei hatte er sich so eine Mühe mit dem Essen gemacht. In mühsamer Kleinarbeit hatte er einen Bauerntopf gezaubert. Der kam selbst im Kindergarten immer gut an und vielleicht konnte er auch Julian dafür begeistern. Er erreichte den Kindergarten und stieg aus dem Wagen. Im Flur stand bereits Julian, der sich eigenhändig angezogen hatte.
„Na Großer? Du hast es aber eilig. Kannst es wohl kaum erwarten, nach Hause zu kommen, was?“
Doch Julian antwortete nicht und umfasste nur seine Hand.
„Was ist los? Du bist so ruhig. Ist etwas?“
Julian schüttelte schweigend den Kopf und zog Vince zum Ausgang.
„Madeleine! Wir gehen dann jetzt!“ rief er in den Flur und wandte sich wieder dem Jungen zu, der darauf beharrte, zu gehen.
„Ist gut.“ rief Madeleine den beiden hinterher und winkte noch kurz, bevor sie wieder im Spielzimmer verschwand. Vince nahm Julian auf den Arm und verließ mit ihm den Kindergarten. Suchend blickte der sich immer wieder um.
„Was ist denn los? Hmm?“
„Nichts.“ trotzte Julian und vergrub sein Gesicht in VinceŽ Schulter. Sie setzten sich ins Auto und fuhren schließlich wieder Richtung Heimat.
Larry erhob sich und blickte über das Auto hinweg, welches ihm bis eben noch ein Versteck geboten hatte. Dieser Vince war es also. Er war MadeleineŽs Chef, CatherineŽs Geliebter und der Arsch, der ihm den Arm ausgekugelt hatte. Dieses Arschloch nahm ihm alles. Doch Larry würde sich das nicht gefallen lassen. Weder seine Frau, noch seine Madeleine würde er ihm wegnehmen. Darauf schwor er und grummelte laut vor sich hin. Dieser Vince würde noch bluten. Und Catherine... Sie auch.

Vince schloss die Tür zu seiner Wohnung auf und ließ Julian wieder herunter. Die ganze Fahrt über hatte der Junge nicht ein Wort geredet und auch jetzt machte er keine Anstalten etwas daran zu ändern. Schweigend setzte er sich vor den Fernseher und wartete darauf, dass Vince ihm seine Lieblingsserie einschaltete. Verwundert über JulianŽs Verhalten zuckte der mit der Schulter und schaltete schließlich den Apparat ein.
Julian vertiefte sich immer mehr in seine Serie und Vince ließ ihn erstmal in Ruhe. Vielleicht würde er ja beim Essen etwas erzählen oder ihnen sagen, was vorgefallen war. Er schlich sich ins Schlafzimmer und beobachtete Catherine, die noch immer tief und fest schlief. Er ließ sich neben dem Bett nieder und strich ihr sanft durch die langen dunklen Haare, die total verquer über dem Kopfkissen verteilt lagen.

Eine Tür fiel ins Schloss und Catherine zuckte verschreckt zusammen. Sie drehte sich um und versuchte durch die Dunkelheit etwas zu erkennen. Ein grelles Licht fiel in ihre Augen, die sich daraufhin fest zusammen kniffen.
„Larry! Da bist du ja! Und? Was hat der Arzt gesagt?“
„An mir liegt es nicht.“ gab er tonlos zu ihr zurück und nahm am Küchentisch Platz. „Bei mir ist alles in Ordnung. Es liegt also an dir.“
Gleich mehrere Stiche versetzte er ihr mit dieser Aussage und dass es an ihr liegen würde klang so vorwurfsvoll, dass es Catherine die Tränen in die Augen trieb.
„Dann werde ich also morgen beim Frauenarzt anrufen und mich auch testen lassen?“ erwiderte sie atemlos und presste sich die Hand auf den Mund, um einen lauten Aufschrei der Verzweiflung zu verhindern.
„Was soll das bringen? Ich kann Kinder zeugen. Das steht fest, also liegt es doch an dir. Was willst du? Es bringt nichts, es nochmal testen zu lassen. Alles nur raus geschmissenes Geld.“
„Aber dann haben wir Gewissheit?“ fragte sie ihn gequält und wünschte sich nichts sehnlicher, als eine tröstende Umarmung oder einen guten Zuspruch von ihrem Mann.
„Die Gewissheit haben wir doch schon. Ich bin fruchtbar, du eben nicht. Ende aus.“
Catherine sank an der Küchenzeile herunter auf den Boden und kauerte sich zusammen. Bis zuletzt hatte sie gehofft. Sie hatte gehofft, dass sie nicht der Grund war, warum es mit einer Schwangerschaft einfach nicht klappen wollte, doch jetzt zerplatzte dieser Traum, diese Hoffnung, wie eine Seifenblase. Tausende Scherben lagen um sie herum und ihr Gefühlschaos raubte ihr fast den Verstand. Natürlich. Larry hatte Recht. Er war zeugungsfähig. Und wenn er es war und es trotzdem nicht klappte, dann lag es an ihr. An wem sonst?
„Wenn ich das gewusst hätte.“ nuschelte Larry noch vor sich hin und verschwand im Arbeitszimmer. Auch die Tatsache, dass er es ganz leise gesagt hatte, machte es nicht besser, denn gehört und verstanden hatte es Catherine sehr wohl. Was wäre wohl gewesen, wenn er es gewusst hätte? Hätte er sie dann nicht geheiratet? Hätte er sie dann niemals geliebt? Was wäre dann gewesen? Catherine sprang auf und rannte ins Badezimmer. Ihr Magen fuhr Achterbahn und die Übelkeit übermannte sie beinahe. Sie erbrach sich ins Toilettenbecken und wimmerte leise auf.
„Catherine?“ hörte sie eine Stimme sagen und blickt sich um. Das Badezimmer war doch leer?
„Catherine. Hey!“
Panisch sprengten sich ihre Lider von einander ab und sie stand gerade im Bett, um gleich darauf schmerzerfüllt wieder in die Kissen zurück zu sinken.
„Vince.“ wimmerte sie kurz und sah ihn an. Noch immer strich er ihr durch die langen Haare und blickte sie verständnisvoll an.
„Es war nur ein Traum. Beruhig dich.“
„Ich kann nicht.“ Unkontrollierbar tropften ihr Tränen aus den Augen und sie vermochte es nicht zu schaffen ihnen Einhalt zu gebieten.
„So schlimm? Erinnerst du dich an den Traum?“
Sie nickte ihm zu und wischte sich mit dem Handrücken durch das müde Gesicht.
„Willst du darüber reden?“
„Ich habe von Larry und mir geträumt. Er war so böse zu mir.“
„Ich weiß.“ Vince legte sich neben sie auf das Bett und nahm sie in den Arm.
„Er hatte einen Test machen lassen. Dann hat er gesagt, dass ich der Grund bin, warum wir keine Kinder kriegen. Und dann...“ ihre Stimme brach und sie wurde immer unverständlicher. „Dann hat er gesagt: Wenn ich das gewusst hätte.“
„Lass dich von diesem Arsch nicht so runter ziehen. Wer weiß, ob er diesen Test überhaupt gemacht hat. Hast du Unterlagen davon gesehen?`“
„Nein.“ weinte sie ihm entgegen.
„Siehst du? Vielleicht hat er dich nur aufŽs Korn genommen. Ich wette mit dir, dass er diesen Test niemals gemacht hat. Dazu ist er nämlich viel zu feige. Man stelle sich vor, das Ergebnis hätte gezeigt, dass er nicht zeugen kann.“
In CatherineŽs Bauch begann es zu brodeln. Warum war sie so dumm gewesen? Larry hatte ihr niemals auch nur ein Schreiben vom Arzt gezeigt. Niemals. Sie hatte ihm blind vertraut und ist all die Jahre davon ausgegangen, dass Larry nicht der Grund sein konnte, dass sie kinderlos blieben. Sie ballte ihre Hand zu einer Faust und blickte zu Vince. Sie wollte stark sein und sie wollte endlich raus aus diesem Sumpf, in den Larry sie gezogen hatte mit seinem Alkohol und seiner Gewalt. Sie wollte da raus!
„Es riecht gut.“ bemerkte sie, als ihr ein wirklich leckerer Duft in die Nase stieg.
„Ja.“ Vince setzte sich neben sie und blickte auf seine Finger, die unkontrolliert miteinander spielten. „Ich habe etwas zu Essen gemacht. Nichts besonderes, aber vielleicht magst du es trotzdem?“
„Na aber hallo. Was ist das? Es riecht wirklich toll.“
„Bauerntopf. Komm, lass uns etwas essen. Kannst du laufen?“
Catherine atmete schwer und kämpfte sich aus der Bettdecke heraus, als Vince sie schon umfasste und in die Stube trug. Auf dem Sofa machte er es ihr dann bequem und wärmte das Essen nochmals auf.
„Julian? Willst du auch etwas essen?“
Der Junge nickte und vertiefte sich wieder in seine Serie.
„Er ist die ganze Zeit schon so komisch.“ stellte Vince fest, als er sich neben Catherine setzte. Das Essen köchelte still weiter und Vince sah ab und zu danach.
„Und wieso?“
„Keine Ahnung. Er wollte es mir nicht sagen. Heute Morgen war er noch putzmunter, aber jetzt.“
„Hmm...“ Catherine verzog ihr Gesicht zu einer Denkermiene und starrte dem Jungen in den Nacken. Vince indes sprang erneut vom Sofa auf und eilte in die Küche.
„Ich glaube, das Essen ist jetzt heißt genug.“
„Prima.“ entgegnete Catherine ihm und versuchte sich aufrecht hinzusetzen.
„Bleib liegen. Das ist doch sonst so anstrengend.“
„Wie soll ich dann essen?“
„Das klappt schon. Und wenn Julian und ich dich füttern müssen.“
Julian drehte sich kurz zu Catherine und schmunzelte sie an.
„Darf ich sie füttern?“ fragte er prompt und krabbelte auf allen vieren zu ihr ans Sofa.
„Soweit kommt es noch. Ich bin doch nicht invalide!“ empörte sie sich zu Vince und verschränkte gekünstelt die Arme.
„Wenn du uns verrätst, was vorhin mit dir los war, dann darfst du deine Tante füttern.“
Gerade, als Catherine sich von neuem empören wollte, blickte Vince sie durchdringlich und gleichzeitig auch flehend an.
Julian überlegte kurz und blickte dann wieder zu Catherine.
„Onkel Larry, der war im Kindergarten.“
„Was?!“ Vince fiel der Kochlöffel samt Teller auf den Boden und sofort wurde die Ruhe durch das klirrende Porzellan vertrieben.
„Sag das nochmal.“ rief er dem Jungen zu und wischte sich die Hände an einem Handtuch sauber.
„Onkel Larry war im Kindergarten. Er hat mich ganz böse angeguckt.“
Julian senkte seinen Blick und schniefte kurz auf.
„Was wollte er denn da?“ fragte Catherine ihn ruhig, um ihn nicht noch mehr zu verschrecken.
„Er hat Madeleine geküsst. Und er hat geschimpft, weil ich nicht Guten Tag sagen wollte.“
Vince ballte seine Hände zu Fäusten und blickte zu Catherine. Die saß, wie bestellt und nicht abgeholt neben ihm auf dem Sofa und ihr Gesicht zeigte nicht eine Emotion. In ihrem Inneren tobte ein gewaltiger Sturm und Panik ließ ihr Herz wild pumpen. Wieso war Larry im Kindergarten? Und wer war Madeleine? War das etwa VinceŽ Arbeitskollegin, von der er ab und zu mal erzählt hatte? Sie dachte angestrengt nach und grübelte, dass ihr der Kopf rauchte.
Larry hatte also eine andere. Das erklärte auch, wo er nachts immer war. Und das erklärte auch, wieso er eine Woche lang nicht da gewesen ist. Sicher hatte er sich mit dieser Madeleine getroffen und mit ihr schöne Stunden verbracht. Wahrscheinlich hatten sie es sich in einem Hotel bequem gemacht und den Urlaub verlebt, den Catherine eigentlich mit ihm nehmen wollte. Angestrengt knirschte sie mit den Zähnen und massakrierte ihn in Gedanken. Wie konnte er ihr das nur antun? Wie konnte er nur?
„Cathy?“ hörte sie VinceŽ vertraute Stimme und blickte ihn verzweifelt an.
„Warum macht er das? Er betrügt mich.“
Vince nahm Catherine in den Arm und drückte sie an sich. Er war mindestens genau so wütend, wie sie. Und die Tatsache, dass Larry es sich sogar erlaubte, in seinen Kindergarten zu kommen, ließ das Blut in seinen Ohren laut rauschen. Wie konnte er es wagen auch nur einen Fuß in seinen Kindergarten zu setzen?
Julian kuschelte sich zu den beiden und schniefte abermals laut auf.
„Du hast alles richtig gemacht.“ entfuhr es Catherine plötzlich kühl und sie schob Vince von sich weg.
„Wenn Larry den Krieg will, soll er ihn bekommen. Die Rache einer Frau ist erbarmungslos.“ Vince umfasste ihr Gesicht und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen, doch CatherineŽs Blick war eisiger, als er es jemals erwartet hätte. Ihre Augen durchbohrten ihn und nahmen seine Persönlichkeit überhaupt nicht mehr wahr.
„Ich werde ihn anzeigen und ich werde die Scheidung einreichen. Dann werde ich ihm alles wegnehmen, was er liebt und Madeleine... Sie wird...“
„Cathy, warte.“ Vince hob den Finger mahnend in die Luft und blickte sie ernst an.
„Madeleine wusste vielleicht gar nicht von dir? Du kannst sie nicht für LarryŽs Fehler verantwortlich machen.“
„Dann will ich zumindest dafür sorgen, dass sie sich trennen. Früher oder später wird er zu ihr genau so sein, wie zu mir und das lasse ich nicht zu.“
Ihre Ansprache ließ keine Widerrede zu und so nickte Vince schweigend und ging zurück in die Küche.
„Wollt ihr trotzdem noch etwas essen? Oder hat es euch den Appetit verschlagen?“
Catherine blickte kurz zu Julian.
„Wir haben immer noch Hunger. Lasst uns etwas essen.“
Sie rang sich ein Lächeln ab und zwinkerte Vince aufmunternd zu, doch der war schon mehr damit beschäftigt, die Scherben vom Fußboden aufzusammeln.
„Ist es schlimm?“ fragte Catherine und überblickte die Küche von der Stube aus.
„Nein, nur der Teller ist hin.“
„Oh man. Und dass, wo du hier so toll sauber gemacht hast.“
„Ist es dir aufgefallen?“
„Natürlich!“ grinste sie ihm entgegen und VinceŽ Herz machte einen Luftsprung. Er drapierte das essen auf drei Teller und brachte sie nach und nach in die Stube, wo es sich dann alle schmecken ließen.
„Linda hat angerufen.“ bemerkte Vince nebenbei und stopfte sich den nächsten Löffel in den Mund.
„Linda?! Um Gottes Willen, die habe ich ja ganz vergessen!“ schrie Catherine spitz auf und blickte zu Julian. „Was hat sie gesagt?“
„Du sollst sie morgen früh gleich anrufen. Sie hat mir die Nummer ihres Hotelzimmers gegeben. Sie war natürlich nicht sehr angetan. Sie hat wohl schon öfter versucht, dich zu erreichen.“
„Mist. Das verzeiht Linda mir nie!“
„Wenn du ihr alles in Ruhe erklärst, geht das schon.“
„Hast du ihr schon etwas gesagt?“
„Nur, dass du im Krankenhaus warst. Mehr weiß sie nicht. Naja, und dass Julian eben bei mir ist.“
Catherine nickte ihm verhalten zu und ging in Gedanken das Gespräch schon einmal durch. Sicher würde Linda ihr zuerst den Kopf abhacken und dann würde sie Salz nehmen, um es ihr in diese Wunde zu streuen. Sicher, das war auch gerechtfertigt, denn wer weiß, wie Catherine reagiert hätte, wenn sie an LindaŽs Stelle gewesen wäre. Andererseits, wie hätte Linda sich verhalten, wenn sie an CatherineŽs Stelle gewesen wäre? Sie hatte es schließlich auch nicht leicht. Aber ihre Freundin dafür verantwortlich zu machen brachte rein gar nichts, also verwarf Catherine diesen Gedanken schnell wieder und leerte ihren Teller.
„Wo ist eigentlich dein Handy? Linda meinte, es wäre nicht an. Vielleicht sollten wir mal den Akku laden?“
„Mein Handy?“ wiederholte Catherine und dachte angestrengt nach. Ja, wo hatte sie es wohl gelassen?
„Ach!“ rief sie und reckte den Löffel in die Höhe. „Ich habe es glaube ich in meine Reisetasche gesteckt. Ich weiß gar nicht, ob es noch funktioniert. Larry hatte es mir ja aus der Hand geschlagen.“ sie senkte ihren Kopf und legte den Löffel auf den Teller.
„Das probieren wir gleich aus und du lass den Kopf nicht hängen. Larry ist gestorben und Basta.“
Sie fasste neuen Mut und unterstrich seine Aussage mit einem kräftigen Kopfnicken. Vince hingegen durchforstete bereits CatherineŽs Reisetasche. Am Grunde der Tasche wurde er schließlich fündig und blickte auf die Buchse des Telefons.
„Ich habe ein ähnliches Modell. Vielleicht passt mein Netzstecker ja auch.“
„Probieren wir es aus.“ entgegnete sie ihm.
Vince steckte den Stecker in die Buchse und das Display leuchtete auf.
„Also laden tut es.“
„Warten wir ab, bis morgen.“
„Gut ok.“
„Julian, du musst auch bald schlafen, sonst bist du morgen nicht ausgeruht.“ ermahnte sie ihn schließlich und sah Vince fragend an. „Gehst du morgen arbeiten?“
„Soll ich hier bleiben?“
„Lieber nicht. Geh mit ihm in den Kindergarten. Nicht, dass Larry morgen wieder da aufkreuzt.“
Vince nickte und brachte das Geschirr in die Küche, wo er es in der Spüle abstellte.
„Abwaschen werde ich das morgen. So Großer Mann.“ er hob Julian hoch und drehte sich mit ihm im Kreis, bis er laut auflachte. „Du und ich. Wir gehen jetzt ins Bad. Waschen, Zähne putzen...“
Julian stöhnte genervt auf und verdrehte die Augen.
„und natürlich müssen wir uns auch rasieren, nicht wahr?“
Die Augen des Jungen begannen zu leuchten und eifrig nickte er ihm zu. Vince trug ihn ins Badezimmer und stellte ihn unter die Dusche. Nachdem das komplette Badezimmer geflutet und Julian sauber war, half er ihm wieder heraus und sprühte etwas Rasierschaum in seine Hand und in die des Jungen.
„So, guck. Du musst deine Hände hin und her reiben, dann wird aus dem Gel Schaum. Siehst du?“
Julian schrubbte munter drauf los und verteilte das Gel an den Fliesen und an den Möbeln.
„Gut so?“
„Ja. Sehr gut. Du hast dich doch bestimmt schon mal rasiert oder? Sonst könntest du das nicht so gut.“
Julian grinste und verfolgte Vince weiter mit den Augen.
„So. Jetzt alles im Gesicht verteilen.“ Während Vince sich darauf beschränkte seine Barthaare damit einzuschäumen, schmierte Julian den Schaum hoch bis zu den Augenbrauen und kicherte laut auf.
„Julian! Wir wollen uns doch den Bart rasieren!“ rief Vince und lachte herzhaft los. Er nahm Julian und trug ihn zurück in die Stube, damit Catherine auch etwas von diesem Anblick hatte. Nun lachten alle drei und Vince zog sich mit dem Sprössling in die geflutete Ebene zurück. Schließlich drückte er dem Jungen einen Einmalrasierer in die Hand, bei dem er die Schutzkappe nicht abgenommen hatte und demonstrierte ihm, wie man sich rasierte.

Catherine lag noch immer auf dem Sofa und kniff sich die Beine zusammen. So lustig das Gelächter aus dem Badezimmer auch war, wenn sie nicht gleich zur Toilette konnte, würde hier und jetzt ein Unglück geschehen. Sie versuchte sich mit aller Macht auf die Fernsehserie zu konzentrieren und doch... Es drückte so und ihr Unterleib schmerzte bereits.
„Vince!“ kreischte sie schließlich und erschrak selbst, über ihre spitze Art.
„Was denn?“ fragte er und schielte mit halb rasiertem Gesicht in die Stube.
„Ich muss mal. Es ist wirklich dringend.“
„Oh, ja. Ok Warte.“
Vince eilte ins Badezimmer und zog Julian an der Hand zurück in die Stube.
„Aber wir sind noch nicht fertig.“ protestierte er und stampfte wütend auf.
„Julian.“ begann Vince mit einer tiefen Stimme und rollte das R extrem. „Wir sind doch Gentleman oder etwa nicht?“
„Doch!“ trotzte er ihm entgegen.
„Dann lassen wir der Dame doch den Vortritt.“
„Na gut.“ rang sich Julian ab und warf Catherine einen Blick zu, der so viel sagte wie `Beeil dich bloß!Ž. Vince half ihr noch ins Bad und schloss die Tür. Catherine saß kam auf der Schüssel, als sie es schon nicht mehr halten konnte und erleichtert atmete sie auf. Wie sie ihr Geschäft verrichtet hatte mühte sie sich zurück auf das Sofa und ließ sich den Rest der Strecke wieder von Vince helfen.
„Das schmeckt nicht.“ stellte Julian fest und Vince wendete sich dem Jungen zu.
„Julian! Hör auf den Schaum zu essen!“
Catherine lachte kurz auf und folgte den Beiden noch mit ihren Blicken, bis sie wieder im Bad verschwunden waren.
Julian musste bald schlafen, denn es war bereits nach acht und so hielt es Catherine für das Beste, sich ins Schlafzimmer zurück zu ziehen. Unter Schmerzen, die ihr fast den Luft zum Atmen raubten, kämpfte sie sich in das Bett und breitete sich dort aus. Duschen müsste sie eigentlich auch, aber länger als eine Minute stehen oder laufen waren nicht drin. Die Dusche aus der Dose sagte ihr jedoch auch nicht zu, also überlegte sie angestrengt. In ihrer Wohnung hätte sie jetzt baden können, doch Vince hatte nur eine Dusche. Zur Kontrolle hob sie ihre Arme und sog tief die Luft durch ihr Nase.
„Naja.“ gab sie von sich und schloss die Augen. Frisch und sauber fühlte sich irgendwie anders an.

Julian war recht schnell eingeschlafen und so schlich sich Vince zurück ins Bad und stellte sich nun selbst unter die Dusche. Ein Wunder und wahrscheinlich unermessliches Glück, dass Catherine auf den kalten und nassen Fliesen nicht ausgerutscht war. Das würde ihm nicht noch einmal passieren. Gleich, wenn er fertig war, würde er den Boden trocken wischen. Er blickte noch kurz auf seine Sachen, bevor er die Duschkabine schloss und das Wasser einschaltete. Unweigerlich blickte er nach unten und begutachtete sich. Rasiert war er. Soviel dazu.
Er schäumte sich die Haare auf und spülte sie rasch wieder ab. Catherine hatte sich allein ins Schlafzimmer geschleppt und schlief wahrscheinlich schon. Dabei war es gerade mal halb neun und eigentlich viel zu früh, um zu schlafen. Vince zuckte kurz mit den Schultern und schäumte sich ein. Sie war sicher noch sehr geschwächt, denn eine OP diesen Ausmaßes erlebte man ja nicht täglich. Er spülte sich den Schaum vom Körper und wickelte sich in eine Badestola, die er für sich bereitgelegt hatte. Der Spiegel vor ihm war total beschlagen. Gut, dass er sich schon den Bart rasiert hatte, denn jetzt war ein Blick in den Spiegel unmöglich. Er warf das Handtuch über die Heizung und schlüpfte in seine Jogginghose. Mit freiem Oberkörper schlich er sich ins Schlafzimmer und fand Catherine erstaunlicher Weise noch wach vor. Sie zappte durch die Programme des Fernsehers und ihr Blick schweifte hastig zu ihm, wie er da halb nackt in der Tür stand.
„Du siehst blass aus.“ entgegnete er ihr und schloss die Tür hinter sich.
„Mein Bauch tut so weh.“
„Hast du denn keine Medikamente bekommen?“
Catherine schüttelte den Kopf und ließ ihn in einen Haufen Kissen fallen.
„Ich habe nur Aspirin hier. Die sind nicht so gut. Wie wäre es, wenn ich mal bei dieser Dr. Foster anrufe und sie frage, was das soll?“
Er hob den Finger in die Luft und schnitt eine Grimasse.
„Und wirst du ihr zur Strafe auch gleich den Hintern versohlen?“ scherzte Catherine und rieb sich über die schmerzende Stelle.
„Mal sehen.“ feixte er zurück und suchte im Telefonbuch die Nummer vom Krankenhaus heraus.
Etliche Male musste er warten und wurde weiter verbunden, bis es schließlich knackte und endlich jemand abnahm.
„Seboth.“ röhrte eine männliche Stimme in den Hörer und Vince verleierte genervt die Augen.
„Ich wollte doch mit Dr. Foster sprechen?“
„Dr. FosterŽs Schicht ist beendet. Kann ich Ihnen vielleicht weiter helfen?“
„Ich hoffe es. Es geht um Miss Hoover. Miss Catherine Hoover. Sie war bis heute Mittag noch stationär bei Ihnen im Krankenhaus und nun ist sie bei mir. Sie hatte einen Milzriss und klagt jetzt über Bauchschmerzen.“
„Schlagen die Schmerzmittel nicht an?“
„Das ist ja der Witz an der Sache. Sie hat keine bekommen.“
„So? Moment, ich muss mir eben mal die Akte heraus suchen.“
Der Arzt drückte einen Knopf und Vince hing wieder in der Warteschleife.
„Diese dumme Musik.“ flüsterte er Catherine zu und begann zu grinsen. „Sie ist schrecklich.“
„Was läuft denn?“
„Keine Ahnung. So ein komischer, äh ja?“
„Mister? Hallo? Sind Sie noch dran?“ erkundigte sich der Arzt.
„Ja ich bin dran.“
„Gut. Also, meiner Kollegin ist es sicher entfallen noch ein Rezept auszustellen. Können Sie herkommen? Ich stelle eins aus. Damit können Sie in der Apotheke etwas holen.“
„Ihr ist es entfallen? Hmm... Naja, ja ich komme. Wo finde ich Sie?“
„Fragen Sie an der Rezeption einfach nach Dr. Seboth. Im Übrigen, Miss Hoover hat die Klinik mehr oder weniger Hals über Kopf verlassen.“ stichelte der Arzt noch etwas nach und Vince verdrehte wieder die Augen.
„Naja, ist ja jetzt auch egal. Ich bin dann in einer halben Stunde da.“
Vince legte das Telefon beiseite und blickte auf die Uhr.
„Ich beeile mich und bringe dir auf dem Rückweg gleich die Medikamente mit, ja?“
„Ist gut. Ich warte auf dich.“ hauchte sie noch und schenkte ihm noch ein sehnsüchtiges Lächeln, bevor er die Schlafzimmertür hinter sich schloss. Schnell schlüpfte er in seine Sachen und machte sich auf den Weg ins Krankenhaus.
„Und wie sie mich angesehen hat. Phil! Ich wäre fast geschmolzen.“
Vince hatte sein Handy auf seinen Schoß gelegt und die Freisprechanlage aktiviert. Laut hörte er Phil in den Hörer lachen und es ergriff ihn gleich mit.
„Du bist ja total verknallt.“ druckste Phil und brach in noch lauteres Gelächter aus.
„Quatsch!“ empörte sich Vince und zog die Augenbrauen enger zusammen.
„Na sicher. Du bist über beide Ohren verliebt. Merkst du das nicht?“
„Was echt?“ In VinceŽ Gesicht spiegelte sich seine Kindlichkeit wider und er schaltete einen Gang runter, da die Ampel bereits auf rot umschlug.
„Wenn sie jetzt bei dir wohnt solltest du dir etwas einfallen lassen. Solange sie krank ist, solltet ihr noch etwas schönes machen. Sonst wird ihr bald langweilig.“
„Aber was soll ich mit ihr machen? Sie kann ja kaum gerade laufen?“
„Dann leihst du eben einen Rollstuhl aus. Ist doch egal. Eine Runde durch den Park. Das gefällt ihr bestimmt und sie muss nicht laufen.“
„Dann leihst du eben einen Rollstuhl aus.“ äffte Vince seinen Kumpel nach und trat wieder auf das Gaspedal. „Wo soll ich denn jetzt einen Rollstuhl her kriegen?“
„Boah! Du bist ein Honk! Morgen natürlich! Nicht jetzt! Frag eben in einem Sanitätshaus nach. Meine Herren.“ fluchte Phil und verdrehte die Augen.
„Ach so.“ gab Vince kleinlaut zurück und parkte den Wagen direkt vor dem Krankenhaus. „Ich muss dann jetzt auch Schluss machen.“
„Lass die Ohren nicht hängen, Kleiner.“ gab Phil noch zurück und schließlich legten beide auf.

Catherine rollte auf dem Bett hin und her und suchte nach einer Liegeposition, in der es sich aushalten ließ. Die rechte Seitenlage verschaffte ihr dann endlich Erleichterung und sie schaltete weiter durch das Programm. Bei einer Dokumentation stoppte sie schließlich und legte die Fernbedienung neben sich.
„...trauriger Alltag, wenn man bedenkt, dass den Kindern bereits alles genommen wurde, was sie je besaßen. Unsere Recherchen ließen uns auf Joshua aufmerksam werden. Ein zwölfjähriger junge, der seit seiner Geburt im Kinderheim Waldbeeren lebt.“
„Joshua. Wie gefällt es dir hier?“
„Nicht so gut.“
„Wieso?“
„Naja, weil ich lieber bei meinen Eltern wohnen würde.“
„Kennst du deine Eltern?“
„Sie besuchen mich am Wochenende.“
„Und warum gefällt es dir hier nicht so?“
„Weil die Erzieher manchmal sehr gemein zu mir sind.“
Eine weibliche Stimme schaltete sich zwischen das Interview.
„Die ältere Frau, die im Hintergrund zu sehen ist, ist Miss Cornwall. Sie ist es auch, die das Interview zwischen unserem Kamerateam und Joshua beendet. Weitere Recherchen haben ergeben, dass bereits einige Anzeigen gegen das Kinderheim laufen. Unter anderem wegen Misshandlung und Körperverletzung.“
Catherine schnappte sich die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus, als sie an der Wohnungstür Geräusche eines Schlüsselbundes vernahm.

Vince trat in die Wohnung und schlich sich durch die Stube, vorbei an Julian zu Catherine ins Schlafzimmer.
„Sieh mal!“ und er hielt eine knisternde Tüte mit ihren Medikamenten in die Höhe. Catherine lächelte ihm breit zu und nickte.
„Schön. Aber ich muss gestehen, wenn ich mich nicht bewege und so liegen bleibe, dann geht es auch ohne die Pillen.“
„Naja, bleib ruhig liegen. Die Tabletten sind ja auch nur zur Sicherheit.“
Er stellte die Tüte auf seinen Nachttisch und zog seine Jacke aus.
„Kommt denn nichts im Fernsehen?“
„Wieso?“
„Naja, du liegst hier so im Dunkeln. Ich frage nur. Oder hast du keine Lust auf Fernsehen?“
Catherine verschluckte sich fast an ihrer Zunge und zuckte dann mit den Schultern.
„Darf ich denn Licht machen?“
„Sicher.“
Ein kurzes Klicken ging durch den Raum und die kleine Nachttischlampe, die bei Vince stand, spendete etwas Licht.
„Bist du müde? Wenn du möchtest, können wir auch gleich schlafen gehen.“
„Ich würde mich lieber noch etwas mit dir unterhalten.“
Catherine löste ihre Position und kullerte auf den Rücken. Wieder durchdrang sie ein stechender Schmerz und sie rieb sich den Bauch.
„Gut, dann reden wir.“ lächelte Vince ihr entgegen. „Aber zuerst nimmst du eine Tablette. Man kann die im Wasser auflösen, hat der Apotheker gesagt. Also, was ist?“
„Na gut. Überredet.“
Vince angelte die Packung aus der Tüte und eilte in die Küche. Nachdem er die Kapsel geöffnet und das Pulver in ein Glas Wasser gekippt hatte, hastete er zurück zu Catherine, die das Glas in einem Zug leerte. Vince legte sich neben sie und blickte sie groß an.
„Also? Worüber wollen wir reden?“
„Über Miss Clark.“ gab Catherine stumpf zurück und stellte das Glas auf ihrem Nachttisch ab. Vince hielt kurz inne, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht verhört hatte.
„Wie bitte?“ entfuhr es ihm geschockt und er richtete sich wieder auf.
„Ich möchte wissen, woher du sie kennst und wieso du so merkwürdig warst.“
„Ach, ich kenne sie noch aus meiner Kindheit. Das ist nichts besonderes.“ Vince winkte mit der Hand ab und drehte verhalten seinen Kopf weg.
Catherine kniff ein Auge zu und stierte weiter zu ihm.
„Hat sie dir etwas erzählt?“ fragte er nach einer Weile kleinlaut und seine Blicke rasten durch das Zimmer, um etwas zu finden, dass er anstarren konnte.
„Ja ein wenig. Aber mich interessiert auch dein Teil der Geschichte.“
„Catherine, es gibt Sachen, von denen du besser nichts weißt.“
„Warum nicht?“
„Weil ich nicht darüber reden möchte. Schlimm genug, dass dieses alte Plappermaul den Mund nicht halten konnte.“
„Ich fand es sehr erschütternd Vince. Lass mich doch an deiner Vergangenheit teil haben?“
„Und wenn ich dir sage, dass ich nicht darüber reden will?“
„Ich kann verstehen, dass es schwer für dich ist, aber...“
„Wie könntest du das verstehen? Wie?“ Seine Stimme drohte zu brechen und innerlich rief er sich zur Ordnung, denn weder Miss Clark noch Catherine konnten etwas dafür. „Tut mir Leid.“ gab er noch von sich und setzte sich an den Rand seines Bettes.
Catherine streckte gerade die Hand nach ihm aus, als er plötzlich kurz aufschluchzte.
„Miss Clark hat damals neben uns gewohnt. Neben meiner Mutter, meinem Vater und mir. Früher war ich oft bei ihr, weil meine Mutter und auch mein Vater arbeiten mussten und sie sonst niemanden hatten, der auf mich aufpassen konnte. Sie hat dann immer mit mir gespielt und mir mein Mittag gekocht.“
Die Nachttischlampe ließ einen riesigen Schatten von Vince gegen die Wand fallen, der nur vermuten ließ, wie weit er seinen Kopf gesenkt hatte.
„Als ich dann älter wurde, brachte meine Mutter mich immer öfter zu ihr. Irgendwann war es schon so, dass ich über das Wochenende dort geschlafen habe. Ich war zehn oder elf. Zu der Zeit wusste ich noch nicht, was wirklich los war, bis ich eines Tages nochmal zurück in die Wohnung meiner Eltern musste. Ich hatte ein Schulbuch vergessen und brauchte es, für meine Hausaufgaben. In der Küche saßen meine Eltern. Meine Mutter weinte und mein Vater hatte ein so ausdrucksloses Gesicht...“

„Das heißt also, dass dein Job weg ist?“ fragte Christa mit wehmütiger Miene und blickte zu Ralph. Der nickte nur und sank mit dem Kopf auf den Tisch.
„Die Wohnung wird uns über den Kopf wachsen. Sie wird uns auffressen.“
„Dann ziehen wir eben um. Es gibt auch hübsche kleine Wohnungen.“ erwiderte Christa und strich ihrem Mann über die Schulter.
„Müssen wir jetzt umziehen?“ durchdrang VinceŽ Stimme die aufgekommene Ruhe und die beiden Eltern schreckten zusammen.
„Vince!“ rief seine Mutter und schloss ihn in ihre Arme. „Mach dir deswegen keine Gedanken. Wir schaffen das schon.“
Wie gern hätte er seiner Mutter Glauben geschenkt, doch sein Vater veränderte sich mit der Zeit und als Vince seinen Sechzehnten Geburtstag feierte, bekam er von seiner Mutter das Geld, um damit den Führerschein zu machen. Die Freude war groß und Vince jubelte laut auf, doch als er zu seinem Vater blickte verging ihm das Lachen recht schnell. In den letzten Jahren hatte er sich um hundertachtzig Grad gedreht. Er trank und kam oft betrunken und stinkend nach Hause. Außerdem artete fast jedes Gespräch zwischen ihm und Christa in einem Streit aus. Vince zog sich dann immer bei Miss Clark zurück, die ihm immer bereitwillig die Tür öffnete, wenn sie vernahm, wie in der Wohnung nebenan geschrien und gebrüllt wurde.
Ein paar Monate später stritten Ralph und Christa sich wieder und Vince verließ das Haus. Er hatte es satt, dass sein Vater seine Mutter immer beschuldigte einen anderen zu haben. Dabei ging sie abends noch putzen, damit sie sich die Wohnung dennoch leisten konnten, doch in seinem versoffenen Kopf passte das wohl nicht hinein. Mit seinem uralten Wagen fuhr er durch die Straßen und parkte auf einem der großen Hügel der Stadt, wo man bis zum Horizont blicken konnte. Er folgte dem Sonnenuntergang und schwieg, bis plötzlich sein Handy klingelte.
„Hallo?“
„Vince!“ schrie seine Mutter. „Vince, hilf mir, er bringt mich um!“
„Mama?! Was ist los?!“
„Vince Hilfe!“
Ihre Rufe entfernten sich und sofort ließ er den Motor seines Wagens an. Wie ein Irrer raste er durch die Straßen und erreichte nach wenigen Minuten sein Elternhaus. Die Wohnungstür stand weit offen und es war unangenehm still.

Vince rieb sich mit den Händen durch das Gesicht und Catherine stockte der Atem.
„Was war dann?“ fragte sie ruhig und umfasste nun seinen Arm, um ihn an ihre Brust zu drücken.
„Ich betrat die Wohnung meiner Eltern und alles war still. Unglaublich still. Ich schlich mich in die Küche und...“ seine Stimme brach und dicke Tränen rannen an seinem Gesicht entlang.
„Was war da?“ Catherine strich ihm beruhigend über die Wange und drückte ihn fester an sich heran.
„Die Küche, alles war kaputt. Gläser und Tassen lagen zertrümmert am Boden. Die Scheibe war eingeschlagen. An ihr hingen kleine Haarbüschel. Ich wurde fast verrückt vor Angst und suchte nach meiner Mutter, denn die Haare stammten eindeutig von ihr. Die Stube war verwüstet. Überall lagen Trümmer. Es sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Als ich die Tür zum Schlafzimmer aufstieß fiel ich fast in Ohnmacht. Meine Mutter lag blutüberströmt am Boden und röchelte schwer. Ich warf mich zu ihr auf den Boden und umfasste ihr schmerzerfülltes Gesicht. Sie starb in meinen Armen. Mein Vater hatte ihr eine Whiskyflasche auf den Kopf geschlagen und kam dafür ins Gefängnis. Ich kam ins Kinderheim.“
„Das ist ja schrecklich!“ rief Catherine laut auf und hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt, dass sie ihn so gelöchert hatte.
„Ich war einfach nicht schnell genug, sonst...“
„Sag das niemals wieder!“ ermahnte sie ihn in einem boshaft herrischen Ton. „Du kannst rein gar nichts dafür.“
„Aber...“
„Halt den Mund.“ Sie nahm seinen Kopf und presste ihn mit dem Gesicht gegen ihre Brust, damit es ihm nicht möglich war noch einen seiner absurden Gedanken zu äußern.
„Catherine...“ er kämpfte sich sachte von ihrer Brust weg und blickte sie mit seinen roten Augen an. „Weißt du, ich habe mich wieder an alles erinnert, als ich die Schreie von dir und Julian am Telefon gehört habe. Und dann auch noch Miss Clark. Mir hat sich fast der Magen gedreht.“
„Es tut mir so Leid. Vielleicht wäre es das Beste gewesen, wenn du mich niemals kennengelernt hättest.“
„Sag doch so was nicht. Ich bin froh dich zu kennen und ich bereue keine einzige Minute davon.“
Beide blickten sich schweigend an und Catherine zog ihn beherzt an sich heran, um ihn zu küssen. Sachte strich er ihr durch die langen Haare und ließ sich in ihren Arm fallen.
„Vince, ich hab dich wirklich gern, auch wenn wir uns erst knapp zwei Wochen kennen. Ich will, dass du weißt, dass ich dir unendlich dankbar bin. Hast du verstanden? Wenn du nicht gewesen wärst, dann wäre ich jetzt vielleicht nicht mehr.“
Verhalten nickte er ihr zu und ließ sie gewähren, als er spürte, wie ihre Hand an seinem Bauch entlang glitt. Angst hatte er keine, denn er wusste, dass die Tabletten sie müde machten und so würde es sicher nicht lange dauern, bis sie zu erschöpft war, um etwas mit ihm anzustellen. Catherine hingegen hob sein Shirt an und streichelte über seine Brust.
„Du hast ganz weiche Haut.“ flüsterte sie ihm gegen die Lippen und küsste ihn wieder.
„Ist das nicht gut?“ fragte er etwas verunsichert und blickte sie groß an.
„Doch, das ist sehr gut.“ hauchte sie und legte den Kopf auf ihr Kissen.
„Lass es gut sein für heute. Du siehst müde aus und solltest schlafen.“
Gehorsam nickte sie ihm zu und drückte ihn an ihre Brust.
„Können wir auch so schlafen?“ wisperte sie ihm entgegen und ließ ihre Augen geschlossen.
„Sicher.“ lächelte er ihr entgegen und schaltete das Licht aus. Nachdem er die Bettdecke zurecht gelegt hatte, kuschelte er sich wieder in ihre Armbeuge und schlief ein.

Gegen sieben Uhr klingelte der Wecker und Vince sowie Catherine schreckten zusammen. Beherzt holte Vince zum Schlag aus und knallte die flache Hand auf den Störenfried, der sogleich Ruhe gab.
„Nur noch ein bisschen.“ flüsterte sie ihm müde zu und schlief wieder ein. Vince hingegen löste seine Umarmung und stand auf. Würde er seine Augen jetzt noch einmal schließen, würde er sicher verschlafen. Er zog sich schnell an und machte für Catherine einen Kaffee. Sie musste schließlich noch mit Linda telefonieren. Er weckte Julian und half dem Jungen beim Anziehen, bevor er wieder ins Schlafzimmer trat und Catherine aus ihren Träumen riss.
„Cathy.“ hauchte er ihr gegen das Ohr und sie begann zu lächeln. „Wach auf. Ich habe dir bereits Kaffee gemacht.“
„Das hört sich ja toll an.“ gähnte sie ihm entgegen und schlug die Augen auf. „Wie spät ist es?“
„Kurz vor halb acht. Kannst du laufen?“
„Ich denke schon.“
Mühsam quälte sie sich aus dem Bett und nahm auf dem Sofa Platz. Auf dem Stubentisch vor ihr thronte schon eine große Tasse mit Kaffee, von der sie gleich einen Schluck nahm.
„Hier, ruf von meinem Telefon aus an. Über Handy wird das sonst zu teuer.“
„Vom Festnetz aus ist das auch nicht billiger.“ widersprach Catherine und legte die Stirn in Falten.
„Nun mach schon.“
„Und die Medikamente werde ich natürlich auch bezahlen.“ stellte sie noch fest und wandte den Blick zum Telefon, dass Vince ihr reichte.
„Ich habe die Nummer schon eingewählt. Du musst nur noch den grünen Hörer drücken.“
„Ist gut. Geht ihr schon?“
„Ja wir müssen. Ich habe noch so viel im Büro zu tun.“
„Nimm ruhig meinen Wagen, der zickt nicht so rum.“
Vince hielt kurz inne und nickte. Er zog Julian die Jacke an und lächelte Catherine noch zu, als er die Wohnungstür öffnete.
„Vince warte! Komm nochmal her, bitte.“
„Was denn?“
Er kam auf sie zu und sie packte beherzt seine Jacke, um ihn zu sich nach unten zu ziehen. Sie hauchte ihm einen Kuss auf den Mund und grinste breit.
„Bis heute Mittag.“
„M-machs gut.“ entfuhr es ihm etwas perplex und er verließ mit Julian schnell die Wohnung. An CatherineŽs Auto angekommen brüllte er einen lauten Siegesschrei in die Luft, den Catherine selbst in seiner Wohnung noch hörte. Ein dickes Grinsen breitete sich auf ihrem Mund aus und sie drückte den grünen Knopf. Rasch wurde sie von der Hotelrezeption zu Linda weiter verbunden und es klingelte.
„Hallo?“
„Linda?“
„Catherine!“ entfuhr es ihrer Freundin und Tonnen schwerster Steine fielen von LindaŽs Herzen.
„Linda, es tut mir so Leid. Ich hätte mich melden müssen und...“
„Catherine, was ist um Himmels Willen passiert? Wieso warst du im Krankenhaus? Ist es was Ernstes?“
„Beruhig dich. Alles ist in Ordnung. Ich bin ja mittlerweile wieder zu Ha... zu Hause.“ gab sie noch an und hielt kurz inne. Zu Hause? War sie da? Eigentlich war es ja nicht ihre Wohnung. Am Klingelschild stand „Taylor“, mehr nicht.
„Was ist denn passiert?“ durchdrang LindaŽs Stimme CatherineŽs Gedanken und sie besann sich wieder auf das Gespräch.
„Ich wohne jetzt vorübergehend bei Vince. Larry und ich haben uns gestritten und er ist wieder so grob geworden.“
„Was hat er gemacht?“ fauchte Linda in die Sprechmuschel und presste den Hörer an ihr Ohr.
„Ich hatte einen Milzriss.“
„Um Gottes Willen! Und wie geht es dir jetzt?“
„Den Umständen entsprechend gut.“ und sie rieb sich über ihren gurgelnden Bauch.
„Ich habe dir immer gesagt, dass Larry nicht der richtige Mann für dich ist, Catherine. Aber du wolltest nicht hören.“
„Linda, dafür ist es doch jetzt eh zu spät, findest du nicht?“
„Es ist niemals zu spät. Du kannst dich von ihm scheiden lassen.“
„Nach dem, was vorgefallen ist, werde ich es wohl auch machen. Larry geht mir fremd. Das steht mittlerweile auch fest.“
„Was?!“ Linda fiel aus allen Wolken und drückte sich die Hand vor Entsetzen vor den Mund.
„Allerdings. Er ist mit dieser Madeleine aus dem Kindergarten zusammen, wo Julian auch hin geht. Julian selbst hat mir erzählt, dass er sie geküsst hat.“
„Julian?! Hat er von der ganzen Sache denn etwas mitbekommen?“
„Ich habe ihn ins Gästezimmer gesperrt. Linda, ich wusste mir nicht anders zu helfen. Larry wäre auch auf ihn losgegangen.“
„Und deshalb hast du ihn eingesperrt? Sicher war Larry darüber nicht begeistert.“
„Ich musste ihn ja irgendwie ablenken.“
„Und dann hat er dich verprügelt? Oh, Cathy.“ LindaŽs Stimme brach und sie rieb sich ihre pulsierenden Schläfen. Catherine hatte sich, um Julian zu schützen, also tatsächlich ausgeliefert.
„Wie geht es Julian?“
„Soweit ganz gut, aber ich denke, er ist froh, wenn er wieder zu dir darf. Und nochmal will er bestimmt nicht zu mir.“
Beide begannen zu schweigen und Catherine rieb sich über den Bauch. Hatte das, was sie für den Jungen getan hatte, ausgereicht, um seine kleine Seele vor dem Schmerz zu bewahren, den Larry verursacht hatte? War es überhaupt richtig gewesen, Linda zuzustimmen, Julian zu nehmen, obwohl zu dem Zeitpunkt schon feststand, dass es zwischen ihr und ihrem Mann kriselte? Catherine spürte einen dumpfen Schlag, den ihr Magen ihr versetzte. Hatte sie vielleicht schon mit der Zusage einen großen Fehler gemacht? Andererseits hätte sie Vince sonst niemals kennengelernt. Aber war es gerechtfertigt, dafür ein Kind leiden zu lassen?
„Cathy. Was meinst du? Wirst du Julian die verbleibende Woche noch beaufsichtigen können oder wird dir das zu viel? Dann steige ich sofort in die nächste Maschine und komme zurück.“
„Also wegen mir musst du es nicht machen. Ich würde mich freuen, wenn Julian noch etwas bei mir wäre. Ich habe ihn so lieb gewonnen und er fehlt mir jetzt schon, obwohl er gerade mal eine halbe Stunde außer Haus ist. Unter allen Umständen möchte ich verhindern, dass er mich als schreckliche Tante in Erinnerung behält.“
„Gehst du denn wieder zurück nach Hause?“
„Nein.“ antwortete Catherine fest und standhaft.
„Gut, dann denke ich, ist es in Ordnung, wenn Julian bei dir bleibt. Bei dir und Vince.“
„Was? Wirklich?!“ Catherine konnte ihr Glück kaum fassen. Linda gab ihr also noch eine zweite Chance. Sie würde diese Möglichkeit natürlich nutzen, um alles wieder gut zu machen. Damit Julian sie immer wieder gern besuchen kam, auch in Zukunft.
„Sag, wie läuft es in Japan?“
„Nun, es ist recht anstrengend. Die Leute hier sind zwar nett, aber ich verstehe sie so schlecht.“
„Konntest du denn schon etwas an den Mann bringen?“
„Ja.“ Linda strahlte und machte es sich auf ihrem Bett bequem. „Sieben Kollektionen habe ich bereits gewinnbringend verkauft. Sechs stehen jetzt noch aus.“
„Das hört sich wirklich gut an.“
„Na aber hallo.“ Linda lachte beherzt auf und auch Catherine konnte sich wieder ein Lächeln abgewinnen.

Es war kurz vor zwei, als das letzte Kind vor Julian abgeholt wurde und Vince konnte Madeleine gerade noch daran hindern den Kindergarten zu verlassen, indem er ihre Jacke an sich nahm.
„Bevor du gehst, möchte ich noch kurz mit dir reden.“ entgegnete er ihr kühl und nickte mit dem Kopf in Richtung des Büros. Madeleine nickte verhalten und folgte ihm. Sie schloss die Tür und nahm vor ihm Platz.
„Hast du an das Schreiben gedacht?“
Sie nickte ihm zu und legte die Abmahnung unterschrieben auf den Tisch.
„Gut.“
„War es das dann?“
„Nein.“
Wieder stieg ihr der Angstschweiß ins Gesicht und fragend blickte sie ihn an.
„Ich habe erfahren, dass gestern jemand im Kindergarten war, der hier eigentlich nichts verloren hat. Er ist weder Vater eines Kindes, noch hat er die Berechtigung, eines der Kinder mitzunehmen. Du weißt, von wem ich rede?“
„Sie nickte und senkte ihren Blick.
„Wie heißt der Mann?“
„Larry. Larry Hoover.“ entgegnete sie ihm und in VinceŽ Adern drohte das Blut das Gewebe weich zu kochen.
„Madeleine, es geht mich nichts an, mit wem du deine Freizeit verbringst, aber ich sage dir eins. Dieser Mann hat ab sofort hier Hausverbot. Sollte ich ihn noch einmal hier antreffen und du bist darüber informiert und hast nichts dagegen unternommen, bist du fristlos entlassen.“
„Was?!“ Madeleine schreckte hoch und ihre Blicke rasten durch das kalt wirkende Gesicht ihres Chefs.
„Dieser Mann ist gefährlich. Mehr sage ich dazu nicht. Also merk dir. Er hat Hausverbot und treffe ich ihn hier, ist es dein Job, den ich streiche, klar?“
„Klar.“ gab sie atemlos zurück und erhob sich.
„War es das dann?“
„Das warŽs. Schönes Wochenende.“
„Dir auch.“
Sie verließ das Büro völlig verwirrt und zog ihre Jacke an, die neben den Garderoben der Kinder hing. Dort, wo Vince sie hin gehängt hatte, damit sie nicht einfach abhauen konnte. Larry war also ein gefährlicher Mann? Woher kannten sich die Beiden? Madeleine überlegte angestrengt, konnte sich jedoch keinen Reim darauf machen und verließ den Kindergarten mit großen Schritten.

Vince hatte nach dem Frühstück direkt angefangen, sein Büro etwas besser zu ordnen und so lagen nur noch wenige Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Er blickte auf die Abmahnung, die Madeleine ihm unterschrieben zurückgegeben hatte und zog die Augenbrauen zusammen. Im Grunde war sie eine gute Kollegin und sie war zuverlässig. Schließlich hatte er sich gleich zweimal in einer Woche unvermittelt frei genommen und sie hatte nur mit einem verständnisvollen Lächeln darauf geantwortet. Er blickte auf ihr zierliche Unterschrift, die wirkte, als würde sie noch zur Grundschule gehen. Angestrengt blies er sich seinen Atem durch das Gesicht und suchte nach einem passenden Ordner, wo er das Schreiben abheften konnte. Noch nie in seinem Leben hatte er eine Abmahnung geschrieben und dass es gerade Madeleine getroffen hatte, tat ihm irgendwie Leid, auch wenn die Strafe begründet war. Aber Sabrina zum Beispiel, war viel schlimmer. Sie war nur vierzehn Tage da, bevor er sie fristlos entließ, w
eil sie eines der Kinder geschlagen hatte. Dann kam Madeleine und er sah in ihr eine gute Kollegin. Seit vier Jahren arbeiteten sie nun schon Seite an Seite und es gab nie Probleme. Sein Blick schweifte weiter über die vielen Ordnerrücken. Schließlich zerknüllte er die Abmahnung und warf sie weg. Ablage P war wohl das Gescheiteste. Er schloss sein Büro ab und half Julian bei der Jacke und den Schuhen.
„Wollen wir für Tante Catherine noch einen Rollstuhl ausleihen gehen? Dann können wir am Wochenende, wenn das Wetter mitspielt, in den Park gehen? Na? Was hältst du davon?“
Julian nickte eifrig und umfasste VinceŽ Hand. Und so machten sich beide auf den Weg zu einem Sanitätshaus.

Um sie herum war es still und dunkel. Sie saß in einem Raum, der nur durch einen Lichtkegel erhellt wurde, der auf ihren Kopf schien. Um sie herum noch ein paar Schatten, die ihr Körper warf, sonst nichts. Es war dunkel und kalt. Sie lauschte angestrengt, doch sie vernahm keinen einzigen Ton. Diese Ruhe war zum fürchten. Nichts regte sich, alles war ruhig und dunkel. Plötzlich öffnete sich eine Tür und jemand trat zu ihr in den Raum.
„Hallo?“ rief Catherine, doch die Person näherte sich ihr, ohne zu antworten. Ihr Körper war schlaff und regungslos, gehorchte nicht auf das, was ihr Kopf ihm sagte. Sie saß in diesem Lichtkegel und vernahm die näherkommenden, klackernden Schritte.
„Wer ist da?“ fragte sie und ihr Atem schoss aus ihren Lungen.
„An mir liegt es nicht.“ hörte sie die Person sagen. Jedes Wort verschwamm und sie musste sich sehr anstrengen, um alles zu verstehen.
„Was ist? Was haben Sie gesagt? Wer sind Sie?“ fragte sie ängstlich und presste sich ihre Hand auf die Brust, als wolle sie verhindern, dass ihr Herz aus ihr herausbricht.
„An mir liegt es nicht.“ wiederholte die Person und verharrte auf der Stelle, an der sie stehen geblieben war. Ein leises Tropfen drang an ihre Ohren und sie blickte sich suchend um.
„Wo bin ich?“ fragte sie und suchte akribisch weiter nach einem Punkt, an dem sie sich orientieren konnte.
„Bei mir ist alles in Ordnung. Es liegt also an dir.“
„Ich kenne diese Worte. Ich weiß, dass ich sie schon mal gehört habe.“ stellte Catherine laut fest und versuchte weiter gegen die Regungslosigkeit anzukämpfen.
„Wer sind Sie?“ fragte sie erneut und lauschte angestrengt in das Dunkel hinein.
„Du bist der Grund.“ Jedes Wort verwischte sich und hallte zig Mal wider.
„Ich? Was meinen Sie? Wofür bin ich der Grund?“
Plötzlich vernahm sie ein hämisches Lachen, dass sich von ihr entfernte. Ihr Körper wurde immer schlaffer und sank in sich zusammen, bis sie gänzlich am Boden lag und durch den Lichtkegel beschienen wurde.
„Schuld hast du, ganz allein.“ Vernahm sie eine Stimme direkt neben ihrem Ohr und ängstlich begann sie zu hecheln. Immer wieder ertönte ein sich mehr und mehr verzerrendes Echo. Plötzlich gab der Boden unter ihr nach und sie sank in etwas weiches ein. Mit aller Macht drückte sich etwas unsichtbares auf ihren Körper und nahm ihr die Luft zum Atmen. Ihre Schwäche wich der Panik und sie versuchte gegen das nicht sichtbare anzukämpfen, doch jeder Versuch auch nur einen Finger zu rühren scheiterte kläglich bereits im Beginn.
„Schuld hast du, ganz allein!“
Plötzlich wurde die Stimme klarer und sie erinnerte sich wieder.
„Larry?“ fragte sie und versuchte unter dem gleißend hellen Licht etwas zu erkennen. „Larry?!“ wiederholte sie nun etwas gereizter und der starke Druck auf ihren Körper ließ langsam wieder nach.
„Kinder hast du gesagt. Du willst Kinder, das war es doch, was du immer gesagt hast oder etwa nicht?!“
„Ja, aber ich verstehe nicht, was willst du?“
Das grelle Licht verblasste langsam und Catherine blickte sich um. Sie erkannte ihr Schlafzimmer und das Bett, auf dem sie lag.
„Kinder hast du gesagt. Du willst Kinder, das war es doch, was du immer gesagt hast oder etwa nicht?!“
„Larry?“ fragte sie erneut und blickte zur Tür des Schlafzimmers, in der er gerade stand. Sein Gesicht hatte tiefe Zornesfalten geworfen und an seinem Taumeln erkannte Catherine, dass er betrunken war. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Er trank natürlich ab und zu ein paar Bier, doch heute war er betrunken. Hatte er vor ein paar Stunden nicht noch normal mit ihr gesprochen? Sie beleidigt?
„Wenn ich das gewusst hätte.“ hatte er doch vor sich hin geflüstert. Catherine hatte es gehört und zur Kenntnis genommen. Was wollte er jetzt also? Sie war Schuld, ja, aber was war sein Bestreben?
„Wahrscheinlich sorgst du selbst dafür, dass du keine Kinder bekommst. Vielleicht nimmst du ja heimlich die Pille, ohne dass ich davon weiß?!“
„Was redest du da?!“ Catherine zog die Bettdecke etwas höher und blickte zu ihrem Mann, der noch immer wankend in der Tür stand.
„Ist es nicht so?“ Er funkelte sie böse an und wankte einige Schritte auf sie zu.
„Du bist ja betrunken!“ schrie sie und kroch auf die andere Hälfte des Bettes.
„Und du? Du bist eine Schande. Meine Familie hat mich immer vor dir gewarnt! Immer hat sie mich gewarnt. Alle haben gesagt, dass du nicht die richtige bist, aber ich wollte ja nicht hören.“
Catherine dachte angestrengt nach. Es war, als hätte sie alles bereits schon mal in ihrem Leben erlebt und doch vermochte sie sich nicht an die Situation erinnern. Larry wankte auf das Bett zu und nahm Platz. Böse blickte er sie an.
„An deiner Stelle wäre ich froh. Immerhin ist dein Test gut verlaufen. Ich bin zeugungsunfähig, nicht du!“ fauchte Catherine und sofort klatschte es laut.
„Halt deine Klappe!“ schrie er und Catherine umfasste ihre pulsierende Wange.
„Du hast mich geschlagen.“ wimmerte sie ihm entgegen und in ihren Augen flossen Tränen und Verzweiflung zusammen. Larry hingegen blickte sie weiter durchdringend an und atmete, wie ein Tier.
„Du wirst heute Nacht kein Auge zu tun!“ schrie er und bäumte sich auf. „Ich bereite dir die Hölle auf Erden!“ Er warf sich auf sie und riss an ihrem Nachthemd herum, dass sie sich vor ein paar Stunden übergezogen hatte. Sie war ins Bad gelaufen und hatte sich erbrochen. Als sie sich etwas besser fühlte, war sie ins Schlafzimmer gegangen und hatte ihr weißes, mit Spitze besetztes Nachthemd angezogen und war eingeschlafen. Es hatte nichts gegeben, auf das es sich noch gelohnt hätte zu warten, denn Larry war in seinem Arbeitszimmer verschwunden und hatte sie allein mit den Vorwürfen zurück gelassen. Doch jetzt war er hier und er tobte. Er fiel über sie her und riss an ihrem Hemd herum. Catherine wimmerte laut auf, schlug um sich und kratzte ihm durch das Gesicht. Doch Larry beeindruckte das wenig. Er schlug auf sie ein, bis sie fast das Bewusstsein verlor und röchelte ihr immer wieder ins Ohr.
Während er mit der linken Hand ihr Hemd nun komplett zerriss, drückte er mit der rechten Hand ihren Hals zu. Sie röchelte schwer und ihre Fingernägel krallten sich in seinen Arm.
„Ich zeige dich an. Du Schwein! Du Ekel!“ presste sie noch aus sich heraus und endlich wurde sein Griff lockerer. Mit letzter Kraft stieß sie ihn von sich weg und würgte. Halb erstickt sog sie frische Luft in ihre Lungen und ihre Tränen tropften auf das Kissen.
„Miststück.“ flüsterte er vor sich hin und packte wieder zu. Mit beiden Händen drückte er zu und blickte sie mit seinen toten Augen an. Catherine fühlte, wie ihre Seele ihren Körper zu verlassen drohte. Es wirkte, als würde ihr Geist über dem Bett schweben und sie als dritte Person an dem Geschehen teilhaben. Angst versetzte ihrem Herzen Stiche und die Panik stieg ihr in den Kopf. Sie fuchtelte mit ihren Armen, kämpfte gegen dieses Monster über ihr an, doch es erschien zwecklos. Er war zu stark, sie zu schwach. Gleich würde sie sich selbst verlieren und nie wieder die Augen aufschlagen. Mit jeder Sekunde schwand ihre Energie aus ihrem Körper und ihr Brustkorb hob sich immer krampfhafter, um sie zum Atmen zu zwingen. Ihre Lippen wurden blau, ihre Augen sahen so gequält aus plötzlich wandelte sich LarryŽs Gesicht zu einer Furcht einflößenden Fratze.
„Willkommen in der Hölle!“ schrie ihr das Monster entgegen und entsetzte kniff sie ihre Augen zu. Das war sie und das war Larry! Doch diese Fratze, dieses Monster. Was hatte das zu bedeuten? Plötzlich verschwand die Gestalt und Catherine lag wieder auf dem harten Boden, über ihr der Lichtkegel, um sie herum alles schwarz. Angestrengt überlegte sie, was eben vorgefallen war. Sie hatte vergessen wollen, was für ein Tier Larry war. Schon damals, als herauskam, dass sie unfruchtbar ist. Doch jetzt dämmerte es ihr. Larry, dieses Schwein. Was für ein bösartiges Geschöpf ihr Mann doch war. Sie hatte es aus ihrem Gedächtnis gestrichen und es nie wieder aufgerufen. Bis jetzt. Jetzt erinnerte sie sich. Er hatte sie geschlagen, sie fast erwürgt. Er wollte sie wohl tot sehen und hatte sie einfach liegen gelassen. Ohne noch einmal nach ihr zu sehen, sich zu erkundigen, wie es ihr ging. Ohne eine Entschuldigung oder Hilfe. Sie lag da und rang nach Luft. Sie hatte sich geschworen, dass nic
hts von alledem wahr sein konnte. Sie hatte es sich nur eingebildet und es konnte nicht der Wahrheit entsprechen. Doch sie wurde zum zweiten Mal Zeuge und sah, was Larry ihr angetan hatte.
Verschreckt riss Catherine ihre Augen auf, als sie Geräusche vernahm, die sie nicht gleich zuordnen konnte. Schließlich identifizierte sie VinceŽ Schlüsselbund und die Wohnungstür, die sogleich ins Schloss fiel. Angstschweiß stand ihr auf der Stirn und sie betastete ihren Hals. Sie schnappte aufgeregt nach Luft und musste sich neu orientieren. Wo war sie? Wer war sie? Was war passiert? Tränen kullerten an ihren Wangen herunter und verschreckt blickte sie zu Vince und Julian, die gerade die Stube betraten.
„Catherine? Was ist? Hast du Schmerzen?“ fragte Vince und stürmte hastig auf sie zu.
„Nein, ich... Ich habe nur schlecht geträumt.“
Vince schloss sie in seine Arme und drückte sie tröstend an sich heran.
„So schlimm?“ fragte er und strich ihr durch das fassungslose Gesicht.
„Ich weiß nicht. Es... Es war so real.“ fügte sie noch hinzu und stierte auf ihre Finger.
„Julian. Pack du doch schon mal Superman aus, ich spiele gleich mit dir.“ wandte Vince sich an den Jungen und nahm neben Catherine Platz. Julian kramte aufgeregt vor Freude in den Tüten herum und fischte sein neues Spielzeug heraus.
„Hilft es dir, wenn du mir erzählst, was du geträumt hast?“
„Vielleicht, aber nicht jetzt. Ich muss auf Toilette und außerdem muss ich mich erstmal wieder sammeln.“ flüsterte sie vor sich hin und kämpfte sich von dem Sofa ins Bad. Auf dem Weg dorthin lehnte sie jedwede Hilfe ab und als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, schleppte sie sich zum Waschbecken, um einen Blick in den Spiegel zu werfen. Die vielen blauen Flecken an ihrem Körper schienen langsam zu verblassen, denn ihre Ränder verwischten sich allmählich. Sie strich sich mit der Hand am Hals entlang und überlegte. Was hatte es mit diesem Traum auf sich? Hatte sie da etwas erlebt, dass sie nicht wahr haben wollte oder war es nur ein Traum? Aber wieso war es dann so real? Sie hatte Larry erkannt. Es war eindeutig Larry. Was hatte das alles zu bedeuten? Warum hatte er das gemacht? Hatte er es überhaupt gemacht? Ein leiser Seufzer entfuhr ihr, als sie sich auf das Toilettenbecken niederließ. Eigentlich musste sie gar nicht, also hatte sie ihre Hose angelassen. Sie musste s
ich jetzt erstmal sammeln. Es brachte nichts, über irgendwelche Hirngespinste zu philosophieren, wenn sie sich doch als Märchen entpuppten.
Sie hatte geträumt, dass er ihr Nachthemd zerrissen hatte und das nur, um sie zu demütigen. Um Herr über die Lage zu werden. Doch was war aus dem Hemd geworden? Was hatte sie damit gemacht? Catherine wusste, dass sie dieses Hemd einmal besessen hatte, doch wo war es? Gedanklich durchforstete sie ihren Kleiderschrank und überlegte. Hatte sie das Nachthemd vielleicht weggeworfen, weil es nicht mehr schön war? Sobald eines ihrer Kleidungsstücke nicht mehr so hübsch war, wie beim Kauf, warf sie es in die Altkleidersammlung, denn tragen würde sie es eh nicht mehr, aber was war mit dem Hemd? Niemals hätte sie ein solch zerrissenes Stück in den Altkleidercontainer geworfen. Würde sie das zerrissene Stück wiederfinden, wüsste sie, ob der Traum real gewesen war, aber so? Sie grübelte und überlegte, doch es wollte ihr partout nicht einfallen und so hakte sie den Traum als ein Hirngespinst ab und spülte obligatorisch, um Vince den Eindruck zu vermitteln, dass sie tatsächlich auf Toilett
e gewesen war. Angestrengt schleppte sie sich wieder zurück auf die Couch und blickte zu den beiden Herren der Schöpfung, die gerade mit Hilfe von Superman die Welt vor ihrem Untergang bewahrten.

Linda schlug ihre Augen auf und warf die Bettdecke zurück. Seit sie hier in diesem Hotel eingecheckt hatte, spielte ihr Rücken russisch Roulette. Jeden Tag tat ihr ein anderer Teil weh und heute war es ihre Nackenmuskulatur, die ihr zu schaffen machte. Sie rieb sich am Hals entlang und stand auf, um sich für das Meeting fertig zu machen. Da es Samstag war, erwartete sie heute nur ein kurzer Arbeitstag und sie seufzte erleichtert ihrem Spiegelbild zu.
Nachdem sie sich fertig angekleidet hatte, verließ sie das Hotel und stieg in ein für sie bestelltes Taxi. So machten es die Japaner wohl immer. Kein Chauffeur, sondern ein Taxi, dass immer schon bezahlt war, stand vor dem Hotel. Auch sehr angenehm hatte sie gedacht und so war es auch heute. Smog, so dicht, dass man kaum die Hand vor Augen sehen konnte, lag über der Stadt und doch hatte sie ein einladendes Flair. Nicht, dass Linda hier wohnen wollen würde, aber es gab schlimmere Gegenden. Sie zückte ihr Handy und wählte hastig MiriamŽs Nummer in das Zahlenfeld.
„Ja?“ rief die verschlafen in den Hörer und Linda legte ihren Kopf etwas schief.
„Schläfst du?“ fragte sie und musste sich das Schmunzeln sehr verkneifen.
„Ich schlafe nicht. Ich bin erkältet!“ kam es bockig zurück und nun musste Linda doch kurz lachen.
„Das tut mir aber Leid für dich.“
„Das kann man hören.“ maulte Miriam in den Hörer und nieste so laut, dass es bei Linda im Ohr knackte.
„Gesundheit.“
„Danke.“
„Miriam, bist du aufnahmefähig?“
„Was ist das für eine Frage?“ und ein schnupfendes Geräusch drang an LindaŽs Ohr.
„Es geht um Catherine. Hast du es schon gehört?“
„Was? Dass sie mit diesem Vince da was hat?“
„Äh, naja.“ Linda räusperte sich kurz und versuchte den Faden wiederzufinden. „Ich meinte eigentlich, dass sie nicht mehr bei Larry wohnt. Sie ist kurzerhand ausgezogen.“
„Sie ist was?!“ schnupfte Miriam in den Hörer und schnäuzte sich die Nase.
„Larry hat sie so verprügelt, dass sie ins Krankenhaus musste.“
„Was?! Dieses Mistschwein!“ empörte sich Miriam. „Was ist denn da los gewesen?“
„Ach Julian hat sich wohl etwas unglücklich geäußert, und dann ist Larry ausgerastet.“
„Das sieht ihm ähnlich.“
„Ja leider. Der Grund warum ich anrufe ist, dass wir ihr helfen müssen. Ich bin ja noch eine Woche hier in Japan, kann von hier aus also nicht viel unternehmen, aber du könntest sicher schon etwas tun.“
„Was soll ich denn machen? Soll ich ein paar dunkle Typen zu Larry schicken, die ihn dann ordentlich verprügeln?“
„Miriam, jetzt mal im Ernst.“ Linda runzelte die Stirn und blickte aus dem Fenster des TaxiŽs. Gerade überfuhren sie eine Brücke, unter der ein Containerschiff den Kanal passierte.
„Wo erreiche ich sie denn?“ schnupfte Miriam in den Hörer.
„Ich denk, dass man sie bald wieder auf ihrem Handy erreichen kann. Gestern ging es zwar noch nicht, aber sie schaltet es sicher bald wieder ein.“
„Und was soll ich dann machen?“
„Ja keine Ahnung?! Hast du nicht jemanden, der Wohnungen vermittelt? Oder einen guten Anwalt?“
„Wohnung sieht schlecht aus, aber einen Anwalt wüsste ich da schon. Da gibt?s so eine Kanzlei, Parker und Sohn. Die sind ganz gut. Vor allem der Senior.“
„Na prima, dann sollten wir zusehen, dass Catherine Larry endlich anzeigt und sich scheiden lässt. Dieser Parker Senior wird die Verhandlung dann schon schaukeln, wenn er so gut ist, wie du sagst.“

„Julian und ich waren heute noch im Sanitätshaus.“ stellte Vince fest und nahm neben Catherine auf dem Sofa Platz.
„So? Was wolltet ihr denn da?“
„Wir haben dir einen Rollstuhl ausgeliehen, damit du ein bisschen mobiler bist. Nur für das Wochenende, mehr war vom Laden aus nicht drin, aber immerhin. Wenn du magst, können wir morgen eine Runde durch den Park drehen.“
„Sicher, warum nicht?“
„Also Begeisterung versprühst du aber nicht unbedingt?“
„Ach naja. Ich habe das Gefühl, dass ich dir total zur Last falle. Du musst deine Wohnung mit mir und Julian teilen und einkaufen kann ich auch nicht allein. Wenn ich wenigstens irgendetwas machen könnte, aber so?“
„Was redest du denn da?“ Vince strich ihr über den Rücken und schüttelte bestimmt den Kopf. „Du fällst mir überhaupt nicht zur Last. Im Gegenteil. Ich freue mich, dass du hier bist.“
„Ich weiß nicht. Kann ich dir nicht bei irgendetwas helfen? Weißt du, ich wache morgens auf, schleppe mich zum Sofa, um dann vor Erschöpfung wieder einzuschlafen. Und wenn du nach Hause kommst, dann lasse ich mich von dir bekochen und sitze nur dumm herum.“
Vince begann laut zu lachen und lehnte sich weit zurück.
„Das klingt ja erschreckend.“ wisperte er ironisch und lachte wieder auf. „Cathy, du bist krank und Basta. Da kann man eben nicht so, wie man gerne möchte.“
Catherine holte Luft, um dagegen zu protestieren, doch im Grunde hatte er Recht und so verschränkte sie die Arme und blies sich den angestauten Atem durch das Gesicht.
„Ich mache uns jetzt erst mal etwas zu Essen und danach überlegen wir, was wir schönes am Wochenende machen können, ja?“
Sie nickte ihm zu und Vince strich ihr noch kurz über den Rücken, bevor er sich auf den Weg in die Küche machte.

Kurz nach neun, Samstag Morgen, Larry schlug seine Augen auf und betastete seinen schmerzenden Arm. Er schlug die Bettdecke des Ehebettes zurück und richtete sich auf. Noch immer lag die Wohnung in Trümmern, doch an Aufräumen war jetzt nicht zu denken. Er nahm sein Handy und entdeckte, dass Madeleine ihm geschrieben hatte. Kurz überflog er die Nachricht und machte sich fertig. Gegen zehn stand er bereits unten und wartete auf sie. Wenig später bog ihr Wagen in die Straße ein und Larry stieg zu ihr ins Auto.
„Guten Morgen.“ strahlte er ihr entgegen und traf beinah auf eine Wand aus Eis. Mindestens zehn Meter dick, denn MadeleineŽs Gesicht war wir eingefroren.
„Was hast du?“ fragte er, doch sie legte nur den Gang ein und fuhr los. Während der ganzen Fahrt schwieg sie ihn beharrlich an und auch, als sie ihre Wohnung betraten, bewegte sich ihr Gesicht kaum.
„Was ist denn los?“ fragte Larry nun etwas forscher und umfasste ihren Arm.
„Es gab Ärger auf der Arbeit.“ entgegnete sie ihm kühl und zeigte auf ihre Couch, auf der sich beide nieder ließen.
„Was heißt das?“
„Du hast Hausverbot.“
„Ich habe Hausverbot?“ Larry blickte sie fragend an und hatte Mühe sich das Lachen zu verkneifen. „Wieso habe ich Hausverbot?“
„Weil mein Chef es so will. Er hat herausbekommen, dass du da warst. Julian hat es ihm sicher erzählt.“
„Na und wenn schon? Ich habe doch niemandem etwas getan?“
„Was weiß denn ich? Fakt ist, dass du nicht mehr zu mir auf Arbeit kommen darfst, sonst bin ich entlassen.“
„Was?! Sag mal, spinnt dein Chef?“
„Nein, eigentlich nicht.“ gab sie spitz zurück und musterte Larry, der sich beim Essen wohl den Verband um seinen Arm bekleckert hatte. „Mich würde interessieren, in welchem Verhältnis ihr zueinander steht. Mister Taylor hat noch nie ein Hausverbot ausgesprochen. Nicht in den ganzen Jahren, in denen ich dort arbeite.“
Larry zuckte verhalten mit den Schultern und blickte auf seine Hand.
„Larry?“ fragte Madeleine nun etwas genervt und hob seinen Kopf an, damit er sie ansehen musste.
„Ja Mensch.“ maulte er und stand auf. „Dein Chef hat was mit meiner Frau.“
Madeleine klappte die Kinnlade herunter und sie verweilte einige Sekunden so, bis sie bemerkte, dass ihr Mund offen stand.
„Deine Frau und mein Chef?“ wiederholte sie ungläubig.
„Ja genau. Ich habe es durch Zufall erfahren.“
„Ja und weiter?“ fragte Madeleine fassungslos und blickte Larry weiter fragend an.
„Was, und weiter? Keine Ahnung.“
„Ja seit wann? Wie und warum?“
„Woher soll ich das denn wissen?! Bon ich Moses, wächst mir Gras auf dem Rücken?!“
„Es war ja nur eine Frage.“ giftete Madeleine beleidigt zurück und verschränkte ihre Arme, sowie die Beine.
„Tut mir Leid.“ lenkte Larry ein und nahm wieder neben ihr Platz.
„Schon gut.“ trotze sie und schnaufte laut auf.
„Ich weiß nur, dass dein Chef ein ziemlich übler Typ ist.“
„Wieso das denn?“ MadeleineŽs krampfhafte Art ließ abrupt nach und sie blickte Larry groß an.
„Ja, sicher. Was glaubst du denn, wieso mein Arm so ist, wie er ist? Dieser Vince, dein Chef, der hat mir den Arm ausgekugelt, weil er es nicht ertragen konnte, dass Catherine bei mir lebt.“
„Hör auf!“ tadelte Madeleine ihn, doch Larry stocherte weiter.
„Na sicher. Die Wohnung bei mir hat er verwüstet und das nur, weil er eifersüchtig auf mich war. Du müsstest die Wohnung sehen!“
„Das glaube ich nicht.“
„Wollen wir hin fahren? Ich zeige es dir gern!“ Larry blühte in seinen Lügen regelrecht auf. Als Autor hatte er für solche Geschichten natürlich gewisses Talent und nicht mehr lang und Madeleine würde es ihm glauben.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Vince so schrecklich brutal sein soll.“
„Und wie! Er ist wie eine Bestie auf mich losgegangen. Ich wollte ihm nicht weh tun, weil ich ja nicht wusste, wer er war. Ich dachte, er hätte sich vielleicht in der Wohnung geirrt und wollte ihm freundlich zur Seite stehen, doch er ging auf mich los und brachte mich zu Fall.“
„Das reicht!“ schrie Madeleine und erhob sich, worauf auch Larry aufstand. „Geh jetzt.“ bestimmte sie und zeigte auf die Tür.
„Wieso soll ich gehen? Ich bin doch gerade erst gekommen?“
„Tut mir Leid, aber ich muss jetzt meine Ruhe haben.“
„Du kannst mich nicht einfach vor die Tür setzen!“
„Natürlich kann ich das! Es ist meine Wohnung, also geh jetzt. Bitte!“
Larry murrte kurz auf und suchte MadeleineŽs Blick, doch die sperrte sich so gut, wie sie es eben konnte, dagegen.
„Ich bin sicher, dass ich dich schnell umstimmen kann.“ entgegnete er ihr und kam ein paar Schritte auf sie zu.
„Ich möchte, das du gehst. Bitte Larry.“
Doch der lachte nur kurz auf. Ganz sicher würde er sich nicht von ihr aus der Wohnung schmeißen lassen. Immerhin war ein Mann und hatte Stolz und Würde.
„Ich bleibe.“ bestimmte er und nahm wieder Platz. Madeleine blickte ihn fassungslos an.
„Ich möchte aber nicht, dass du bleibst!“
„Das ist mir egal.“

CatherineŽs schwarzer Audi kam direkt vor einem Park zum Stehen und Vince hastete heraus, um den Rollstuhl aus dem Kofferraum zu holen und Julian abzuschnallen.
„Warte, ich helfe dir.“
„Das musst du nicht.“ kämpfte Catherine mit letzter Luft aus sich heraus, doch Vince kam schon herbei gerannt und hob sie in den Rollstuhl.
„Danke.“ presste sie etwas geknickt und tätschelte Julian über den Kopf. „Die Leute denken sicher, dass ich querschnittsgelähmt bin, dabei habe ich nur eine Narbe am Bauch.“
„Macht doch nichts, dann sind sie vielleicht etwas rücksichtsvoller. Erst vor einem Monat hat mich hier eine ältere Dame beinahe über den Haufen gerannt.“
Catherine schmunzelte und stützte ihren Arm auf die Lehne neben sich. In dem Moment stahl sich die Sonne durch die dicken Wolken und mit einem erfreuten Lächeln blinzelte sie der hellen Kugel am Himmel entgegen.
„Na wenigstens das Wetter scheint gut zu werden.“ ließ sie verlauten und nahm JulianŽs Hand. „So lang, wie Vince mich schiebt, gehst du an meiner Hand, ja?“
„Ist gut.“ flötete der Junge ihr entgegen und begann eifrig an ihrer Hand zu ziehen. Immerhin gab es auch in diesem Park einen Spielplatz, den es zu erkunden galt.
„Nächste Woche muss ich schon wieder auf die Arbeit.“ Bemerkte Catherine und erfreute sich an den vielen Frühblühern, die am Wegrand standen.
„Dir ist doch klar, dass du nicht auf Arbeit gehen wirst, wenn dein Bauch noch nicht wieder in Ordnung ist, oder?“
„Doch, doch. Ich muss. Nina hat mehr als genug Überstunden gemacht, in den drei Wochen. Ich muss mich ran halten. Noch eine Woche fehlen kann ich nicht.“
„Und was ist, wenn es dir plötzlich schlechter geht?“
„Das wird schon nicht passieren.“
„Und wenn doch?“
„Nun mal doch den Teufel nicht an die Wand, Vince. Es wird schon alles gut gehen.“
Vince runzelte leicht verärgert die Stirn. Wie konnte sie nur so rücksichtslos mit sich und ihrem Körper umgehen? Und warum, verdammt nochmal, wollte sie nicht auf ihn hören? Was, wenn tatsächlich etwas passiert? Was würde sie dann tun? Vince schüttelte den Kopf und suchte nach einer Bank, von der aus man auf den großen Teich blicken konnte, auf dem sich bereits die ersten Enten wieder eingefunden hatten. Als er eine entdeckt hatte, steuerte er sie prompt an und setzte sich.
„Hier Julian, geh mal die Enten füttern. Aber nicht zu nah ans Wasser, klar?“
„Jap!“ grinste er ihm entgegen und nahm die Tüte mit dem alten Brot, die Vince ihm reichte.
Schweigend saßen sie nebeneinander. Vince auf der Bank, Catherine im Rollstuhl. Langsam aber sicher vertrieb die Sonne die letzten dicken Quellwolken und ließ ihre wärmenden Strahlen auf die Erde fallen.
„Sollte es dir nächste Woche nicht besser gehen, kette ich dich an meinem Bett fest.“
Ohne seinen Blick von Julian zu lösen hatte er diesen Satz ausgesprochen und Catherine blickte ihn verdutzt von der Seite an.
„Du scheinst mich nicht verstanden zu haben. Wenn ich nächste Woche nicht wieder arbeiten gehe, dann baut Nina zu viele Überstunden auf.“
„Du tust gerade so, als müsstest du jede einzelne Minute, die sie zu viel arbeitet mit deinem eigenen Blut zollen. So ist es aber nicht. Die einzige, die Nachteile davon hat, arbeiten zu gehen, bist du, Catherine. Ich finde es schrecklich, dass du so wenig Selbstachtung vor dir hast. Bist du dir so wenig wert, dass du lieber riskierst, dich kaputt zu machen?“
Vince blickte ihr mit seinen durchdringenden Augen durch das Gesicht und verharrte an ihren Lippen. Catherine hingegen überlegte krampfhaft. Natürlich war sie sich nicht egal, im Gegenteil. Sie hatte endlich den Mut Larry zu verlassen und jetzt würde sie diese neu gewonnene Freizeit nicht auf das Spiel setzen wollen. Andererseits musste sie wieder arbeiten, denn Nina war nun mal nur als Teilzeitkraft angestellt und der Laden warf nicht genug Gewinn ab, als dass sie sie kurzerhand als Vollzeit hätte einstellen können. Wollte oder konnte Vince das nicht verstehen?
„Ich weiß nicht, was du für ein Bild von mir hast, aber ich achte mich selbst sehr wohl und ich bin darauf bedacht, schnell wieder gesund zu werden. Schon allein, weil ich nicht den ganzen Tag in der miefigen Bude hocken will.“
Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen begann ihr Herz zu rasen. Was hatte sie ihm eben an den Kopf geknallt? Miefige Bude? Seine Wohnung? Eine Bude? Miefig? Sie biss sich angestrengt auf die Unterlippe, als wollte sie sich mit dem entstehenden Schmerz selbst für ihre Beleidigung strafen, doch VinceŽ Gesicht verzog sich kaum und er blickte sie weiter an.
„Ich weiß, dass du lieber nach draußen gehen willst und ich weiß auch, dass du allein bei mir zu Hause die Hölle auf Erden erlebst, aber so lang, wie du noch nicht gesund bist, könnte ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, dass du wieder arbeiten gehst. Dass dir meine Wohnung nicht gefällt tut mir natürlich Leid, aber sie war nun mal für mich zugeschnitten und ich habe sie nach meinem Geschmack eingerichtet. Woher hätte ich wissen sollen, dass ich Miss Catherine Hoover kennen lerne und so gegen die guten Linien des Geschmacks verstoße?“
Das hatte gesessen. Noch nie hatte ihr jemand so gut gekontert, wie es Vince soeben getan hatte. Catherine wusste, dass es absolut überflüssig war, sich für ihre dumme Äußerung zu entschuldigen und doch sprudelte es nur so aus ihr heraus.
„Vince, so war es nicht gemeint. Wirklich.“
„Schon gut. Ich fühle mich auch kaum beleidigt.“ wie ironisch er doch klingen konnte. Sogar etwas Sarkasmus schwang in seiner Stimme mit und doch verstand er sehr wohl, was sie meinte. Wie schlimm war es damals für ihn gewesen, als er eingezogen war? Er hatte sich nie an diese eigenen vier Wände gewöhnt. Ist niemals richtig warm mit ihnen geworden. Der Vormieter musste starker Raucher gewesen sein, denn es roch danach und die Wände waren keinesfalls gelb gestrichen, sondern vergilbt. Gestrichen hat er nie. Auch der Holzfußboden, der eigentlich viel zu dunkel für die kleine Wohnung war, wurde nie mit Teppich verkleidet. Damals hatte er nicht das Geld und heute eben nicht die Lust, etwas daran zu ändern. Catherine war die erste, die sich so negativ über sein Heim geäußert hatte und endlich mal das sagte, was wohl alle dachten, Vince nicht ausgeschlossen.
„Julian! Geh nicht so nah an das Wasser! Was habe ich dir gesagt?“ rief Vince plötzlich aus und Catherine zuckte kurz und unbemerkt zusammen. Sie schluckte schwer und blickte ihn groß an.
„Es tut mir Leid. Ich glaube, ich mache dich für Sachen verantwortlich, auf die du niemals Einfluss hattest. Weißt du, dass meine Wohnung so steril aussieht haben mir schon viele gesagt. Ich hingegen habe immer nur ja und Amen gesagt und alles immer als schön betitelt. Deine Wohnung verströmt wenigstens etwas warmes und wohnliches. In meinem Heim könnte man eine OP auf dem Stubentisch durchführen.“
„Sauberkeit ist wichtig.“
„Jetzt sag das doch nicht so. Du weißt, dass ich es so nicht gemeint habe. Wenn ich zwischen meiner Wohnung und deiner wählen müsste, würde ich deine nehmen. Schon allein, weil ich dich dann mit im Paket dazu bekäme.“
Vince kniff die Lippen zusammen und blickte dann doch schmunzelnd zu ihr herüber.
„Vielleicht steht die Wohnung aber leer, wenn du einziehen willst.“
„Das ist ausgeschlossen. Ich möchte die Wohnung samt Einrichtung. Du gehörst zum Mobiliar.“
„Ist das so?“ schmunzelte er ihr entgegen und Catherine nickte eifrig.
„Ich würde lediglich ein paar meiner Orchideen in die Fensterbank stellen. So als kleinen Farbtupfer.“
„Na, wenn die mal nicht eingehen.“
„Das werde ich dann zu verhindern wissen.“ Catherine lachte kurz auf und legte ihre Hände in den Schoß.
„Ich habe noch ein paar Plastikblumen im Keller. Wie wäre es damit? Die sind pflegeleicht.“
„Plastik? Und dann noch im Keller? Die sind doch sicher total verstaubt...“ Catherine hielt plötzlich inne und ihr Puls schoss auf einhundertachtzig hoch.
„Keller!“ wiederholte sie laut und krallte sich an die Lehnen des Rollstuhls.
„Keller, ja.“ erwiderte Vince irritiert und blickte sie fragend an.
„Ich muss nach Hause.“
„Nach Hause? Wir sind doch gerade erst gekommen?“
„Bitte Vince. Fahr mich nach Hause.“ Sie blickte ihn flehend an und er nickte schließlich zustimmend.
„Julian, komm. Wir fahren nach Hause.“
„Aber das Brot ist noch nicht alle.“
„Wir kommen ein ander Mal wieder. Komm jetzt. Tante Catherine geht es nicht so gut, glaube ich.“
Etwas bockig verstreute Julian die letzten Brotkrümel im Teich und kam auf Vince zugeschlendert. CatherineŽs Herz hingegen pumpte, als wäre sie auf der Flucht. Den ganzen Weg zum Auto hielt sie Vince dazu an schneller zu gehen und als sie den Wagen endlich erreichten, wählte sie eine Nummer in ihr Handy und ließ es etliche Male klingeln. Vince hingegen schüttelte nur den Kopf und legte den Gang ein. Nach wenigen Minuten Fahrt wurde Catherine noch unruhiger.
„Du fährst falsch!“ maulte sie und blickte ihn tadelnd an.
„Nein. Wir müssen in diese Richtung. Die große Kreuzung ist doch gesperrt.“
„Ich will nicht zu dir, sondern zu mir.“
„Was?!“ Vince brachte den Wagen in der nächsten Haltebucht zum Stehen und blickte Catherine fassungslos an. „Sag das noch mal!“
„Ich muss zu mir nach Hause. Vince ich bitte dich, bring mich nach Hause.“
„Auf gar keinen Fall.“ Er verschränkte die Arme und stierte in den Rückspiegel.
„Bitte Vince, es ist wichtig.“
„Was kann so wichtig sein, dass du freiwillig in die Höhle des Löwen willst? Catherine selbst du müsstest wissen, dass das hirnrissig ist.“
„Vince, weißt du noch? Der Traum. Ich, ich muss wissen, ob ich mir da etwas zusammengesponnen habe oder ob es real war. Ich muss zu mir nach Hause. Es ist wirklich wichtig.“
„Du hast nur geträumt Cathy...“ versuchte er sie zu beschwichtigen, doch Catherine ließ sich nicht davon abhalten. Sie musste nach Hause. Sie musste in die Höhle des Löwen, denn anders würde sie die Wahrheit nicht erfahren.
„Vince ich bitte dich!“ flehte sie weiter.
„Ich frage mich manchmal wirklich, was du für ein Mensch bist. Das ist nicht richtig Cathy. Es ist nicht richtig, was wir tun.“
Vince runzelte die Stirn und tiefe Sorgenfalten breiteten sich auf ihr aus. Doch schließlich wendete er und fuhr in die Richtung, auf die Catherine die ganze Zeit bestand. Wenig später erreichten sie ihr Haus und parkten den Wagen etwas abseits in einer Nebenstraße.
„Hast du überhaupt deine Schlüssel dabei?“
„Sind in meiner Handtasche.“ gab sie ihm atemlos zurück und setzte sich bequem in den Rollstuhl.
„Julian, wir sind gleich wieder da ja?“
„Kann ich nicht mitkommen?“
„Lieber nicht. Wir wissen nicht, ob Onkel Larry auch da ist.“
„Dann solltet ihr da nicht rein gehen!“ rief er und blickte beide fragend an.
„Warte hier, Julian. Wir beeilen uns ja?“ Catherine rang sich ein zittriges Lächeln ab und schlug vorsichtig die Autotür zu.
Vince schob sie bis vor den Eingang und blickte sich immer wieder suchend um.
„Was, wenn Larry zu Hause ist?“
„Glaube ich nicht. Er ist nicht ans Festnetz gegangen. Entweder er schläft oder er ist nicht da.“
„Und wenn er nur mal eben auf Toilette war? Catherine, lass uns gehen. Ich will nicht riskieren ihm nochmals über den Weg zu laufen.“
„Bitte Vince.“

„Du wirst jetzt auf der Stelle diese Wohnung verlassen, Larry! Ich glaube, ich spinne.“
„Du hast mir nichts zu sagen. Außerdem müssen wir noch anstoßen. Auf meine neue Stelle.“
Madeleine blickte ihn perplex an und rührte sich nicht. Das war doch jetzt nicht sein Ernst? Er sollte gehen und stattdessen will er feiern. Langsam dämmerte ihr, warum seine Frau ihm fremd ging. Manchmal war er wirklich unausstehlich. So, wie heute.
„Mir ist nicht nach feiern. Geh jetzt bitte!“ Sie versuchte ihren Worten noch Nachdruck zu verleihen, doch an Larry prallten alle Aufforderungen ab. Er stand auf und stellte sich ihr demonstrativ in den Weg.
„Du willst also, dass ich gehe?“
„Ja, bitte.“
„Warum sollte ich das tun?“
„Weil ich dich darum bitte.“
„Und wenn ich nicht gehen will?“
„Larry, zwing mich nicht, Konsequenzen aus der Sache zu ziehen.“
„Konsequenzen?“ wiederholte er spöttisch und lachte kurz auf. „Was denn für Konsequenzen?“
„Wenn du jetzt nicht gehst, brauchst du nicht wieder kommen. Dann ist es aus!“ schrie sie nun zeigte wieder auf die Tür. Larry holte aus und klatschte ihr eine.
„Nur damit du es weißt. Wenn hier jemand Schluss macht, dann ich.“ sprach er und verschwand durch die Tür, die er laut zu knallte.

Mit zittrigen Händen steckte sie den Schlüssel in das kleine Vorhängeschloss, dass an der Kellertür befestigt war. Kurz kniff sie die Augen zu und sammelte sich, bevor Vince sie in den kleinen Raum trug.
„Was willst du hier?“
„Bitte, lass mich runter.“
„Kannst du denn laufen?“
„Es geht.“ gab sie ihm knapp zurück und so setzte er sie auf dem Boden ab. Catherine beugte sich etwas nach vorn, da es sich so besser laufen ließ. Wie bekannt doch alles aussah. So, wie damals, als sie die Tür das letzte Mal hinter sich verschlossen hatte. Doch heute hatte sie das Schloss erneut geöffnet und innerlich betete sie, dass sie doch nur geträumt hatte. An der hinteren Wand, die ihr gegenüber lag, stand die verdächtige Truhe. So, wie es in ihrer Erinnerung gewesen war. Sie kniete sich davor und hob den verstaubten Deckel an. Entsetzt stierte sie in das Innere und ließ den Deckel laut wieder zu fallen.
„Hast du dir weh getan?“ presste Vince flüsternd heraus und hob den Deckel erneut an, um auch einen Blick hinein zu werfen. Doch mehr, als ein paar Fotoalben und ein zerrissenes Hemd kamen nicht zum Vorschein.
„Es ist wahr.“ wimmerte Catherine und drückte sich geschockt darüber, dass sie es so laut gesagt hatte, die Hand auf die Lippen.
„Was ist wahr? Cathy? Was ist los?“
„Er hat es tatsächlich getan.“ flüsterte sie und blickte das zerrissene Nachthemd an. Sachte nahm sie es in die Hand und hob es hoch.
„Was ist das? Was ist das für ein Hemd?“
„I-ich habe geträumt. Nein, ich habe mich im Traum erinnert.“ wisperte sie und drückte das Hemd an ihre Brust. „Er war da, im Schlafzimmer und er war so brutal.“
„Wovon redest du Cathy? Meinst du Larry?“
Sie nickte und schloss die Augen.
„Er kam auf mich zu und würgte mich. Dann zerriss er mir das Nachthemd und drückte noch fester zu. So fest, dass ich beinahe das Bewusstsein verlor. Dann ließ er mich einfach liegen. Ich habe es verdrängt, ich habe es vergessen und jetzt erinnere ich mich wieder.“
VinceŽ Augen rasten durch ihr Gesicht, dass unter Schock jedwede Regung verloren hatte. Sie saß vor ihm, ohne Mimik, ohne Ausdruck in den Augen, mit dem Nachthemd, dass sie noch immer krampfhaft an ihre Brust presste.
„Zeig ihn an, Cathy. Zeig dieses Schwein endlich an, damit er bekommt, was er verdient.“
„Das lässt sich doch nicht mehr nachweisen.“
Wieder blickte er sie an. Sie drohte, von der Scham und der Ohnmacht weggetrieben zu werden. Als würde Wasser das Fundament eines Hauses unterspülen, so nagte es auch an Catherine und wenn er nicht etwas tun würde, dann würde sie unter dem Druck zerbrechen.
„Lass uns erstmal gehen.“
„Ich möchte noch kurz in die Wohnung.“
„Bitte?!“ presste er halb laut heraus.
„Lass uns nach oben gehen.“
Gerade als er protestieren wollte, trafen sich ihre Blicke und schließlich gab er nach und stimmte zu. Sachte trug er sie die Treppen hoch und schloss die Wohnung auf. Kurz horchte er in den Flur und nachdem er auch auf Rufe keinen Ton aus der Wohnung vernahm, trug er sie hinein.
„Es sieht noch immer aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.“ flüsterte Catherine vor sich hin und schaute sich um. „Da, er hat sogar in der Stube geraucht. Dabei waren wir uns einig, dass er nur im Arbeitszimmer rauchen soll.“
„Was hast du erwartet? Kaum ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch.“
Sie nickte verhalten und zeigte auf die angelehnte Schlafzimmertür.
„Lass mich noch ein paar Sachen holen. Etwas zum Anziehen und ein paar wichtige Unterlagen. Dann gehen wir wieder.“
„Gut, wie du meinst.“
Mit dem Bein öffnete er vorsichtig die Schlafzimmertür und setzte Catherine auf das Bett, auf dem die Decken unordentlich verstreut lagen.
„Meine Orchideen!“ rief sie und ließ sich auf die Knie herunter. „Er hat sie kaputt gemacht.“
„Sei nicht traurig. Wir holen dir neue.“
„Dabei haben sie doch gerade so schön geblüht.“
„Shht. Komm, wir nehmen noch ein paar Sachen und dann gehen wir.“

Genervt kaute Larry auf seiner Unterlippe herum. Er hob die Hand und ein Taxi fuhr an den Straßenrand.
„Wo sollŽs denn hingehen?“ fragte der junge Fahrer und drehte sich lässig zu Larry um.
„Fahren Sie erstmal Richtung Avenue, ich melde mich dann, wenn ich es weiß.“
„Hmm.“ gab der Fahrer von sich und drehte sich wieder um. Dieser Typ gefiel ihm nicht, er war zu kalt und unfreundlich. Mit ihm würde es sicher keine lustige Fahrt werden.
Larry stierte zum Fenster heraus und überlegte. Die Tatsache, dass er Madeleine geschlagen hatte, machte seine Situation nicht besser. Im Gegenteil. Sicher wollte sie ihn jetzt nicht mehr sehen und das nur, weil er sich nicht beherrschen konnte. Frauen waren schon eine eigenartige Spezies und er hatte sie noch nicht richtig durchschaut.
„Biegen sie dort links ab. Da wohne ich.“
„Wie Sie wünschen.“
Der Wagen bog ab und hielt kurze Zeit später vor seinem Haus. Larry bezahlte dem Fahrer das genaue Fahrgeld und schlenderte dann über die Straße. Heute war wesentlich mehr los. Seit die große Kreuzung gesperrt war, durchfuhren viele Autos die sonst eigentlich ruhige Wohngegend und auch viele Fußgänger waren unterwegs. Familien mit Kindern, ältere Leute, sogar ein Mann mit einer Frau im Rollstuhl.
LarryŽs Blick verharrte auf dem Paar, dass wenige Hundert Meter von ihm entfernt die Straße entlang lief. Irgendwie kamen sie ihm bekannt vor, doch von hinten Leute zu erkennen war nicht seine Stärke und so zuckte er kurz mit den Schultern und schloss die Haustür auf. Er hechtete angestrengt die Treppen nach oben und betrat seine Wohnung, als es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel.
„Sie war hier.“ fauchte er und lief zum Fenster, von dem aus man auf die Straße blicken konnte. Im letzten Moment sah er den schwarzen Audi seiner Frau, wie er aus der Straße herausfuhr und im Getümmel des Verkehrs verschwand.
„So ist das also.“ Seine Mundwinkel zogen sich in die breite und er griff nach dem Telefonbuch. Nach wenigen Minuten wurde er fündig und wählte eine Nummer ein.
Kurz hupte es und eine männliche Stimme meldete sich.
„Ja, Hoover hier. Ich brauche ein neues Schloss in meiner Wohnung.“

„Und du bist dir auch ganz sicher, dass du an alles gedacht hast? Ich möchte nur ungern noch mal dort hin zurückkehren müssen.“
„Ja, alles ok. Ich denke schon, dass ich an alles gedacht habe. Ansonsten habe ich eben Pech gehabt.“
Der Wagen bog in eine kleine Straße ein und Vince parkte ihn direkt vor seinem Haus.
„Bitte Catherine, schau nicht so traurig. Deine Blumen bekommst du so schnell wie möglich.“ Vince blickte zu ihr herüber und hoffte auf eine Reaktion.
„Meine Orchideen...“ murmelte Catherine leise vor sich hin. Himmel, es waren doch nur ein paar dumme Blumen. „... Wie lächerlich.“ beendete sie ihren Satz noch und blickte zu Vince. Der starrte sie noch immer an und begann ihr sanft über den Handrücken zu streichen.
„Du bekommst Neue, das verspreche ich dir. Wenn du die Blumen so sehr liebst, dann bekommst du Neue.“
Sie rang sich ein Lächeln ab und nickte leicht.
„Es sind nur dumme Blumen.“ sagte sie plötzlich und ergriff seine Hand, die noch immer auf ihrer ruhte. „Und es ärgert mich, dass Larry mich damit so getroffen hat.“
„Er sucht sich eben immer etwas zum Austoben. Im Idealfall Etwas, das sich nicht wehrt.“
„So wie ich?“ hörte Catherine sich sagen und ihre Hand umfasste die von Vince noch etwas fester.
„Du hast dich ihm ausgeliefert um Julian zu schützen. Mehr konntest du nicht tun. Und du hast dich nach Leibeskräften gewehrt. Du bist eine unglaublich starke und mutige Frau Catherine.“
Er erwiderte ihren Handdruck und blickte ihr in die Augen. „Ich weiß nicht, was ich an deiner Stelle getan hätte. Du warst sehr tapfer. Aber jetzt bist du bei mir und ich passe auf euch beide auf. Du kannst dich also fallen lassen. Ich werde für uns beide stark und entschlossen sein.“
Catherine perlte ein Träne aus dem Auge und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie hob seine Hand an ihre Wange und strich sich mit seinem Handrücken durchs Gesicht.
„Ich werde nur kurz ausruhen. Und dann werde ich sehr stark sein, damit Larry bekommt was er verdient. Er wird bluten. Aber bis dahin muss ich Kraft tanken. Ich danke dir für alles Vince. Ich weiß nicht, was ohne dich gewesen wäre wenn...“
Ihre Stimme brach und es bahnten sich noch mehr Tränen einen Weg durch ihr Gesicht.
„Shhht...“ wisperte er ihr ins Ohr und drückte ihr einen sachten Kuss ins Haar.
Ein leises Räuspern riss sie aus ihrer Zweisamkeit und beide blickten verschreckt auf die Rückbank des Wagens.
„Werdet ihr jetzt heiraten?“ fragte Julian, der die ganze Zeit über geduldig und ruhig gewartet hatte.
Beide blickten sich an und begannen zu schmunzeln.
„So schnell geht das nicht mein Schatz.“ sagte Catherine und strich dem Jungen durch den Schopf.
„Ich will aber keinen Kuss haben!“ stellte er schnell fest und lehnte sich schnell an die Rückenlehne.
„Nein, Nein, keine Angst, du musst dich auch nicht küssen lassen.“
„Lasst uns reingehen.“ funkte Vince den beiden dazwischen und öffnete die Autotür. „Julian, hilfst du mir beim Tragen?“
„Na klar!“ rief der und schnallte sich ab. Vince hob ihn aus dem Auto und setzte ihn am Kofferraum ab.
„Hier, nimm diese Sachen aber gib Acht, dass sie nicht auf dem Boden schleifen, ja?“
„Sicher, was denkst du? Ich bin schon alt genug!“ stellte Julian etwas beleidigt fest und umklammerte die Tasche, in die Catherine alles schnell gesteckt hatte, als sie bei ihr in der Wohnung waren.
„Ist das auch nicht zu schwer?“ erkundigte sie sich noch bei dem Jungen doch der schüttelte nur seinen Kopf und schmollte sie etwas an.
„Komm her ich trage dich hoch.“ erwiderte Vince ihr und half ihr aus dem Auto, als ein anderer Wagen hinter ihnen laut aufhupte.
„Pass doch auf Junge!“ rief eine junge Frau und brachte ihren Wagen noch rechtzeitig zum Stehen.
Vince drehte sich entsetzt um und erblickte Julian, der mitten auf der Straße vor dem Auto stand wie angewurzelt.
„Julian!“ schimpfte er, „Was habe ich euch im Kindergarten immer gesagt, wenn ihr über eine Straße gehen wollt?!“
„Ja...“ stammelte der Junge und war sich seiner Schuld natürlich bewusst. „Aber ich habe sie nicht gesehen.“ verteidigte er sich und umklammerte die Tasche in seinen Armen noch etwas fester.
„Du musst doch gucken, bevor du auf die Straße gehst!“ schimpfte die Frau und wedelte mit erhobenem Zeigefinger in der Luft herum. „Deine Eltern wären sehr traurig, wenn die etwas zugestoßen wäre!“
Vince und Catherine blickten sich etwas verdattert an und mussten schließlich doch schmunzeln.
„Na, es ist ja nichts passiert.“ versuchte Catherine alle zu beruhigen und schleppte sich müßig zu Julian. „Er wird in Zukunft besser aufpassen und sie werden in der Tempo 30 Zone nicht wieder so schnell fahren.“ Sie blickte zu der Frau und begann zu lächeln. Diese blickte sie ein wenig ertappt an und nickte, bevor sie wieder in ihren Wagen stieg.

„So.“ murmelte der Mann vom Schlüsseldienst und probierte das neue Schloss noch einige Male aus. „Das wäre es dann.“
„Prima.“ flötete Larry ihm entgegen und kramte an der Garderobe in seiner Jackentasche nach seiner Geldbörse.
„Hatten Sie Ärger Mister?“ fragte der Handwerker und blickte kurz in die Wohnung, die ja noch immer aussah, als hätte ein schrecklicher Sturm gewütet.
„Nichts Wildes.“ beschwichtigte Larry den Mann und schob ihn langsam aber bestimmt Richtung Ausgang. „Was bekommen Sie?“
„Das sind dann mit Schloss und den zwei Schlüsseln, äh, dreiundachtzig plus Arbeitspreis...“
„Ich brauche keine Rechnung.“ erwähnte Larry und blickte den Herrn vom Schlüsseldienst erwartungsvoll an. Der zog kurz die Augenbrauen hoch, riss das Blatt aus dem Quittungsblock und steckte diesen wieder in seine Tasche.
„Hundert und ich bin weg.“
„Hundert Dollar?!“ Larry grummelte leise, zog dann aber zwei Fünfziger aus der Geldbörse und übergab sie seinem Gegenüber.
„Danke Mister und einen schönen Tag Ihnen noch.“
„Jaja, Ihnen auch.“ Larry warf die Tür zu und seufzte leise auf. \'Hundert Dollar.\' ging es ihm durch den Kopf, doch im nächsten Moment begann er zu grinsen. Catherine würde sich wundern, wenn sie wiederkäme, um ihre restlichen Sachen zu holen. Er trotte zum Kühlschrank und nahm sich die letzte Flasche Bier. Mit seinem Feuerzeug öffnete er sie, trank einen Schluck und überlegte. Er musste einkaufen gehen. Er brauchte neues Bier. Und er müsste Madeleine anrufen.

„Das Gesicht der Frau war wirklich lustig, als du sagtest, sie sei zu schnell gewesen.“ Vince setze Catherine auf dem Sofa ab und nahm die Tasche von Julian entgegen. „Der Blick!“ rief er noch und ging lachend ins Schlafzimmer.
„Nun hör schon auf,“ beschwerte sich Catherine und musste auch lachen. „sie war wirklich zu schnell!“
Sie legte die Beine hoch und atmete tief durch.
„Aber du musst trotzdem besser aufpassen, Julian! Wenn dir etwas zustößt, dann...“ Catherine hielt kurz inne und streckte ihre Arme nach dem Jungen aus. Der kam auf sie zu und drückte sich an ihre Brust.
„Kommt Mama denn nicht mehr wieder um mich abzuholen?“ fragte Julian und schob sich wieder etwas von Catherine weg.
„Wie kommst du denn auf so was?“
„Die Frau unten meinte, dass ihr jetzt meine Eltern seid. Sie hat auf euch gezeigt.“
„Ach Quatsch Julian. Natürlich kommt deine Mama um dich abzuholen. Eine Woche ist sie noch weg und dann seht ihr euch schon wieder. Und ich bin sicher, dass sie es kaum noch erwarten kann, dich wiederzusehen.“
„Und ich erst!“ stellte Julian fest und entzog sich ihrer Umarmung. „Mama hat bald Geburtstag!“ sagte er und drehte sich von Catherine weg.
„Ja stimmt.“ Sie überlegte kurz. „Dann brauchen wir ja ein Geschenk für sie. Hast du schon eine Idee?“
Julian schüttelte mit dem Kopf und setzte sich vor das Sofa auf dem Catherine lag.
„Vielleicht solltest du ihr etwas schönes basteln? Oder Malen? Was meinst du?“ Aufmunternd tätschelte sie ihm über den Schopf.
„Und was?“
„Ich weiß nicht.“ Catherine überlegte wieder. Was könnte er ihr schönes schenken?
„Da fällt uns schon etwas ein, nicht wahr Großer?“ Vince lugte aus dem Schlafzimmer in dem er gerade Catherines Sachen in seinen Schrank legte. „Vielleicht helfen dir deine Freunde im Kindergarten ja auch dabei.“ Seine Aufmerksamkeit fiel auf einen Ordner und eine Art Album, die am Boden der Tasche auftauchten. „Ich bin sicher, dass irgendwer von denen sicher eine gute Idee hat!“ rief er noch und blickte wieder in die Tasche.
Was glaubte er hier eigentlich zu tun? Es war ihm unwohl dabei, als er die Tasche in eine Ecke schob und fühlte, wie seine Finger sich noch immer an dieses Album krallten. \'Wichtige Momente\' stand handschriftlich hinten drauf. Es erschloss sich ihm nicht, wieso er dieses dringende Bedürfnis hatte, schnöde Unterlagen von anderen Leuten zu durchwühlen. Zumindest fragen sollte er sie.
„Cathy...“ entfuhr es ihm leise und sein Blick fiel ins Wohnzimmer, wo sie ihn über die Lehne des Sofas ansah.
„Was denn?“ Sie rappelte sich etwas auf und entdeckte das Album in seinen Händen. „Ach das, lass es in der Tasche. Da sind nur ein paar alte Bilder drin.“ Ihr Blick wanderte in sein Gesicht. Er wirkte unschlüssig.
„Ähm...“ stammelte er leise und legte das Album zurück in die Tasche.
„Bring es her.“ rief Catherine ihm zu und zwinkerte kurz.
„Es geht mich nichts an.“ Stellte er fest und ließ das Album in der Tasche. Langsam schlich er aus dem Schlafzimmer und lehnte die Tür leicht an. „Ich habe Hunger, wer möchte jetzt etwas essen?“ fragte er in die Runde und legte sein Gesicht der guten Laune auf.
„Ja! Ich! Ich! Ich!“ rief Julian und sprang hastig vom Boden auf.
„Gut dann bringst du schon mal das Besteck an den Tisch. Catherine was ist mit dir?“ rief er und blickte sich nicht nach ihr um.
„Ja, ich mag auch etwas essen.“
Das Album beschäftigte ihn, sie spürte es. Vielleicht hätte sie es nicht mitnehmen sollen. Andererseits waren darin Bilder ihrer Vergangenheit und warum sollte sie die Larry überlassen? Er würde sie wahrscheinlich zerstören, wenn er wieder mal betrunken und gereizt war. Nein dafür war ihr ihre Vergangenheit zu schade, auch, wenn diese nicht immer rosig war. Und wenn es Vince so sehr beschäftigte, dann sollte er an ihrem bisherigen Leben doch teilhaben. Schließlich hatte er ihr auch einen Teil seiner Vergangenheit erzählt. Sie lächelte in sich hinein und setzte sich auf. Diese Schmerzen nervten. Aber sie wurden langsam erträglich. Sie würde einfach noch eine Tablette nehmen und dann den restlichen Tag mit den beiden genießen.
„Vince!“ rief sie und richtete sich leicht auf. „Wo hast du meine Tabletten hingelegt? Ich möchte noch eine nehmen.“
„Hast du Schmerzen?!“ Sofort ließ er alles stehen und liegen und lief eilig zu Catherine.
„Nur ein wenig und ich möchte den Tag ohne verbringen. Mit euch beiden.“ lächelte sie ihm entgegen und schleppte sich zum Tisch.
„Ich bringe sie dir sofort.“
Vince eilte ins Schlafzimmer, drückte eine der Kapseln aus dem Blister und hielt kurz inne. Himmel, es fühlte sich an, wie ein Traum. Wie Mann, Frau und Kind. Er blickte kurz ins Wohnzimmer, wo Catherine und Julian herumalberten. Ja, so sollte es sein. Das wünschte er sich. So und nicht anders. Er lief in die Küche, füllte ein Glas mit Leitungswasser und schüttete den Inhalt der Kapsel hinein.
„Es ist angerichtet.“ sprach er und stellte Catherine ihre Medizin auf den Tisch.
„Danke.“ Sie leerte zügig das Glas und stellte es wieder ab. „Wir haben nur noch eine knappe Woche, bis Julian wieder bei seiner Mutter ist. Ich möchte, dass das die schönste Zeit wird. Ich habe noch viel wieder gut zu machen.“ Sie strich sich eine Strähne ihres Haares aus dem Gesicht und blickte zu dem Jungen. „Ich möchte, dass du mich trotz allem noch gern besuchen kommst.“
„Aber ich komm dich gern besuchen, Tante. Ich hab dich lieb!“
Beide drückten sich und Vince nahm das Glas mit einem Lächeln vom Tisch.
„Ich kann euch aber nur die Reste von gestern Abend anbieten.“ rief er von der Küche aus und nahm den Topf mit dem Essen aus dem Kühlschrank.
„Das macht nichts, schließlich war es lecker, nicht wahr Großer?“ Catherine begann laut zu lachen, als sie das sagte und alberte wieder mit Julian herum.
Nachdem sie gegessen hatten, legten sie den Jungen aufs Sofa und deckten ihn zu.
„Ich mag aber keinen Mittagsschlaf machen, Vince, bitte.“ Er legte einen flehenden Blick auf und bettelte beide an.
„Aber Julian. Das machen wir doch immer so. Du schläfst jetzt ein wenig und wenn du nachher aufwachst bist du wieder frisch und bereit für neue Abenteuer hmm?“ Vince sprach ihm ruhig zu und strich ihm über den Schopf.
„Außerdem werden wir uns jetzt auch hinlegen. Wir sind nämlich auch müde.“ ergänzte Catherine und sie spürte wie Vince sie anblickte.
„Erwachsene machen doch nie Mittagsschlaf!“ maulte Julian etwas bockig und verschränkte die Arme.
„Ja, aber Tante Cathy muss schlafen, damit sie bald wieder gesund ist. Und sie kann nicht schlafen, wenn wir hier noch herum toben. Nur eine Stunde, die ist doch schnell vorbei.“ Vince kitzelte den Jungen noch kurz und stand dann auf. Julian würde es schon verstehen und schließlich nickte dieser und kniff die Augen zu.
Leise schlichen sich Vince und Catherine ins Schlafzimmer und schlossen die Tür.
„Warum sagst du denn nichts, wenn du müde bist?“ Er blickte sie an und zog sein Hemd aus.
„Ich bin nicht müde.“ grinste sie ihm entgegen und nahm auf dem Bett Platz. „Bitte, gib mir das Album.“
Er zuckte kurz zusammen und blickte auf die Tasche, die er samt des Albums in die Ecke gestellt hatte.
„Du musst das nicht machen.“ Erwähnte er noch leise und schlich vom Bett weg.
„Ich weiß, aber ich möchte es. Nicht alles in meiner Vergangenheit war schlecht. Ich möchte dir gerne etwas daraus zeigen. Natürlich nur, wenn du auch magst.“
Er fühlte, wie ihr fragender Blick ihn durchbohrte und ja, er wollte es. Er wollte es sogar unbedingt. Also griff er nach dem Album und setzte sich neben sie aufs Bett. Sachte schlug sie es auf und blätterte die erste Seite um.
„Bist das du?“ fragte er und zeigte auf ein Bild mit einem kleinen Mädchen.
„Ja das bin ich, da war ich sechs oder sieben. Kurz vor meiner Einschulung.“ Catherine lachte. Sie hatte die Bilder schon so lange nicht mehr angesehen. Es mussten Jahre gewesen sein. Und doch war sie froh sie mitgenommen zu haben.
Langsam blätterten sie durch die Bilder und Catherine erklärte ihm jedes Einzelne. Schließlich tauchten die ersten Bilder ihrer Hochzeit auf und die Stimmung kippte spürbar.
„Lassen wir das einfach.“ und Vince war im Begriff ihr das Album aus der Hand zu nehmen.
„Nein!“ rief sie aus. „Nein.“ Sie umklammerte das Buch und wischte mit der Hand über eines der Bilder.
„Ich war damals die glücklichste Frau der Welt.“ begann sie zu erzählen und Vince rückte etwas näher zu ihr, um sie in den Arm zu nehmen. „Es hatte Monate gedauert, bis ich mir das Kleid ausgesucht hatte. Es war so furchtbar teuer.“ lachte sie und strich weiter über das Bild. „Und meine Schuhe haben mich an dem Tag fast umgebracht. Die Riemchen haben so gedrückt. Und trotzdem war es einer meiner schönsten Tage. Alle meine Freunde waren da. Meine Eltern. Meine Verwandten. Sie waren alle da und haben mit uns gefeiert.“ Sie hielt kurz inne und quälte sich ein Lächeln auf die Lippen. „Larry war ein miserabler Tänzer. Ständig ist er mir auf die Füße getreten. Ich weiß gar nicht was schlimmer war. Meine Schuhe oder seine Tritte.“ Tränen tropften auf das Papier des Albums und doch musste Catherine etwas lachen. Vince blickte abwechselnd auf das Bild und dann zu ihr.
„Du bist heute noch genauso hübsch wie auf diesem Bild, Catherine.“ Er drückte sie noch etwas fester an sich und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Nach der Hochzeit sind wir direkt in unsere Flitterwochen verreist. Alle hatten zusammengeworfen und so hatten wir zwei wirklich schöne Wochen auf Hawaii.“
„Und dort hast du dich von deinen Schuhen erholt?“ fragte Vince mit einem Grinsen im Gesicht.
„Oh ja. Ich bin die meiste Zeit barfuß gelaufen. Die Strände waren traumhaft. Das Wasser war blau und der Sand strahlend weiß. In unserem Hotel gab es eine kleine Cocktailbar. An der haben wir jeden Abend das Gleiche bestellt. Eine Kokosnuss mit zwei Strohhalmen drin. Der Barkeeper wusste immer schon, was er uns bringen sollte.“ Catherine lächelte sanft und blätterte weiter. „Hier, das war unser Hotel. Nichts Besonderes, einfach nur ein kleines Haus. Lustigerweise hatte auch noch ein zweites frisch vermähltes Pärchen eingecheckt. Mit dem haben wir uns sehr gut angefreundet. Leider hielt es bei den beiden nicht all zu lang. Und irgendwann ist der Kontakt abgebrochen.“
Vince folgte Ihren Erzählungen interessiert und doch verfiel er allmählich in Gedanken. So etwas teures könnte er ihr nicht bieten. Überhaupt, was konnte er ihr eigentlich bieten? Seine Wohnung war ein Witz im Gegensatz zu ihrer. Sie war besseres gewohnt. Ein Wunder, dass sie es hier überhaupt schon so lange ausgehalten hatte. Aber für etwas größeres würde es kaum reichen. Er liebte seine Arbeit doch eine Goldgrube war sie nicht. Er würde ihr nicht das bieten können, was sie brauchte. Innerlich lachte er über sich selbst. Sich bereits so früh um solche Dinge Gedanken zu machen war eigentlich albern. Aber im Grunde fühlte er, dass sie die Art von Frau war, die er wollte. Sie war klug, liebevoll, sie mochte Kinder und ihr Lachen waren so herrlich erfrischend. Nichts desto trotz, er kannte sie erst zwei Wochen. Es war also wirklich albern über solche Dinge nachzudenken.
„Vince? Hörst du mir eigentlich noch zu?“
Catherines Stimme holte ihn aus seiner Gedankenwelt zurück und schnell versuchte er zu ordnen, was sie ihm gesagt hatte.
„Hör mal, wir müssen uns die Bilder nicht ansehen. Ich will dich nicht langweilen.“
„Das tust du nicht!“ gab er ihr zu verstehen und machte eine beruhigende Geste mit der Hand. „Es ist nur...“
„Was denn?“
„Ach nichts. Ich denke schon wieder albernes Zeug, dabei interessiert es mich doch wirklich, was du mir erzählst.“
„Woran denkst du?“ bohrte Catherine weiter und legte das Album an die Seite.
„Ach nur unwichtiges Zeug. Wirklich, es ist nicht wichtig. Sind wir mit dem Album denn schon am Ende?“
„Lenk nicht ab!“ tadelte Catherine ihn und schob das Album noch etwas weiter weg. „Worüber hast du nachgedacht?“
Vince machte sich auf dem Bett lang und legte seine Hände hinter den Kopf.
„Ich habe früher bei Miss Clark immer Klavier gespielt. Es gehörte ihrem Mann, der im Krieg gefallen war. Sie hat mir auch das Gitarre spielen beigebracht.“
„Ich beneide dich darum. Ich würde auch gern etwas spielen können aber ich habe leider zwei linke Hände.“ Catherine hob ihre Arme und wedelte damit herum. „Es war leider zwecklos, ich habe früher nämlich sogar Unterricht für Klavier bekommen. Heute kann ich nicht mal \'Alle meine Entchen\' spielen.“
Vince lächelte und blickte an die Decke.
„Miss Clark hat Sonntags immer Tee gemacht und Zitronenkuchen gebacken, den mochte ich immer so gern. Ich habe dann die Lieblingsstücke von ihr und ihrem Mann hoch und runter gespielt, während sie gestrickt und Tee getrunken hat. An einem Sonntag war ich wieder bei ihr eingeladen. Ich habe immer das erste Stück vom Kuchen bekommen und ich sagte ihr auch an diesem Wochenende, dass er köstlich war. Und wie immer fiel ihr ein Stein vom Herzen. Dann habe ich gespielt und sie saß in ihrem Sessel und hat gestrickt. Aber plötzlich begann sie bitterlich zu weinen. Ich sprang auf, kniete mich zu ihr und fragte was los sei.“
Catherines Gesicht verzog sich mitleidig und sie legte sich vorsichtig auf seine Brust. Sein Herz schlug ruhig und kräftig.
„Und was war los?“ fragte sie ihn ruhig und strich mit ihrer Hand über seine nackte Haut.

„Ach mein Junge, es ist alles so furchtbar.“ Miss Clark schluchzte und zog schnell ein Taschentuch aus ihrer Schürze. „Ich freue mich immer wenn du kommst. Aber ich weiß, dass du mich irgendwann nicht mehr besuchen kommen wirst. Schließlich musst du dich ja auch mal mit deinen Freunden treffen.“ wieder schluchzte sie und schnäuzte in ihr Taschentuch. „Und dann werde ich sehr einsam sein.“
„Also Miss Clark!“ Vince erhob sich und schnaubte kurz auf. „Wieso sollte ich Sie nicht mehr besuchen kommen? Sie machen den besten Zitronenkuchen der Welt. Glauben Sie ernsthaft, dass ich auf den verzichten könnte?“
Miss Clark begann etwas zu lachen und trocknete ihre Tränen.
„So einen Jungen habe ich mir immer gewünscht.“ flüsterte sie und steckte das Taschentuch wieder weg. „Aber weißt du, ich werde alt. Bald werde ich vielleicht nicht mehr backen können.“
„Ja dann müssen Sie es mir beibringen. Dann backe ich den Kuchen und wir werden das so lange machen, wie es eben geht.“
Miss Clark lächelte Vince entgegen. Er ahnte ja nicht, wie schlecht es ihr bereits ging.
„Ach das wäre wirklich sehr sehr schön.“ wisperte sie und zeigte auf das Klavier. „Bitte, Vince. Bitte spiele unser Stück noch einmal ja? Bitte.“
Vince folgte ihrem Finger, nickte und nahm am Klavier wieder Platz. Er spielte so gefühlvoll er nur konnte und Miss Clark saß in ihrem Sessel, hatte die Augen geschlossen, das Strickzeug auf dem Schoß und lauschte der Musik.
Gegen Sechs Uhr abends verabschiedete sich Vince von ihr und huschte wieder in die Wohnung seiner Eltern zurück.
„Ich bin wieder da!“ rief er und verschwand in seinem Zimmer. Er verstand nicht, wieso Miss Clark so komisch war. Warum sollte er sie nicht besuchen kommen? Diesen einen Tag in der Woche hatte er sich doch immer für sie frei gehalten. Sogar als er mal stark erkältet war, hatte er sie besucht, obwohl seine Mutter deshalb mit ihm geschimpft hatte. Schließlich hätte er Miss Clark ja anstecken können.
Nach dem Abendessen legte er sich ins Bett und schlief ein. Der Schlaf war alles andere als erholsam. Er drehte und wendete sich ständig, als ihn die schreiende Stimme seiner Mutter aus den Träumen riss.
„Vince schnell, ruf ganz schnell einen Arzt!“ schrie sie.
Er warf seine Decke auf den Boden und sprang aus dem Bett. Hastig eilte er in den Flur. An der Wohnungstür kniete seine Mutter, in ihren Armen Miss Clark, sie schien ohnmächtig.
„Junge starr mich nicht an, ruf einen Arzt! Den Krankenwagen, nun mach. Sag das es vielleicht das Herz ist und das die Frau nicht bei Bewusstsein ist!“
Vince griff zum Telefon wartete ungeduldig darauf, dass sich jemand meldete.
Die Minuten bis der Notarzt endlich eintraf vergingen so ewig langsam, dass er meinte den Verstand zu verlieren. Miss Clark lag am Boden, in den Armen seiner Mutter. Sie atmete nur sehr schwach und war nicht ansprechbar. Vince kniete neben ihnen und tätschelte der Dame die Hand.
„Was haben die gesagt, wie lange sie brauchen werden?“ fragte seine Mutter ihn nun schon zum vierten Mal und blickte ihm besorgt ins Gesicht.
„Sie sagten etwas von ein paar Minuten.“ Vince tropften ein paar Tränen in den Schoß.
„Wie ein paar Minuten?! Wir warten schon ewig! Hast du ihnen die richtige Adresse gegeben?!“
„Du hast doch mitgehört!“ Fauchte er sie an und stand auf. „Was weiß ich denn, wo die so lange bleiben?!“ Er schnaufte kurz durch und stieg sachte über Miss Clark hinweg. „Ich gehe runter und sehe nach, wo sie bleiben!“ Und schon sprang er immer zwei Stufen nehmend die Treppen herunter.
Draußen angekommen tobte das Stadtleben. Überall Autos, Krach und der eisige Wind fegte ihm durch sein Gesicht.
\'Wo bleiben sie denn?!\'
Er begann zu frösteln und als wäre der kalte Wind nicht schon Strafe genug, begann es nun auch noch zu schneien. Vince wippte von einem Bein aufs andere um sich etwas aufzuwärmen als er endlich die Sirenen des Krankenwagens vernahm. Sie konnten nicht mehr weit sein, er atmete auf und klapperte laut mit den Zähnen.
Schließlich trafen die Sanitäter endlich ein und er lotste sie nach oben zu Miss Clark. Sie versorgten die Dame schnell und nahmen sie schließlich mit. Vince blickte ihnen noch lange durch sein Fenster nach.
„Du warst sehr tapfer mein Junge.“ hörte er seine Mutter sagen, die nun in seiner Tür stand. „Es wird schon alles gut werden.“
Vince drehte sich zu ihr und nickte kurz. Schließlich wurde er doch übermannt und so rannte er weinend in die Arme seiner Mutter, um sich von ihr trösten zu lassen.

Vince spürte, wie etwas nasses, gleich einem Tropfen an seinem Bauch entlang glitt. Er nahm seine Arme hinter dem Kopf hervor und drehte Catherines Gesicht zu sich.
„Ach Cathy, du musst doch deshalb nicht weinen. Miss Clark hat es überlebt.“
„Trotzdem. Wie schlimm. Sie wirkte auf mich so heiter. Das hatte ich gar nicht erwartet.“
„Sie hatte einen Herzinfarkt.“ erzählte Vince weiter und drückte Catherine an seinen Körper. „Einen von drei. Nach dem dritten dann bekam sie einen Schrittmacher.“
„Schlimm.“ wiederholte Catherine und schmiegte sich an seine Schulter.
„Schließlich sollte sie Recht behalten mit dem, was sie sagte. Nachdem meine Mutter tot und mein Vater im Gefängnis war habe ich sie nicht wieder besucht.“
„Warum?“
„Ich konnte den Anblick des Hauses nicht ertragen. Außerdem war das nicht so einfach. Schließlich wohnte ich ab diesem Moment in einem Heim.“
Catherine holte kurz Luft und blickte ihn an.
„Ist schon gut, sie hat es dir doch eh erzählt. Sie redete schon früher immer so viel. Aber es scheint ihr ja doch ganz gut zu gehen.“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen und Vince schloss die Augen. Er hatte das noch niemandem jemals erzählt. Und nun hatte er seine Erinnerung mit jemandem, nein, er hatte sie mit Catherine geteilt. Verdammt noch mal und es fühlte sich gut an!
„Ich kann auch Zitronenkuchen backen. Vielleicht nicht so gut wie Miss Clark aber man ihn sicher essen.“ Catherine blickte zu ihm hoch. Seine Augen begannen endlich wieder etwas zu leuchten. „Wenn wir also das nächste mal zusammen einkaufen gehen, nehmen wir alles mit, was wir für Zitronenkuchen brauchen. Und wehe, er schmeckt dir nicht!“
Sie hob den Finger und stupste damit gegen seine Nase.
„Ich werde einen Teufel tun, deinen Kuchen nicht zu loben. Wenn er nur annähernd so gut schmeckt wie deine Törtchen, dann machst du Miss Clark schwere Konkurrenz.“
Beide kicherten, verharrten jedoch nur kurz, als sie Julian aus dem Wohnzimmer rufen hörten.
„Die Stunde ist um.“ sagte Vince und stand auf. „Wir sollten aufpassen, dass wir uns nicht gegenseitig herunterziehen. Schließlich hatten wir ja auch schöne Momente im Leben.“ Kurz lächelte er sie an und verließ schließlich den Raum. Er schnappte sich Julian und warf den kreischenden Jungen in die Luft.
„Tante Catherine hat mir erzählt, dass sie nächste Woche für uns Zitronenkuchen backen wird, wenn es ihr besser geht!“ grinste Vince und warf ihn nochmals in die Luft. „Magst du Zitronenkuchen?“
„Na klar!“
„Aber ich backe nur, wenn ihr beide artig seid!“ stellte Catherine noch fest und steuerte langsam das Sofa an.
„Hast du gehört Julian? Wir müssen beide artig sein!“ Vince lachte und warf den Jungen immer wieder in die Luft. Catherine sog diese wohlige Stimmung in sich auf wie ein Schwamm. So sollte es immer sein. Das hatte sie sich gewünscht. Die drei lachten und vergnügten sich den ganzen Abend.

Indes fuhr der Wagen eines Bestattungsinstitutes in die Hintereinfahrt des Krankenhauses.
„Guten Abend.“ Einer der Herren verließ den Wagen und reichte dem Pathologen die Hand zum Gruß. „Wir sind hier wegen ähm...“ er stockte kurz und blätterte schließlich in seiner Rollkarte herum. „wegen Miss Rosalie Clark.“
„Clark? Hmm, ich sehe gleich nach, bitte. Kommen Sie doch beide rein.“

Der Wecker kreischte unermüdlich und schließlich schlug Vince entnervt die Bettdecke zurück und schaltete ihn ab. Es war bereits kurz nach halb acht, er musste wieder eingeschlafen sein. Etwas zerknirscht blickte er sich zu Catherine um, die noch tief und fest schlief und deckte sie wieder zu. Er eilte aus dem Schlafzimmer und weckte Julian.
„Zähneputzen nicht vergessen!“ rief er ihm noch zu und rasierte sich hastig. Es dauerte nicht lange, da tropfte auch schon etwas Blut ins Waschbecken und Vince blickte mit verdrehten Augen in den Spiegel. „Mist.“ flüsterte er, rasierte sich schnell zu Ende und klebte etwas Toilettenpapier auf die Wunde am Kinn.
„Julian, nicht trödeln. Was ist? Brauchst du Hilfe?“
„Nein ich kann das!“ rief er ihm zu und probierte sich ein weiteres Mal an seinen Schnürsenkeln, die aber irgendwie ständig ein Eigenleben entwickelten.
„Na komm. Heute binde ich sie dir nochmal zu. Und im Kindergarten üben wir das dann in Ruhe ja? Wir sind spät dran.“
„Und was ist mit Tante Cathy?“ Julian blickte auf die verschlossene Schlafzimmertür.
„Sie ist noch müde. Lassen wir sie einfach ausschlafen ja?“
Julian nickte und ließ sich schließlich von Vince die Schuhe binden. Der schmierte danach noch schnell etwas auf einen Zettel und legte ihn neben Catherine aufs Bett.
„So, na komm.“ Er hob Julian hoch und sie verließen die Wohnung.
Gegen halb zehn wurde Catherine von den herein strömenden Sonnenstrahlen geweckt und wischte sich sachte den Schlaf aus den Augen. Sie blickte neben sich und entdeckte den Zettel, den Vince ihr hingelegt hatte.
\'Guten Morgen Catherine, hoffe du hast gut geschlafen. Kaffeemaschine ist schon fertig, musst nur noch auf den Knopf drücken. Sind gegen Vier wieder da! Vince\'
Sie lächelte kurz und gähnte. Das Wochenende war so schnell vorbei und nun war schon Montag morgen. Sie stand auf und streckte sich. Die Wunde am Bauch schien gut zu verheilen und schmerzte bei weitem nicht mehr so, wie am Anfang. Überhaupt, sie fühlte sich heute richtig frisch und ausgeruht. Einen Tag, den man also nutzen musste!
Sie lief eilig in die Küche, drückte auf den Knopf der Kaffeemaschine und blickte sich etwas um. Zuerst würde sie abwaschen. Und Wäsche waschen. Ganz klar. Und Wischen und bügeln. Es kamen ihr direkt tausend Dinge in den Sinn. Es war außerdem klar, dass sie sich wenigstens etwas revanchieren musste. Sie nahm die Tasse aus der Kaffeemaschine und setzte sich an den Tisch. Nachdem sie ihren letzten Schluck getrunken hatte, stieg sie unter die Dusche. Das Pflaster an ihrem Bauch hatte sich schon etwas abgerollt. Sicher war es besser, wenn sie bald mal ihren Arzt aufsuchen würde, damit sie ein neues bekam. Sie duschte schnell und zog sich etwas bequemes an.

„Aber warum nicht Vince?!“ Sieben riesige Augenpaare blickten ihn flehend an.
„Weil niemand von uns richtig backen kann! Außerdem wie stellt ihr euch das vor? Der Kuchen ist doch schlecht, bis Julians Mami wieder da ist.“
„Dann essen wir ihn eben selber!“ rief Maria.
„Aha und dann erzählen wir Julians Mama, dass er gut war und ihr glaubt, sie freut sich dann?“
Ratlose Gesichter. Vince begann zu lachen.
„Also gut, wir einigen uns. Ich schlage vor, wenn ihr unbedingt backen wollt, dass wir Salzteig machen ja? Den kann man zwar nicht essen aber man kann ihn ganz toll anmalen. Na? Was meint ihr?“
Lautes Getöse brach los und alle Kinder waren einverstanden.
„Gut, dann gehen wir also in den Supermarkt und kaufen alles ein ja?“

Catherine stellte die letzte Tasse, die sie gerade abgetrocknet hatte in den kleinen Hängeschrank und legte das Handtuch auf die Spüle. Ihr war der große Berg Bügelwäsche im Schlafzimmer nicht entgangen und so würde sie erst eine Maschine mit Wäsche anwerfen und dann bügeln. Sie durchsuchte die Wohnung nach Julians Sachen, die er immer überall liegen ließ und blieb schließlich vor VinceŽ Nachttisch stehen. Er war auch nicht besser. Hatte er seine Jogginghose also auch achtlos auf den Boden geworfen. Catherine schmunzelte und hob etwas müßig das Kleidungsstück auf. Da alle Männer die Angewohnheit hatten, Dinge in ihre Hosentaschen zu stecken, griff sie auch in seine und durchforstete sie nach Taschentüchern oder Papieren. Die linke Tasche war leer und so griff sie noch kurz in die rechte, als sie plötzlich inne hielt und mit ihren Fingerspitzen den Gegenstand darin betastete. Sie schluckte und zog ihn heraus.
\'Ein Kondom?\' Catherine ließ sich auf dem Bett nieder und blickte auf das Präservativ. Wieso um Himmels Willen hatte er so ein Ding in seiner Jogginghose? Ob er wohl häufig Damenbesuch hatte? Sie überlegte. Eigentlich wirkte er nicht so auf sie, als würde er irgendwelche Frauen mit zu sich nach Hause nehmen. Sie dachte an ihren ersten Kuss zurück und wie er daraufhin abgehauen war. Nein, Vince war kein Weiberheld. Aber wieso dann dieses Ding da in seiner Schmusehose? Angestrengt dachte sie weiter nach und begann zu grinsen. Vielleicht hatte er es sich mit ihr ja doch überlegt. Sie legte das Kondom auf seinen Nachttisch und erhob sich wieder. Die Wäsche wusch und bügelte sich ja schließlich nicht von allein. Sie verließ das Schlafzimmer gerade, als ihr Handy klingelte.
„Hallo?“ flötete sie in den Hörer, den sie sich kurzerhand zwischen Ohr und Schulter geklemmt hatte.
„Catherine? Ich bin es, Miriam.“
„Ach, Miriam. Was gibt es denn?“ Sie lief ins Bad und steckte die Sachen in die Waschmaschine.
„Ich wollte hören wie es dir geht. Ich habe mit Linda gesprochen.“
„Ja, ich verstehe.“ Catherine stütze sich leicht gegen die Waschmaschine und schnaufte gut hörbar in den Hörer.
„Ist es gerade schlecht?“ hörte sie Miriam noch fragen, als sie den Waschgang einstellte.
„Nein gar nicht. Ich mache gerade etwas Ordnung. Wäsche waschen, bügeln und so. Na du weißt schon.“
„Also wenn du bereits wieder Hausarbeit machst, muss es dir schon wirklich besser gehen.“ Miriam atmete erleichtert auf.

Als gegen Mittag endlich Ruhe in VinceŽ Gruppe eingekehrt war, blickte er sich kurz zwischen den schlafenden Kindern um. Sie hatten viel gespielt und getobt. Alle musste furchtbar müde gewesen sein, so schnell wie sie eingeschlafen waren. Ein Lächeln huschte durch sein Gesicht und er eilte schnell zum Briefkasten aus dem er ein paar Rechnungen und die Tageszeitung nahm. Vielleicht würde er ja eine hübsche kleine Wohnung für Catherine entdecken und könnte sie damit überraschen. Er lief mit bereits aufgeschlagener Zeitung zurück ins Spielzimmer und nahm Platz. Während er die Annoncen studierte kam er ins Grübeln. Eigentlich behagte es ihm nicht, Catherine wieder ausziehen zu lassen. Nichts desto trotz war seine Wohnung einfach zu klein und es würde ja auch nicht heute oder morgen sein. Er blätterte weiter und seine Augen blieben an einer kleinen, fast unauffälligen Anzeige hängen.
\'Gut geschnittene, ruhige 2-Zi.- Wohnung, 48qm, Südblk. im 2-OG. EBK und PKW-Stellplatz auf Wunsch. 600$ Miete zzgl. NK\'
Vince griff nach einem der Buntstifte und rahmte die Annonce schnell ein. Preislich lag die Wohnung im gesunden Mittelfeld und natürlich war ihm nicht entgangen, dass sie sich irgendwo in der Nähe seiner befinden musste. Er überblickte nochmals die schlafenden Kinder und zückte sein Handy. Er würde einfach mal anrufen und nachfragen, ob diese Wohnung noch zu haben war.

„Und wann wollt ihr heiraten?“ fragte Catherine interessiert, nachdem sie sich ihr Handy in die Hosentasche gesteckt und das Headset in das Ohr gesteckt hatte.
„Ach ich weiß nicht.“ Miriam lachte leise, sodass es bei Catherine kurz im Ohr rauschte. „Ich warte einfach. Ich bin altmodisch. So wie du!“
„Wieso bin ich altmodisch?“ beschwerte sie sich und kippte den Eimer mit dem Wischwasser aus. Sie musste ausruhen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen heute so durchzustarten und so nahm sie am Küchentisch platz, nachdem sie die Kaffeemaschine nochmal eingeschaltet hatte.
„Es soll alles genauso werden, wie es bei dir damals war. Es muss einfach perfekt sein.“
Catherine lächelte. Oh ja, es war perfekt. Alles war perfekt gewesen. Sie wusste genau, was Miriam damit meinte. Vom Antrag bis zur Hochzeit, es war einfach perfekt. „Aber sag mal, wie läuft es eigentlich zwischen dir und diesem, ähm...“
„Vince?“ vervollständigte Catherine ihren Satz. „Ja wie soll es laufen? Wir kennen uns ja noch nicht so lang.“
„Hmm, was du nicht sagst. Und sonst?“
In Miriams Stimme schwang dieser gewisse Unterton mit und Catherine wusste nicht, ob sie darüber lachen oder weinen sollte.
„Sonst nichts.“ gab sie nur trocken von sich und blickte durch die Wohnung. Sie könnte auch im Sitzen bügeln. Das wäre nicht so anstrengend. Sie stand auf, nahm sich ein paar Sachen und legte sie auf die Couch. „Wie gesagt, es ist noch viel zu früh.“
„Du hast doch bei Larry auch nichts anbrennen lassen.“ stichelte ihre Freundin weiter.
„Larry ist eben anders. Verrate mir lieber, wo ein Junggeselle sein Bügeleisen hinstellt, wenn er es nicht braucht.“
Miriam lachte laut auf und auch Catherine musste grinsen.
„Ich glaube Junggesellen haben keines.“
„Was?!“ Catherine blickte sich angestrengt um. Sie konnte doch nicht einfach seine Schränke durchwühlen. Und ihn anrufen? Nein, das war auch keine Option. Sie hörte ihn schon tadelnd mit ihr sprechen, dass sie sich lieber ausruhen sollte.
„Guck halt in die Schränke.“ flötete Miriam in den Hörer.
„Ich kann doch nicht seine Schränke einfach aufmachen! Miriam!“
„Du wohnst bei ihm?“ Unverständnis machte sich in ihr breit. Sie wohnten zusammen, aßen und schliefen vielleicht sogar nebeneinander. Da stellte es doch kein Problem dar, wenn sie nach einem blöden Bügeleisen suchte. Außerdem...
„Du solltest dich lieber ausruhen, anstelle die ganze Hausarbeit zu schmeißen. Der arme Junge findet nachher vielleicht nichts mehr wieder?“
„Vince ist sehr ordentlich!“ Catherine war ihr bockiger Unterton etwas peinlich, aber sie hatte schließlich recht. Vince war nicht der typische Junggeselle, wie sie sie sich immer vorgestellt hatte. Seine Wohnung war aufgeräumt, auch an jenem Abend, als sie so überraschend mit Julian bei ihm aufgekreuzt war.
„Du magst ihn wirklich sehr hmm?“ hörte sie Miriam ruhig fragen und sie erahnte, dass ihre Freundin bei dieser Frage leicht lächelte.
„Er ist anders.“ begann Catherine leise. „Er ist immer so aufmerksam und besorgt. Außerdem bedrängt er mich nicht.“
Miriam räusperte sich.
„Aber er hat schon Interesse oder?“
„Ich glaube...“
Im nächsten Moment wurde sie von Julians lauter Stimme, die sie vor der Wohnungstür vernahm, unterbrochen. Kurz darauf lugten zwei Augenpaare in die Stube.
„Ich glaube, ich sollte jetzt Schluss machen. Wir hören uns Miriam.“
„Hey warte mal, was ist mit meiner Frage?“
„Ja, ja. Die auch einen schönen Abend noch.“
Catherine legte hastig auf und zog sich den Stöpsel vom Headset aus dem Ohr.
„Da seid ihr beiden ja. Na? Wie war euer Tag?“
„Es war ganz toll!“ begann Julian direkt los zu quasseln und hüpfte aufgeregt zu ihr. „Wir haben Salzteig gemacht. Und wenn er morgen trocken ist malen wir ihn an und dann werde ich meinen meiner Mami schenken.“
„Das klingt großartig.“ Catherine wuschelte dem Jungen durch die Haare und blickte lächelnd zu Vince. Der jedoch schien wenig begeistert zu sein. „Was ist denn los?“
„Was machst du da?“ fragte er und legte eine zusammengerollte Zeitung auf den Tisch, bevor er mit der Einkaufstüte in der Küche verschwand.
„Ich wollte bügeln. Aber um ehrlich zu sein, weiß ich nicht wo du dein Bügeleisen hast. Ich wollte nicht einfach alles durchsuchen.“
„Du solltest dich ausruhen.“
Seine Stimme klang nur wenig begeistert und das, wo sie doch schon so viel geschafft hatte.
„Aber es geht mir heute schon viel besser.“
„Trotzdem.“
Vince kam aus der Küche und ohne sie anzusehen zog nun seine Jacke und seine Schuhe aus. Er wirkte nachdenklich und etwas erbost. Sie wollte ihm eigentlich eine Freude machen und nun guckte er so böse.
„Ich...“ stammelte Catherine leise. „Ich dachte, du würdest dich freuen.“
Nun blickte er sie doch an und vergrub seine Zähne in der Unterlippe.
„Hör mal, ich freue mich. Aber ich kann das auch machen. Du sollst dich erholen.“ Er nahm neben ihr Platz und griff nach ihrer Hand. „Es ist wirklich lieb von dir, dass du mir helfen möchtest, aber ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn dir deshalb etwas passiert.“
Catherine blickte auf seine Hand und begann zu lächeln.
„Du bist wirklich lieb.“ flüsterte sie. „Und nun gib mir das Bügeleisen.“
Vince holte gerade tief Luft, blies diese dann aber durch sein Gesicht und stand auf.
„Und wenn ich keines habe?“ fragte er und drehte sich schelmisch lachend wieder zu ihr.
„Dann frage ich mich, wieso du ein Bügelbrett hast und deine Wäsche stapelst, anstatt sie in den Schrank zu räumen.“ konterte sie und grinste breit.
„Du hast gewonnen.“ er hob sich ergebend die Hände in die Luft und ging ins Schlafzimmer. Dort angekommen überlegte er kurz. Sie wollte unbedingt bügeln, hatte sich aber nicht gewagt die Schränke zu durchsuchen. So, wie es sich eigentlich auch gehörte, wenn man Gast war. Nur irgendwie versuchte er, das Wort Gast durch ein anderes zu ersetzen. Sie war nicht sein Gast. Sie war... sie war mehr. Er kniete sich neben das Bett und holte das Bügeleisen aus dem Schrank, als sein Blick auf den Nachttisch fiel. Mindestens fünfzehn Kilo Kloßmehl, ein halber Sack Gips und zwei Zentner Zement steckten in seinem Hals, als er das Kondom entdeckte. Da hatte er es nicht hingelegt. Wie kam es also da hin? Angestrengt dachte er nach, bis er das Fehlen seiner Jogginghose bemerkte. Alles Schlucken half nichts, die Sprechblockade saß felsenfest. Wo war die blöde Hose? Und wieso war der Gummi aus der Tasche gefallen? Vince kniff die Augen zusammen und krallte sich an sein Bügeleisen.
Was sie wohl nun von ihm dachte? Wie schrecklich, dabei war er doch nicht so. Gut, wenn sie ihn nochmal so verführt hätte, wäre er es vielleicht doch aber von sich aus war er nicht so. Wieder biss er sich auf die Unterlippe. Was sollte er tun? Sie darauf ansprechen? Oder einfach schweigen und das Kondom verschwinden lassen? Vielleicht dachte sie ja gar nicht mehr darüber nach? Und wer sagte überhaupt, dass sie darüber auch nur einen Gedanken verloren hatte? Sie wusste ja schließlich nichts. Und jeder vernünftige Mann benutzte schließlich Kondome. Und um sie zu benutzen, musste man welche bei sich haben.
„Aber doch nicht in der Jogginghose, die du nur daheim anziehst, du blöder Trottel.“ flüsterte er sich ganz leise zu und griff nach dem Präservativ. Er zog die Schublade seines Nachtschränkchens auf und warf es hinein.
„Wo bleibst du? Kannst du es nicht finden?“ hörte er Catherine aus dem Wohnzimmer rufen und schnell stand er auf. Mit dem Fuß schob er die Schublade wieder zu und atmete tief durch.
„Doch, doch. Ich habe es. Aber hör mal, du musst wirklich nicht noch bügeln. Du hast schließlich schon abgewaschen und gewischt.“
„Ja ich weiß. Und Wäsche hab ich auch gewaschen. Sie hängt im Bad. Also gib mir jetzt das Bügeleisen ja?“
Sie hatte seine Hose also gewaschen! Nun, vielleicht hatte sie ja gar nicht bemerkt, aus welchem Kleidungsstück das Kondom gefallen war. Erleichtert atmete er auf und brachte Catherine das Bügeleisen.
„Ich habe uns für heute Abend Tomaten, Zwiebeln und Mozzarella mitgebracht.“ Vince musste sich irgendwie ablenken und so war ein Gesprächsthema, was mit dem Missgeschick so gar nichts zu tun hatte, das beste. „Und beim Bäcker habe ich sogar noch zwei Baguettes bekommen. Ich hatte an Bruschetta gedacht?“
„Klingt fantastisch.“ hörte er Catherine sagen. „Sag mal, kann die Zeitung hier weg?“
„Die Zeitung? Ach! Ähm nein, ich hab da was eingerahmt. Schau es dir doch nachher mal an. Ist eine Wohnungsanzeige. Ich glaube, die könnte dir gefallen. Heute Mittag habe ich schon angerufen, sie ist noch zu haben.“ rief er ihr aus der Küche zu, während er die Tomaten unter kaltem Wasser abwusch. Julian rutschte aufgeregt vor dem Fernseher hin und her und verfolgte seine Lieblingsserie, als ihn ein lauter Knall hochschrecken ließ.
„Ist alles in Ordnung?“ Vince blickte etwas verstört aus der Küche in die Stube und erblickte Catherine, die das Bügeleisen vom Boden aufhob.
„Alles gut, es ist mir aus der Hand gerutscht. Entschuldigt.“
Er hatte sich also bereits nach einer Wohnung für sie erkundigt. Scheinbar konnte er gar nicht mehr abwarten, bis sie endlich wieder auszog. Sie strich mit dem Bügeleisen über eines von VinceŽ Hemden und dachte nach. Was hatte sie erwartet? Gott, sie kannten sich zwei Wochen. Davon war eine die reinste Hölle. Er hatte sie doch nur zu sich geholt, weil er Mitleid hatte. Sie konnte ja nicht wieder zu ihrem Mann zurück. Und sie hatte beim Gespräch mit Miriam allen Ernstes sagen wollen, dass sie glaubte, dass er mehr als eine Freundschaft wollte.
„Ich muss raus.“ rief sie und stellte das Bügeleisen ab.
„Wie? Wo willst du denn hin? Ich mache doch gerade Etwas zu essen?“ Vince trocknete sich die Hände ab und schlich langsam in die Stube.
„Ich brauche frische Luft. Ich möchte raus.“
„Hat das nicht noch bis morgen Zeit? Julian muss bald essen und ins Bett.“
„Setz mich einfach in den Rollstuhl, ich komm dann auch allein zurecht.“ Catherines Stimme klang so furchtbar monoton, dass es sie selbst etwas gruselte.
„Cathy, den hatten wir doch nur für das Wochenende. Ich habe ihn schon wieder abgegeben.“ Vince kniete sich vor sie und versuchte einen ihrer Blicke zu erhaschen. Ihm war nicht klar, was ihr auf einmal für eine Laus über die Leber gelaufen war. „Außerdem ist es doch so kalt draußen. Ich will nicht, dass du dich obendrein noch erkältest.“
Catherine schnappte sich die Zeitung und faltete sie vor VinceŽ Gesicht auf. Wenn die Wohnung so toll war, würde sie sich eben diese scheiß Wohnung ansehen. Sie schnaubte kurz auf und suchte nach der Anzeige. Julians Blick traf den von Vince und beide zuckten ratlos mit den Schultern.
„Morgen gehen wir zusammen raus ok? Ich kann mir schon vorstellen, dass dir die Decke auf den Kopf fällt.“ Er stand auf und verschwand wieder in der Küche. „Hast du denn ein bestimmtes Ziel?“ rief er und begann die Zwiebeln klein zu schneiden.
„Ja, ich werde mir die Wohnung ansehen.“ antwortete Catherine trocken und las sich die umrahmte Annonce durch. Sicher hatte er Recht. Der Preis war vernünftig und die Größe ausreichend. Für sie allein. Ihr Herz begann heftiger zu schlagen. Allein, sie ganz allein. Sie hatte noch nie allein gewohnt. Das war sicher etwas ganz anderes, wenn niemand da war, der einen begrüßte, wenn man nach Hause kam. Im nächsten Moment musste sie über sich selbst lachen. Was sollte daran anders sein? Larry war doch auch nur selten da, wenn sie von Arbeit kam und begrüßt hatte er sie schon lange nicht mehr.
„Bist du sicher, dass du dafür schon fit genug bist?“ erkundigte Vince sich. „Nicht dass du dich überanstrengst.“
„Ach was.“ murmelte sie leise. „Das geht schon.“
Viel wichtiger war doch die Tatsache, dass sie sich überlegen musste, wie sie die Kaution aus dem Erdboden stampfte. Ihr Magen verkrampfte sich ruckartig.
„Vince! Wir müssen sofort in die Stadt! Ich muss zur Bank!“
„Zur Bank? Wieso? Die haben zu, sieh mal auf die Uhr.“
„Vince, ich muss an den Terminal. Für meine alte Wohnung läuft der Dauerauftrag noch und die buchen immer etwas vor dem ersten ab!“
Catherine warf die Zeitung auf den Tisch und kämpfte sich auf die Beine. Vince hingegen warf einen flüchtigen Blick auf den Kalender. Es war der 28te.
„Wie viele Tage?“ fragte er und wischte sich seine Hände am Handtuch sauber.
„Keine Ahnung, ein oder zwei.“
„Dann reicht es auch noch morgen. Setz dich jetzt. Der Monat hat einunddreißig Tage. Das klappt also auch morgen.“
Catherine überlegte kurz. Es war Larrys Wohnung. Sollte er also bitteschön auch dafür bezahlen. Aber Vince hatte Recht, wenn sie morgen den Dauerauftrag stoppte, würde es noch genügen.
„Au! Mist...“ vernahm sie aus der Küche und drehte sich zu Vince.
„Was ist? Hast du dich geschnitten?“
„Ach, ist nur halb so wild. Die Zwiebeln brennen nur so.“
„Lass uns lieber ein Pflaster drauf machen. Ich kann dir auch helfen.“
„Bleib sitzen!“ strafend richtete er seinen Zeigefinger auf Catherine, die sich gerade erheben wollte. „Ich mache das schon.“
„Vince kann gut kochen Tante Cathy. Mach dir keine Sorgen. Im Kindergarten schmeckt es auch immer sehr gut.“ versuchte Julian sie etwas aufzuheitern und strahlte über beide Ohren.
„Das habe ich mir schon gedacht, als ich hier das erste Mal mitgegessen habe.“ lächelte Catherine dem Jungen entgegen und machte es sich wieder bequem. Sie musste ja noch bügeln, also würde sie sich bis zum Essen damit die Zeit vertreiben. Und morgen würde sie ihrem Noch-Mann den Geldhahn abdrehen und sich die Wohnung ansehen. Catherine lächelte und begann das nächste Hemd auf dem Tisch auszubreiten.

„Komm schon geh endlich ran.“
Larry zog an seiner Zigarette und nippte kurz darauf an seiner Bierflasche. Es klingelte nun schon ewig und doch nahm Madeleine nicht ab. Sicher war sie noch sauer, weil er sie so grob behandelt hatte. Er wollte gerade auflegen, als doch jemand abhob.
„Was willst du?“ fauchte sie in den Hörer.
„Ich vermisse dich.“ säuselte er verführerisch in die Muschel und lehnte sich zurück.
„Ist das alles?“ fragte sie und war im Begriff aufzulegen.
„Liebes hör zu, es tut mir Leid. Ich hätte nicht so grob zu dir sein dürfen. Ich mache das nie wieder. Ich fühle mich so elend.“
Kurz herrschte Ruhe, dann vernahm er ein tiefes Durchatmen.
„Du hast mir verdammte Angst gemacht Larry. So kenne ich dich nicht.“
„Ich war so aufgebracht. Wegen deinem Chef und weil ich das Gefühl hatte, dass du mich verstoßen willst.“
Wieder vernahm er ein lautes Durchatmen.
„Larry ich brauche vorerst etwas Abstand. Ich bin mir nicht sicher...“
„Was soll das heißen?!“ sein Ton schwang ins aggressive um. „Willst du Schluss machen?! Madeleine, ich habe für dich mit meiner Frau Schluss gemacht!“
„Das weiß ich, Larry. Aber trotzdem, gib mir etwas Zeit. Ich muss nachdenken. Über uns.“
„Du kannst mich doch jetzt nicht allein lassen. Liebes, ich habe den Job bekommen. Das ist eine zweite Chance und ich möchte sie mit dir nutzen.“ Langsam beruhigte er sich wieder und versuchte krampfhaft eine liebenswürdigere Stimme zu erzwingen.
„Larry, bitte. Ich brauche etwas Zeit. Ich melde mich, gute Nacht.“
Das Klicken in der Leitung verriet ihm, dass sie aufgelegt hatte. Sie war also auch nicht anders. Wenn man sie beschenkte, sagte sie niemals nein. Aber machte er einen Fehler wurde er direkt Bestraft. Larry tobte. Diese Weiber waren ja doch alle gleich. Er leerte seine Flasche in wenigen Zügen und schaltete die Musikanlage ein. Er musste dringend auf andere Gedanken kommen, bevor er irgendetwas dummes tat. Er drehte die Musik noch etwas lauter und holte sich eine weitere Flasche Bier.

„Ich glaube er schläft.“ flüsterte Catherine Vince zu und schlich leise zum Schlafzimmer. „Kommst du?“
„Gleich. Ich gehe nur noch schnell duschen.“ wisperte er und winkte ihr leicht zu. Catherine verschwand indes im Schlafzimmer und schaltete die Nachttischlampe ein. Ihr Blick fiel auf das Schränkchen neben dem Bett. Er hatte das Kondom also gefunden. Sie begann süffisant zu grinsen und entkleidete sich bis auf die Unterwäsche. Vielleicht hatte er es sich ja wirklich anders überlegt. Sie kuschelte sich in die Bettwäsche und schloss die Augen.
Kurze Zeit später vernahm sie VinceŽ leise Schritte aus dem Wohnzimmer. Nachdem er sich neben sie gelegt hatte, öffnete sie die Augen und blickte ihn groß an. Nur schien er das nicht zu bemerken und so schaltete er das Licht aus.
„Gute Nacht.“ flüsterte er leise und deckte sich zu. Kurz herrschte Ruhe, doch Catherine brannte es so sehr unter den Nägeln, sie musste es unbedingt wissen.
„Vince?“ wisperte sie und legte ihren Arm auf die Decke.
„Hmm?“
„Ich hab deine Schmusehose mit gewaschen.“ sagte sie und wartete auf seine Reaktion.
„Ja, das habe ich gesehen. Danke, das war wirklich lieb von dir.“
Das war ja wohl nicht sein Ernst. Sie wollte dafür keinen Dank. Sie räusperte sich.
„Möchtest du vielleicht noch etwas trinken?“ fragte er sie und schaltete das Licht wieder ein.
Sie verzog die Augenbrauen etwas irritiert und blickte ihn an.
„Naja weil du dich so räusperst.“ erklärte er sich und schaute ihr nun auch ins Gesicht.
„Ich hatte es dort drüben auf deinen Nachttisch gelegt.“ versuchte sie ihm auf die Sprünge zu helfen und im nächsten Moment schaltete er das Licht ohne einen Ton zu sagen wieder aus.
Eine beklemmende Ruhe entstand und Catherine drehte sich zu ihrer Lampe um. Sie würde sich nicht im Dunkeln mit ihm darüber unterhalten. Sie schaltete ihr Licht an und drehte sich wieder zu ihm, um ihm direkt auf den Rücken zu gucken.
„Wieso drehst du dich weg?“ fragte sie zaghaft und strich ihm sanft über die Schulter.
„Ich weiß nicht.“ antwortete er nur knapp und zog die Decke etwas höher.
„Aber du weißt, wovon ich spreche oder?“
„Ich bin müde.“ bekam sie zur Antwort. „Lass uns schlafen ja?“
Catherine biss sich auf die Unterlippe. So leicht wollte sie sich nicht geschlagen geben. Sie wollte doch nur wissen, wieso er es bei sich getragen hatte.
„Hör mal...“
„Bitte Cathy!“ Rief er gepresst auf. „Ich mag nicht drüber reden. Ist schon schlimm genug, dass du es gefunden hast.“
Sie atmete durch. Es war ihm also peinlich, dabei war es doch gar nicht schlimm. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und sie kuschelte sich sachte an seinen Rücken.
„Ich wollte eigentlich nur wissen, wieso du es bei dir getragen hast.“ wisperte sie ihm zu und strich ihm über das Schulterblatt.
„Ich...“ stammelte er und sie fühlte, wie er sich ihrer Zärtlichkeit entzog. „Ich weiß es nicht. Lass uns bitte schlafen.“
Catherine nickte und zog sich auf ihre Betthälfte zurück. Sie war enttäuscht. Maßlos enttäuscht. Sie schloss die Augen und drehte sich um. Irgendwie hatte sie sich aus diesem Gespräch mehr erhofft, auch wenn er ihr schon einmal gesagt hatte, dass sie ihm noch etwas Zeit lassen sollte. Schließlich knipste sie das Licht aus und deckte sich wieder zu. Er hatte ja nicht mal bemerkt, dass sie heute nur in Unterwäsche neben ihm lag, dabei hatte sie sich mit voller Absicht an seinen freien Oberkörper geschmiegt. Vielleicht brauchte er ja wirklich mehr Zeit und sie sollte sie ihm auch lassen. Sie hatten morgen außerdem einiges vor, also war schlafen nicht die schlechteste Idee.
Vince lag wie angewurzelt neben ihr im Bett. Sein Herz raste und wenn diese Frau sich noch einmal erdreistete nur in Unterwäsche neben ihm zu liegen, dann wüsste er nicht, was passieren würde. Er war heiß und ja verdammt, es tat bereits weh. Wie sollte er so bitte schlafen? Mit diesem Zelt in der Hose?
\'Geflügelleber\' ging es ihm durch den Kopf. \'Schwabbelige Geflügelleber\' doch es wollte nicht recht wirken. Dabei war der Gedanke an dieses Zeug wirklich widerlich. Angestrengt dachte er nach, worüber sie sich wohl gerade Gedanken machte. Ihr Atmen hatte den Eindruck erweckt, als sei sie enttäuscht. Er grübelte weiter, bis er schließlich einen kleinen Schrecken bekam. Dachte sie vielleicht, dass er ständig Frauen abschleppte?! Oh Bitte, das konnte sie unmöglich von ihm denken! Aber was, wenn doch? Das konnte er doch nicht so stehen lassen. Eigentlich sollte sie aber wissen, dass er nicht so ein Typ Mann war. Aber vielleicht wusste sie das auch, bis zu dem Moment, als ihr dieses dumme Kondom in die Hände gefallen war. Und nun dachte sie vielleicht schlecht von ihm.
„Sicher ist sicher.“ flüsterte er und lauschte angestrengt. Vielleicht schlief sie ja auch schon.
„Was meinst du damit?“ hörte er sie aber schließlich sagen und sein Herz raste noch wilder. Die Matratze neben ihm sank wieder ein und er spürte, dass sie sich wieder zu ihm gedreht hatte.
„Na ja. Wenn es vielleicht mal, na ja. Falls wir vielleicht mal...“
Catherine begann leise zu kichern.
„Falls wir mal miteinander schlafen?“ versuchte sie ihm auf die Sprünge zu helfen und beugte sich noch etwas näher zu ihm herüber.
„Ja.“ antwortete er trocken und vergrub seine Zähne in der Unterlippe. Sein Herz raste noch immer und dieses dumme Zelt, es nervte. Catherine packte ihn an seiner Schulter und drehte ihn zu sich, um sich mit dem Kopf auf seine Brust zu legen.
„Mehr wollte ich nicht wissen.“ flüsterte sie und strich ihm sachte über den Bauch.
Kurz kehrte wieder Ruhe ein, als ihr plötzlich sein wildes Herzklopfen auffiel.
„Bist du aufgeregt?“ wisperte sie und versuchte in der Dunkelheit sein Gesicht zu erkennen. Immerhin ließ sich sein Kopfnicken erahnen und so strich sie ihm weiter über den Bauch.
„Musst du aber nicht sein, ich beiße nicht. Und wenn du sagst, dass du noch Zeit brauchst, dann ist das doch vollkommen in Ordnung.“ versuchte sie ihn zu beruhigen. „Ich finde das besser, nicht das wir etwas überstürzen.“
Ihre Worte beruhigten ihn etwas, auch wenn er sich ein wenig mehr Gegenwehr erhofft hatte. Im Prinzip müsste sie nur hartnäckig genug sein, er würde ihr sicher nachgeben. Schließlich war sie wirklich hübsch und ihre Unterwäsche ließ nur erahnen, was sich darunter verbarg. Sein Atem wurde intensiver. Er musste sie nur küssen oder ihr ein Zeichen geben, sie würde ihn nicht zurückweisen. Aber was, wenn es nicht klappte? Sein Herz überschlug sich fast. Was sollte er tun?
Phil würde ihn sicher ans Bett fesseln und erst wieder losbinden, wenn er es endlich mit ihr getan hätte. Vince schloss kurz die Augen und zog Catherine an sich heran. Was sollte das alles. Er wollte sie, sie wollte ihn, das Kondom lag in der Schublade. Warum also nicht?
Er strich ihr mit der Hand durch das Gesicht und gab ihr einen zärtlichen Kuss. Er spürte, wie ihr Bein an seinem entlang glitt. Gleich würde sie es merken. Sie würde wissen, dass er heiß war. Leise seufzte er auf, doch plötzlich öffnete sich die Schlafzimmertür und beide wichen an die äußersten Kanten des Bettes zurück.
„Julian, was ist los?“ fragte Catherine schließlich, als sie die kindlichen Umrisse erkannt hatte.
„Darf ich bei euch schlafen? Bitte?“
Sie vernahm, wie Vince laut durchatmete und überlegte kurz. Schließlich hob sie die Decke und klopfte neben sich auf die Matratze.
„Na komm schon her. Hast du schlecht geträumt?“
Julian hüpfte auf das Bett und legte sich zwischen Vince und Catherine.
„Nein aber ich kann einfach nicht einschlafen.“
„Bist du denn gar nicht müde?“ wisperte sie ihm zu.
„Nein, gar nicht.“ Julian packte nach VinceŽ Arm und legte ihn zu sich, anschließend nahm er noch CatherineŽs Hand und legte sie auf seine andere Seite. „Aber so wird es bestimmt gehen.“ flüsterte er noch und schloss die Augen.
„Dann gute Nacht euch beiden.“ flüsterte sie und zog die Decke wieder etwas hoch. Es wurde ruhig. Nach einiger Zeit blickte Vince zu seiner Linken und blies sich sachte etwas Luft durch das Gesicht. Sollte das ein Zeichen sein? Er überlegte. Es hätte doch alles irgendwie gepasst. Wieso also konnte Julian ausgerechnet heute nicht schlafen? Er drehte seinen Kopf wieder und stierte an die Decke. Das Licht der Straßenlaternen, das sich durch die Ritzen der Jalousie stahl, zeichnete dunkle Schatten und er grübelte weiter. Ihm war nicht klar, ob er lachen oder weinen sollte. Einerseits wollte er es und andererseits war es doch noch viel zu früh. Es galt also abzuwägen, welches Bedürfnis nun dringlicher war. Schlussendlich führte eh kein Weg zurück, es sei denn, er würde den Jungen wieder in die Stube bringen, sobald dieser eingeschlafen war. Gut und er müsste Catherine wieder wecken. Und dann müsste er wieder für diese Stimmung sorgen, die sie gerade eben noch hatten.
Der Gedanke war recht schnell zu Ende gedacht. Er musste schlafen, schließlich war er müde. So müde, wie man nach dem Genuss von zehn Tassen Kaffee, zwei Energiedrinks und fünf Coffeintabletten eben war. Verdammt, er war hellwach! Wie sollte er denn so schlafen? Und obwohl das Auftauchen von Julian abturnender war, als Geflügelleber, es hatte nur wenig geholfen. Er musste es also irgendwie zumindest ins Badezimmer schaffen. Oder zum Kühlschrank. Vielleicht brachte es ja etwas, sich Eiswürfel in die Hose zu stecken. Er geduldete sich noch knapp zehn Minuten und als er es endlich geschafft hatte, sich aus dem Zimmer in die Küche zu stehlen, war das Schlimmste bereits überstanden. Tief atmete er durch. Sollte es ihm nochmal in den Sinn kommen an solch schmutzige Dinge zu denken, während Julian noch bei ihnen war, so würde er sich selbst ohrfeigen. Er goss sich einen Schluck Saft in ein Glas und setzte sich an den Tisch. Was Catherine wohl gedacht hatte? Ob sie wusste, worauf er
aus gewesen war?

Catherine lag noch immer wach im Bett und strich Julian über die Hand. Allerdings war sie gedanklich eher damit beschäftigt zu ergründen, wie sie VinceŽ Reaktion einschätzen sollte. Wenn sie nicht wirklich alles falsch verstanden hatte, dann könnte sie schwören, dass er mehr wollte, als nur diesen zärtlich Kuss. Ihr war dabei ganz warm geworden. Immerhin hatten sie sich bisher noch nie so innig geküsst. Und sie war auch der Meinung, dass er enttäuscht gewirkt hatte, als sie Julian den Platz neben sich angeboten hatte. Wie tief er ausgeatmet hatte. Nein, sie hatte sich bestimmt nicht geirrt. Und zu allem Überfluss war er nun auch noch aufgestanden. Sicher hatte er gewartet, bis der Junge eingeschlafen war, bevor er gegangen war um wer weiß was da draußen zu machen. Sie war nicht müde, im Gegenteil.
Kurzerhand entzog sie Julian ihre Hand und stand auf. Unter der Schlafzimmertür drang kein Licht hindurch, also war es im Wohnzimmer wohl so dunkel wie hier. Leise schlich sie noch immer in Unterwäsche zur Tür.

Vince stellte sein Glas in die Spüle, als er ein leises Knacken vernahm und sich etwas verschreckt umdrehte.
„Was ist? Kannst du auch nicht schlafen?“ hörte er Catherine fragen und spürte ihren Atem direkt vor ihm.
„Nein.“ gab er nur knapp zurück und lehnte sich gegen die Küchenzeile. „Und warum bist du noch auf?“
„Ich wollte wissen, was du machst.“ wisperte sie und legte ihren Kopf auf seine Brust, in der sein Herz scheinbar wieder Achterbahn fuhr.
„Ich habe nur einen Schluck getrunken. Willst du auch etwas?“
Er wollte sich gerade wieder zum Schrank drehen, um ihr ein Glas heraus zu holen, als er ihre kleine, zierliche Hand in seiner spürte. Sie zog ihn weg. Weg von der Spüle, hin zum Sofa. Etwas widerwillig folgte er ihr jedoch und nahm Platz.
„Lehn dich an.“ flüsterte sie und er hatte ihrer Aufforderung noch nicht ganz Folge geleistet, als er plötzlich spürte, wie sie sich auf seinen Schoß setzte.
„Was tust du?“ fragte er leise und doch bestimmt.
„Shhht. Ganz ruhig.“
Ihre Hände umfassten sein Gesicht, als sie ihm zärtlich einen Kuss auf die Wange gab.
„Sag mir, dass du mehr wolltest.“ flüsterte sie ihm gegen die Lippen und begann ihr Becken gegen seines zu drücken.
Doch Vince schwieg. Kein Wort würde ihm über die Lippen kommen. Wie konnte sie ihn so quälen? Wusste sie nicht, wie sich das anfühlte? Es war zum verrückt werden.
„Sag es!“ wisperte sie nun etwas bestimmter und küsste ihn direkt auf den Mund. „Wolltest du mehr?“
„Was machst du denn da?“
Seine Stimme klang zittrig und erregt. Sie hatte also Recht, er hatte mehr gewollt.
„Warum sagst du nichts, wenn du Lust hast?“
„Ich weiß nicht was du meinst.“ log er sie an, doch Catherine hatte den Braten gerochen.
„Und ob du das weißt.“ Sie griff nach seinen Händen und legte sie auf ihren Hintern.
„Nicht!“ presste er gedrungen heraus und doch war es wie eine Ohnmacht, die ihn daran hinderte sie wieder weg zu nehmen. Diese Frau machte ihn verrückt. Wenn sie nicht sofort damit aufhörte, würde er durchdrehen.
Ein leiser Seufzer entwich ihm und schließlich legte er seinen Kopf nach hinten auf die Rückenlehne. Es war zu gut, er konnte nicht widerstehen. Sie hatten beide noch etwas an, auch wenn es nicht viel war. Also sollte sie sich ruhig etwas an ihm austoben. Er spürte ihre gleichmäßigen Bewegungen und schon kurze Zeit später ertappte er sich selbst dabei, wie er sie mit seinen Händen dazu antrieb nicht damit aufzuhören.
Plötzlich hielt sie inne.
„Willst du?“ flüsterte sie ihm erregt entgegen.
„Bitte Cathy, hör nicht auf.“
„Zieh dich aus.“ sie war im Begriff aufzustehen doch er zog sie schnell wieder auf seinen Schoß.
„Bitte hör nicht auf.“ wiederholte er nochmal und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. Catherine nickte leicht und rutschte wieder auf seinen Schoß. Er war bei weitem noch nicht so weit, sie spürte es. Aber er wollte sie. Irgendwie kam sie sich schlecht vor. Weil sie ihn überrumpelt hatte. Andererseits hätte er es wahrscheinlich mit ihr getan, wenn Julian sie nicht unterbrochen hätte. Er hätte es wohl für sie getan, obwohl er eigentlich noch nicht bereit war. Aber das sollte jetzt erst mal keine Rolle mehr spielen. Sie drückte sich so nah wie möglich an ihn heran und küsste ihn innig. Seine Stimme brachte einen zittrigen Seufzer hervor, um im nächsten Moment fast daran zu ersticken.
Vince spürte, wie es in ihm brodelte. Es wurde immer mehr und immer schlimmer und schließlich riss er erschrocken die Augen auf, als ihn der Wecker unsanft aus seinem Traum riss.








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