Skinny Love - Teil 2

Autor: LovelyMe
veröffentlicht am: 21.06.2013


Und voila - der nächste Teil :)

Kapitel 1 – die Momente

Müde blinzelte ich der Sonne entgegen. Ich musste eingeschlafen sein. Ich drehte meinen Kopf und sah meinen Bruder Timmy friedlich in seinem Kindersitz schlafen. Er war gerade drei Jahre alt geworden, und sah mit seinen blonden Locken wie ein Engel aus. Zumindest wenn er schlief. Meine Mutter Dorothee sass vorne, auch sie schlief und eine ebenfalls blonde Locke hing ihr ins Gesicht. Mein Blick wanderte in den Rückspiegel und traf den meines Vaters. Fältchen bildeten sich um seine silber-grauen Augen und er zwinkerte mir zu. Dann heftete sich sein Blick wieder konzentriert auf die Strasse. Ich blickte mich kurz um, um auszumachen, wo wir uns gerade befanden. Nach einer Weile musste ich mir eingestehen, dass ich nicht herausfinden würde, wo wir waren und ich legte mich wieder auf das weiche Kissen und schloss die Augen. Ich liess die letzten Wochen Revue passieren. Wie jedes Jahr fuhren wir an den Lake Gilbert um die Sommerferien dort zu verbringen. Seit meiner frühsten Kindheit verbrachten wir die warmen Tage an diesem schönen Ort. Ich liebte ihn. Im Moment befanden wir uns auf der langen Rückreise. Der Sommer war schon beinahe wieder vorbei und das nächste Schuljahr würde nächste Woche beginnen. Ich seufzte tief und versuchte mich an den See zurückzudenken. Nach einer Weile schlief ich wieder ein, mit den Gedanken immer noch im Urlaub. Ohne zu wissen, dass es der letzte gemeinsame Urlaub war.

„Daddy?“, hörte ich mich flüstern. Ich betrat leise den abgedunkelten Raum. Ich hörte die Herzmaschine und das Zischen der Beatmungsmaschine. Es roch nach Desinfektionsmittel und Tod. Vorsichtig näherte ich mich der abgemagerten Gestalt in diesem scheinbar viel zu grossen Bett. Ein kleines Nachtlicht brannte und ich konnte Schemenhaft Daddy’s eingefallenes Gesicht erkennen. Grosse, glanzlose Augen starrten mich an. Ich musste mich zusammenreissen, um nicht aufzuschluchzen. Sachte legte ich die Hand auf die meines Vaters. Ich wusste, er würde sterben, ich hatte nur gehofft, dass es nicht so bald sein würde. Es waren keine acht Monate vergangen seit unserem Urlaub, doch mein Dad war nicht mehr Derselbe. Ich sah vor mir nicht mehr meinen grossen, starken Vater mit den grauen, ausdrucksvollen Augen und dem steten Lächeln auf den Lippen. Vor mir lag ein alter, zerbrechlicher, vom Krebs zerfressener Mann. Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und ein leises Schluchzen kam aus meiner Kehle. Mein Vater versuchte mit dem Daumen meine Knöchel zu streicheln und das war das Tröstlichste, das ich in den letzten Monaten erleben durfte. Ich legte meinen Kopf vorsichtig auf seine Brust und liess meinen Tränen freien Lauf. „Daddy, du darfst nicht gehen. Du darfst mich nicht verlassen“, schluchzte ich. Er streichelte nach wie vor meinen Knöchel. Eine Weile lag ich so da und weinte, bis ich den monotonen Klang der Herzmaschine hörte – sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.

Ich rutschte auf der hölzernen Bank hin und her, mein Hintern tat mir weh. Der Pfarrer predigte, doch ich hörte nicht zu. Mein Blick haftete auf dem Mahagonifarbenen Sarg. Er war mit weissen Orchideen geschmückt und ich wusste, dass Daddy dort drin lag. Timmy zupfte an meinem Rockzipfel. Er war gerade vier geworden. „Ich muss Pippi, Ana“, flüsterte er mit grossen Augen. Im Arm hielt er einen kleinen Stoffbären, der Papa ihm geschenkt hatte. Meine Mutter sass nostalgisch auf der Bank, rührte sich nicht, daher nahm ich meinen kleinen Bruder an der Hand und führte ihn zur Toilette. Ich half ihm sein Geschäft zu erledigen. Als wir in die Kirche zurück kamen, war niemand mehr da. Vermutlich war die Trauergemeinde draussen, um sich für die Beisetzung bereit zu machen. Ich wollte mich gerade umdrehen, als ich den mahagonifarbenen Sarg erblickte. Ich haderte einen Moment, ehe ich mich dazu entschloss. Ich lief langsam auf den Sarg zu. Ich vergass alles um mich herum, vergass, dass ich meinen kleinen Bruder an der Hand hatte. Als ich vor der letzten Ruhestätte meines Vaters stand, berührte ich ehrfürchtig den Sarg. Er fühlte sich glatt und kalt an. Ich hielt die Luft an und hob den schweren Deckel nach oben. Zu meiner Überraschung lag dort zwischen dem roten Samt nicht der alte, eingefallene Mann, der vor zwei Wochen in meiner Anwesenheit starb. Dort lag mein Vater und er sah aus, als würde er schlafen. Ich schluckte schwer und ich hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. „Ana?“, hörte ich eine leise Kinderstimme sagen. Gedankenverloren drehte ich mein Gesicht zu dem kleinen Jungen. „Ana, ist das Daddy dort drin?“ Ich nickte. „Darf ich… darf ich ihn sehen?“ fragte er leise. Ich überlegte kurz, dann nahm ich ihn auf den Arm, damit er in den Sarg schauen konnte. Er konnte sich nicht richtig verabschieden, da es für ihn eine Zumutung gewesen wäre, wenn er seinen Vater sterben gesehen hätte. Timmy guckte auf unseren Vater nieder und sagte dann: „Er sieht aus als würde er schlafen“. Ich nickte wieder und erwiderte: „Er schläft jetzt für immer“. Timmy guckte mich mit grossen Augen an, ehe er seinen Stoffbären in den Sarg legte. Ich guckte ihn fragen an. „Papa braucht auch jemanden, der ihn beschützt und tröstet wenn er angst hat“, sagte Timmy mit einer hohen, kindlichen Stimme. „Dort wo Papa jetzt ist, hat er keine Angst mehr“, erwiderte ich gerührt von seinen Worten. Mein Bruder dachte einen Moment nach. „Jeder braucht einen Freund“, sagte er leise. Darauf wusste ich nichts mehr zu sagen und ich liess Timmy auf den Boden. Ich warf einen letzten Blick auf meinen starken Papa, richtete das Stofftier und schloss behutsam den Sarg. Dann verliess ich mit Timmy an der Hand die Kirche – und seither habe ich sie nie mehr betreten.






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