Crystal - Teil 2

Autor: Yana328
veröffentlicht am: 28.05.2013


1. Kapitel
Es war der letzte Schultag. Miriam – meine beste Freundin – und ich saßen gelangweilt in der Schule und ließen die letzten paar Stunden Unterricht über uns ergehen. Ich kritzelte gelangweilt kleine Kreise auf meinen Block und Miriam starrte Löcher in die Luft. Dabei hing ihr dunkelblondes Pony so tief in der Stirn, dass ich mich manchmal wunderte, wie sie überhaupt noch etwas sehen konnte.
„Wie lange dauert das hier denn noch“, stöhnte sie gelangweilt auf und zog somit die ganzen Blicke unserer Mitschüler auf sich – und natürlich den des Lehrers.
„Miss Jackson! Wenn Sie meinen Unterricht so langweilt, begeben Sie sich doch bitte raus auf den Flur. Vielleicht finden Sie dort ja mehr Unterhaltung!“ Leise murmelte Miriam etwas vor sich her, senkte den Kopf und ließ ihre glänzende Haare wie ein Vorhang seitlich ins Gesicht fallen, sodass niemand sehen konnte, dass sie sich ein Lachen verkneifen musste.
Das war typisch für sie. Nicht, dass ich sagen wollte, dass sie eine sehr aufmüpfige Persönlichkeit war. Sie hatte lediglich keinen Respekt vor dem über zwei Meter großen, schlaksigen Mann, der vorne an der Tafel stand, die eckige Brille auf der Nase, überall Kreide auf der schwarzen Hose und der als tollpatschigster Lehrer der ganzen Schule bekannt war. Dass er nicht sonderlich viel Autorität ausstrahlte lag wahrscheinlich auch daran, dass er sich stets nach vorne beugen musste, um durch die vergleichsweise niedrigen Türrahmen unserer Schule zu gelangen. Hinzu kam, dass er wahrscheinlich während seiner Jugend einen schlimmen Stimmbruch durchmachen musste und diesen scheinbar niemals hinter sich gelassen hatte.
Miriam war die letzte, die sich über solche Lehrer lustig machte – deswegen grinste sie ihm nicht knallhart ins Gesicht. Sie hatte einfach nur Schwierigkeiten nicht über seine – ich zitiere sie - „Chipmunks-Stimme“ zu lachen.
„Du solltest echt lernen, dich zusammen zu reisen“, rügte ich sie, als die Unterrichtsstunde zu Ende war und wir über den Flur schlenderten. Nur noch vier Stunden, dann konnten wir dieses schrecklich stickige Gebäude verlassen. Es war gerade einmal Mai, doch trotzdem flirrte die Hitze über unsere kleine Stadt und schien allen den Atem zu nehmen. Kaum zu glauben, dass unser Direktor uns nicht ein paar Tage früher in die Ferien entlassen konnte.
„Jaja, du hast Recht“, sie wedelte mit der Hand, um eine Mücke zu verjagen, die sich in das Schulhaus verirrt hatte. „Aber nun mal was anderes. Du meintest heute Morgen, dass der Geschäftspartner deines Vaters schon heute kommt, oder? Da bleibt uns nicht einmal ein Abend zu zweit, wo wir auf die Ferien anstoßen können! Was machen wir denn jetzt?“ Frustriert schlug sie die Hände zusammen. „Und ich dachte wir gehen etwas in die Stadt, feiern, das Wetter genießen. Du musst sicherlich den Abend mit deiner Familie und den anderen Leuten da verbringen oder?“ Sie linste in meine Richtung, redete aber sofort weiter. „Wie lange bleiben die nochmal bei euch, hast du gesagt? Drei Monate?“ Sie schüttelte den Kopf. „Kaum zu glauben, dass dein Vater schon wieder euren gemeinsamen Urlaub für seine Geschäfte sausen lässt. Aber keine Sorge, wir machen uns trotzdem ein paar schöne Wochen, auch wenn wir... wie hast du den Sohn des Geschäftspartners in deiner Erzählung noch einmal genannt? Dicker Stinke-Peter?“ „Fettleib-Stinke-Hans-Peter“, verbesserte ich sie. Sie musterte mich einen Moment verwirrt, als hätte sie bereits vergessen, dass sie mich etwas gefragt hatte und als wunderte sie sich nun, was ich ihr mit diesem Wort sagen wollte. Ich musste lächeln. So war sie immer, wenn sie total überdreht war.
„Wie auch immer“, fuhr sie fort. „Was ich eigentlich sagen wollte ist, dass ich dich nicht im Stich lassen werde und wir uns trotzdem amüsieren werden, auch wenn wir diesen Kerl an der Backe haben. Notfalls packst du deine Sachen und versteckst dich bei mir. Dann überlassen wir den Stinke-Peter seinem Schicksal und gehen ordentlich feiern. Was hältst du davon?“ Ich machte mir nicht einmal die Mühe zu antworten. „Du könntest auch das Konto deines Vaters plündern und wir machen einen schicken, dicken Urlaub auf Griechenland oder Ibiza. Das wäre doch auch eine super Idee, oder? Dort würde uns sicherlich niemand so schnell finden. Außerdem...“ Miriams Redeschwall ging noch den ganzen restlichen Schultag so weiter. Selbst im Unterricht flüsterte sie mir aufgeregt Sachen zu und schmiedete Pläne für unsere Ferien, auf die ich mich trotz ihrem Enthusiasmus nur mäßig freuen konnte. Es wäre alles nur halb so wild, wenn der Geschäftspartner ohne Familie angereist käme. Doch gleich mit Sack und Pack... da blieb wieder jede Menge Arbeit an mir hängen. Nicht nur, dass ich mich täglich um den Sohn kümmern musste, sondern dass es auch meine tägliche Pflicht war am Abendessen teilzunehmen – und das hübsch gestylt, so wie es meine Mutter und die Devise verlangte. Wunderbar. Schlimmer konnte es einfach nicht kommen.

Dachte ich zumindest. Heute weiß ich, dass es immer schlimmer kommen kann. Und es kam schlimmer. Es kam viel schlimmer. Tausendmal schlimmer. Unvorstellbar schlimmer.
Jedenfalls empfand ich es so.
Natürlich war es eigentlich nicht so furchtbar, wie es mir vorkam. Doch meine Laune war sowieso schon im Keller, so etwas wie Freude empfand ich trotz den dreimonatigen Ferien erst gar nicht und überhaupt steckte in mir kein einziges positives Gefühl mehr als der Abend immer näher rückte. Als schließlich dann meine Mutter kurz vor der Ankunft der Gäste in meinem Zimmer auftauchte – natürlich unangemeldet, ohne zu klopfen – und verkündete, dass der Sohn der Familie auch noch seine Freundin mitbringen würde, war es endgültig vorbei für mich. Kurz nachdem sich meine Zimmertür wieder geschlossen hatte und ich alleine war, setzte ich mich mit dem Duschhandtuch, das ich noch umgeschlungen hatte, auf mein Bett und versank in tiefes Selbstmitleid.
„Nur für ein paar Minuten“, sagte ich zu mir selbst und vergrub das Gesicht in die Hände und fluchte vor mich hin, verfluchte meinen Vater, mein Leben, überhaupt die ganze Welt.
Und nachdem ich den Frust vor mich hingespuckt hatte, ging es mir schon ein klein wenig besser. Vielleicht würde das alles gar nicht so schlimm werden. Vielleicht war es ein gutes Zeichen, dass der Kerl eine Freundin hatte. Das hieß, dass er gar nicht so übel sein konnte, außer seine Freundin litt an Geschmacksverirrung. Und das wiederum hieß, dass ich mich mit den beiden blicken lassen konnte, ohne im Erdboden versinken zu wollen.
Andererseits hatte ich nun zwei an der Backe kleben. Das würde sicherlich immer endlose Diskussionen geben, weil jeder auf etwas Anderes Lust hat. Sie will in die Stadt einkaufen, er will den Aston Martin meines Vaters begutachten. Sie will nicht spazieren gehen, er aber schon.
Und so weiter. Ich sah das Chaos schon förmlich vor mir.
„Na wunderbar“, murmelte ich. „Nun kann es aber wirklich nicht noch schlimmer kommen.“ Wenn das Schicksal in diesem Moment eine menschliche Person gewesen wäre, es hätte reden und lachen könnte, dann hätte es sicherlich „Ätsch, kann es doch“ zu mir gesagt, mich lautstark ausgelacht, mir frech die Zunge rausgestreckt und als Höhepunkt noch eine Grimasse gezogen. Darauf würde ich heute noch wetten.
Doch zurück zu diesem Abend.
Nachdem ich mein Selbstmitleidsbad beendet hatte, kramte ich aus meinem Kleiderschrank ein dunkelblaues Kleid hervor. Es hatte einen leichten V-Ausschnitt und war generell ziemlich knapp bemessen. Der weiche Saum wellte sich nur knapp bis über meine Knie und auch am Rücken konnte man auch genug Haut sehen, da es weit ausgeschnitten war.
Das würde meine Mutter sicherlich auf die Palme bringen, denn sie hasste es, wenn ich mich so freizügig zeigte. Und sie zu provozieren war heute einfach zu verlockend. Ich hatte ja sonst nichts, worüber ich mich erfreuen konnte. Da war ihr wutentbrannter Blick wenigstens etwas, das mich zufrieden stellen konnte, denn wenn sie sich provozieren lies, war das ein klarer Sieg für mich.
Mit einem fiesen Grinsen im Gesicht schleuderte ich das Handtuch auf mein Bett und streifte den weichen Stoff über, der sich wie eine zweite Haut an mich schmiegte. Dazu kramte ich meine beigefarbenen Sandaletten hervor, die einen geschätzten zehn Zentimeter hohen Absatz hatten und somit meine schlanke Figur noch ein wenig betonten. Anschließend verschwand ich im Bad, bearbeitete meine dunkelbraune, brustlange Haare mit dem Lockenstab, glättete das Pony und schminkte meine Augen. Danach noch etwas Puder. Ein darauffolgender Blick auf die Uhr sagte mir, dass die Gäste schon eingetroffen sein mussten und bestimmt bereits im Salon einen Aperitif zu sich nahmen. Perfekt.
Also verließ ich das Badezimmer, betrachtete mich nochmals in dem großen Spiegel, der an meinem eichenhölzernen Kleiderschrank befestigt war, zupfte mich noch etwas zurecht und trat schließlich aus meinem kleinen, aber gemütlichen Zimmer. Auf dem Flur wandte ich mich nach rechts, über den knarrenden Dielenboden hinweg zu der Wendeltreppe, die nach unten führte.
Viele Besucher waren sicherlich überrascht, dass wir, die Huningtons, in einem so alten Haus wohnten, wenn wir doch so viel Geld durch die Arbeit meines Vaters hatten. Doch wenn man das Gebäude genauer besichtigte, verstand man, warum wir dieses Anwesen, das bereits von Generation zu Generation weiter vererbt wurde, nicht aufgaben als es in unsere Hände fiel. Statt es weiter zu verkaufen, wie es der anfängliche Wunsch meiner Mutter gewesen war, ließ mein Vater das damals schon fast vergammelte Haus restaurieren. Es kostete nicht nur wahnsinnig viel Geld – wahrscheinlich mehr, als wenn wir uns ein ähnliches gekauft hätten – sondern auch unglaublich viel Zeit. Ich konnte mich noch genau an die ersten Jahre hier erinnern, die wir mehr in einer Baustelle als in einem gemütlichen zu Hause verbracht hatten.
Doch der Aufwand hatte sich letztendlich gelohnt. Aus dem klapprigen Anwesen war ein ordentliches, stabiles, bewohnbares zu Hause geworden mit dem selbst meine Mutter zufrieden war – und das sollte etwas heißen. Viele Zimmer des Hauses konnten so erhalten bleiben, wie sie schon seit Generationen Bestand hatten – darunter mein eigenes, der Salon, das Büro meines Vaters und die vier Zimmer in der Etage, die wir als Schlafsäle für Gäste nutzten. Auch wurden in den Fluren, die die einzelnen Räumen sowohl im oberen Bereich des Hauses, als auch im unteren verbanden, so gut wie möglich erhalten. Die Dielen wurden nicht ausgewechselt, was das knirschen erklärte, wenn man leise und unbemerkt durch das Gebäude huschen wollte, und auch die hölzernen Säulen, die die Decke stützten, wurden während der Renovierung zufrieden gelassen.
Nur die Küche und das Wohnzimmer hatte man vollständig renoviert und anschließend noch einen großen Wintergarten angebaut. Dabei hatte man sich allerdings bemüht, nicht zu sehr vom Stil des übrigen Hauses abzuweichen – was allerdings nur zum Teil gelungen war.
Trotz allem liebste ich dieses Gebäude.
Als ich die Treppe hinter mir gelassen hatte, suchte ich den Salon auf, hielt vor der geschlossenen Tür inne und lauschte den Stimmen, die durch sie hindurch drangen. Die meiner Mutter war leicht auszumachen. Sie zwitscherte fröhlich auf ihre Gäste ein, bot ihnen Champagne vom Feinsten und frisch von unserer Köchin zubereitete Häppchen an. Dann konnte ich noch eine mir unbekannte tiefe und hart klingende Stimme erkennen, die wohl zu dem Geschäftspartner meines Vaters gehören musste, und eine weiche, eher leise und zarte Stimme, die ich dessen Frau zuordnete. Weitere Personen konnte ich nicht vernehmen.
Ich atmete noch einmal tief ein und aus, und stieß schließlich die Tür auf.
Von einem Moment auf den anderen verstummten jegliche Gespräche und alle Blicke huschten zu mir. Als erstes nahm ich meine Mutter war, die am nächsten zu mir stand, mit einem Sektglas in der rechten Hand und einem Blick, als wollte sie mir an die Gurgel gehen. In ihren Augen sah ich deutlich den Zorn aufblitzen, als sie erst mein Outfit von oben bis unten abfällig musterte und anschließend einen Blick auf die Uhr warf und feststellte, dass ich eindeutig zu spät dran war. Ich ignorierte ihren Versuch mich zur Strafe nieder zu starren und wandte mein Gesicht zu meiner Rechten, wo mein Vater stand und seine Frau besorgt betrachtete. Es schien als würde er ernsthaft überlegen, ob er sich zwischen sie und mich stürzen sollte, aus Angst sie würde sich jeden Moment mit lautem Gebrüll über mich her machen.
Dann passierten zwei Dinge auf einmal. Nachdem ich auch die zwei mir fremden Erwachsenen gemusterte hatte – die Frau war recht klein, zierlich, mit knallrot geschminkten Lippen, hatte Rouge bis hinter die Ohren aufgetragen, eine Haltung als hätte sie einen Besen gefressen und den Blick arrogant gerade gerichtet, der Mann war eher das Gegenteil mit seinem Medizinball großen Bauch, der auffällig über seine eng geschnürten Cordhosen hing, und seiner eher gräulichen Gesichtsfarbe und fettig glänzenden Haut (in meinem Kopf schwirrte für einen Moment der Spitzname Fettbierbauch für ihn herum und der Gedanke, dass ich Amok laufen würde, wenn der Sohn genau so grässlich wie sein Vater war), hinzu kam dieses widerlich gierige Grinsen, als sein Blick meinen Hals bis zum Ausschnitt meines Kleides hinunter wanderte – wandte ich nun meinen Blick den zwei Personen zu, die eher unauffällig und eng beieinander im hinteren Teil des Raumes standen.
Es durchfuhr mich ein eiskalter Blitz als der Junge seinen Blick hob und den meinen auffing.







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