Nell - Teil 2

Autor: Caprice
veröffentlicht am: 27.05.2013


Als Nell ihre Augen aufschlug hörte sie die nervöse, männliche Stimme, die die ganze Zeit in ihr Bewusstsein gedrungen war, ohne dass es ihr wirklich bewusst vorkam. Seine Stimmfarbe hatte etwas melancholisches. Den Rücken ihr zugeneigt, sprach er zu seinem Telefon. Vor Schreck wäre ihm das Teil beinahe aus der Hand gerutscht. Der Mann, der ausgesprochen gutaussehend war, hatte sich in ihre Richtung geneigt und starrte sie mit geöffnetem Mund an. Ungefähr eine Minute verharrte er in dieser Position und starrte, als wäre Nell eine Fata Morgana- nicht real, aber zu real, um eben keine zu sein. „Hat sich erledigt.“ KLICK- Aufgelegt. Ihre Augen waren Orange. Nein, bernsteinfarben. Wenn das besser klingt. Sie hatten die Farbe der Sonne. „Ich dachte du wärst tot?“ Offensichtlich erfreut darüber, dass dem nicht so war, atmete der Mann erleichtert auf. War das eine Frage?, dachte Nell und blickte ungläubig zu ihm auf. „Alles inordnung? Geht`s dir gut? Kannst du aufstehen?... Ja, mensch sag doch was?“ Nell fühlte sie gleich unsicher. So fing es meist an. Mit ihren Fingern umschloss sie Charlie, den sie immer in ihrer Jackentasche mit sich trug, als wolle sie sich vergewissern, dass das Plüschtier noch da war, oder wenigstens wissen, dass sie sich an ihm festhalten konnte, wenn eine Situation mal wieder beklemmend wurde. Und so achtete Nell nicht mehr auf den besorgten Mann, der immer noch nicht aufhörte zu ihr zu sprechen. Vergeblich, wie er sehr bald feststellen sollte. Nell dagegen konzentrierte ihren Blick in die schmale Auffahrt am ende der Straße. Die Männer die sie verfolgt hatten waren fort. Die Auffahrt leer und düster, wie die Nacht, die sie umgarb. Nicht mehr ganz so gequält nahm sie einen tiefen Atemzug, wenngleich sie sofort ahnte, dass es nicht vorbei sein würde. Die vorläufige Erleichterung über ihr entkommen war ebenso von kurzer Lebensdauer, wie der Versuch bei Bewusstsein zu bleiben. Beim Sturz auf den Asphalt hatte Nell sich den Kopf angeschlagen. Erst jetzt bemerkte sie die Schmerzen. Viel zu heftig für ihr Empfinden. Erschöpft ließ sie sich zurück fallen. „Hey..? HEY..? Nicht einschlafen,bleib bei mir..., verdammt!“
„Ich brauche sofort einen Arzt!“ Jack betrat die lichtdurchflutete Eingangshalle der Notaufnahme.
„Was ist passiert?“ Fragte einer der bekittelten Menschen und wies seine Leute sofort an eine Trage herzuschaffen. „Ich habe sie angefahren.“ Der Blick des Oberarztes sagte mehr als tausend Worte. „Jetzt guck nicht so dämlich, helf ihr!“ Als Jack die Frau, die er nicht kannte, aus seinen Armen auf das Fahrbare, metalische Bett, das zwei Schwestern vor sich herschoben legte, fühlte er sich furchtbar. Furchtbar leer. „Sie können dort hinten im Wartezimmer platz nehmen. Wir informieren Sie sobald wir näheres über ihren Zustand wissen.“ Die zierliche Schwester deutete auf einen abgeschirmten Bereich am Ende des Korridors. Ihre Stimme hatte etwas beruhigendes. „Du meine Güte, das ist ja Nell!“ Hörte Jack die erschrockene Stimme einer anderen Krankenschwester und machte auf dem Absatz kehrt.Zuspät. Sie waren schon durch die große Schwingtür zu den Untersuchungsräumen verschwunden. Jack stöhnte gequält. Nach einer Stunde der Ungewissheit kam endlich jemand zu ihm. „Herr Burg?“ „Hier!“ Ruckartig sprang er von seinem Stuhl auf, der daraufhin nach hinten kippte und zu Boden fiel. „Wie geht es ihr?“ Es war die Frau, die Nell erkannt hatte. „Ihr geht es gut, nur eine leichte Gehirnerschütterung. Sie hatte großes Glück.“ Anwortete die Schwester. Erleichtert fuhr sich Jack übers Gesicht, das einen ungesunden, kalkigen Farbton angenommen hatte, der jetzt langsam zu verschwinden schien. „Sie können zu ihr wenn sie wollen, sie ist wach.“ „Ich halte das für keine gute Idee.“ Wog er ab und gab seine bedenken zum Ausdruck. Dabei fiel ihm auf dass er die ganze Zeit alleine im Wartezimmer geseßen hatte und fragte sich, ob es nicht mehr üblich sei, dass Verwandte in jener Situation informiert wurden, die dann kamen? „Wo sind ihre Eltern, sollten sie nicht hier sein?“ Die Miene der Schwester verschärfte sich. „Sie hat eine Tante. Katharina ist allerdings zur Zeit geschäftlich in Russland.“ „Sie kennen ihre Tante?“ „Ja, wir sind Freunde.“ „Und die Frau? Wer ist sie?“ „Sie meinen Nell?“ Jack nickte zögerlich. „Aber ja, ich kenne sie, jeder hier kennt sie.“ „Jeder?“ Jack verzog ungläubig sein Gesicht. „Sie wissen wirklich nicht wer sie ist, oder?“ „Nein, das habe ich ihnen doch bereits gesagt.“ So langsam wurde er ungeduldig. „Eduardo und Maria James. Sagen ihnen diese Namen auch nichts?“ Einen Moment musste Jack überlegen. Dann ging ihm mehr Licht auf, als ihm lieb war. „Sie meinen die Biologen?“ Diesmal nickte die Schwester und Jack erinnerte sich. 1987. Der Fall wurde damals wegen einer defekten Bremsleitung heiß umstritten. Manche sagen dass es Mord war, andere wiederrum sind davon überzeugt, dass es sich um einen tragischer Unfall handelte. Der Fall wurde als unaufgeklärt und wegen mangelnder Beweise zu den Akten gelegt. Jack verstand immer noch nicht. Was hatte das alles mit Nell zu tun? Der Vorfall lag schließlich Jahre zurück. Vielleicht wollte er es aber auch nicht verstehen, denn während die Schwester weitersprach, wusste Jack instinktiv worauf sie hinaus wollte. Nell James. Sie ist es also wirklich.„Ich kann nachvollziehen, wenn sie jetzt nicht mehr zu ihr wollen. Es ist nicht leicht mit jemandem zu sprechen, der keine Antwort gibt. Andereseits wäre es schön, wenn sie gerade in diesem Moment jemanden hätte, der bei ihr ist.“ Einen Moment war es still. „Überlegen sie es sich in ruhe und wenn sie sich entschieden haben, möchte ich sie bitten dieses Ding vorher verschwinden zu lassen.“ Sie deutete auf seinen rostfarbenen Pistolengurt. Das Ende einer mattschwarzen P99 DAO ragte an die Oberfläche. „In Ordnung.“ Antwortete er geistesabwesend. Immer noch in Gedanken stolperte Jack aus dem Krankenhaus. Am Auto angekommen wollte er einsteigen und fahren, doch irgendetwas hielt ihn davon ab. Nach einer Weile und aus Gründen, die er sich nicht erklären konnte, klappte er schließlich das Handschuhfach auf und verstaute seine Waffe darin. Die Schwester, die übrigens Jasmin hieß, wartete bereits auf ihn und führte Jack eine Treppe hinauf, durch einen schmalen Gang mit vielen Türen rechts und links. Beim Hineingehen in das Krankenzimmer sah er sich zuerst um. Die Wände waren in einem fröhlichen Gelb gestrichen, was den Eindruck vermittelte, dass man überall war, nur nicht in einem Krankenhaus. Jack erwartete keine Reaktion, als er die Tür hinter sich zu zog, vor der die blonde Krankenschwester stehen geblieben war. Dennoch reagierte die Frau in dem Bett und neigte den Kopf in seine Richtung. Ihr skeptischer Blick durchbohrte sein Antlitz. Zaghaft ließ sich Jack auf dem wackeligen Stuhl vor ihrem Bettgestell nieder und faltete seine Hände übereinander. „Ich weiss nicht, ob du dich erinnerst...“ Begann er vorsichtig. „... aber ich bin der Vollidiot, der dich angefahren hat.“ Nells Augen wurden glasig. „Mein Name ist übrigens Jack.“ War das ein Lächeln?, dachte er und schaute intensiver hin. Nell war so unglaublich schön. Ihr Blick wanderte in die Ferne, die sich langsam in Tag umwandelte. Sie war froh, dass dieser Mann bei ihr war, auch wenn Nell dies nicht zeigen konnte und nicht wusste weshalb dem so war, aber sie fühlte sich sicher, sicherer denn je. Seufztend starrte Jack auf seine Fußspitzen. So hatte er sich seinen ersten Urlaubstag nicht vorgestellt. Während er stumm die Bilder an den Wänden betrachtete, die alle vom Meer erzählten, schweift er in Gedanken ab. Wie hätte sein Tag ausgesehen wenn nur nicht? Ja, wenn nur nicht. Und ganz tief, in seinem Inneren, musste er sich eingestehen, dass dieser Tag, diese Begegnung genau das war, was er brauchte und mehr noch...






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