Nell

Autor: Caprice
veröffentlicht am: 25.05.2013


„Du darfst ihn nicht verlieren, hörst du?“ Die melodische Stimme der Frau hatte etwas bedeutsames. Das Mädchen nickte schluchztend und drückte den Plüschaffen fest an die Brust. „Versprichst du es mir? Tust du das für Mami?“ Wieder nickte das Mädchen mit den bernsteinfarbenen Augen, die sie auf ihren leblosen Vater richtete. Er saß neben ihrer Mutter im Fahrersitz. Sein Kopf lag behütet auf der Lenkradmitte. Es wirkte als würde er nur schlafen und jeden Moment aufwachen und ihr ein Lachen schenken, dieses eine, wonach sie sich jetzt sehnte. „Hey, sieh mich an...“ „..Mami liebt dich sehr, weisst du das eigentlich? Mami liebt dich so unglaublich...“ Ihre Worte wurden schwer. „...und dein Vater liebt dich auch, er liebte dich sehr mein Engel. Vergiß das nicht, vergiß nie dass du geliebt wurdest.\" Ein kehliges Husten erstickte den Klang ihrer Stimme.
Als Nell feststellen musste dass ihre Eltern tod waren, kletterte sie aus dem Kindersitz. Sie schaffte es dem Wrack zu entkommen, das mittlerweile Feuer gefangen hatte und fing an zu laufen. Ohne sich umzudrehen rannte sie die asphaltierte Hauptstraße hinauf in die Nacht, die sich hellmondig vor ihr erstreckte. Tränentäler hatten sich in ihre Augen gegraben. Eine Träne, die sie nie vergessen wird, rann ihre Wange hinab über die Lippen gen Boden. Salzig hinterläßt sie eine Narbe, die alles verändern sollte.
Der Blick ging zu den Bäumen, die sich zu allen Seiten der Straße säumten. Irgendwann, als ihre Füße bereits taub vor Kälte, hielt ein Streifenwagen mit Blaulicht und Martinshorn neben dem Mädchen an. Sie achtete nicht auf die Männer in Uniform, die zu ihr sprachen, als sprächen sie zu einer geistig Behinderten. Wörter prallten an ihr ab wie Steine von einer Wand. Man konnte Traurigkeit in des fremden Mannes Gesichtern erkennen und wie sie sie mit jedem Wimpernschlag erfüllte. Nell, das blasse Kind mit den viel zu großen Augen. Ja, so blieb sie den Männern diese Nacht für einen kurze Ewigkeit in Erinnerung.

Im Krankenhaus angekommen, stellten die Ärzte fest dass Nell äußerlich nichts fehlte.
Ihre Tante war zuversichtlich was ihre psychische Genesung anging. Nell war ein fröhliches Mädchen, sie würde schon wieder.

Sie wurde nie wieder. Seit diesem Tag, vor ungefähr 16 Jahren sprach Nell, aus der mittlerweile eine hübsche junge Frau geworden war, kein Wort. Ärzte sprechen von Mutismus. Einer Krankheit der Kommunikationslosigkeit, ausgelöst durch ein seelisches Trauma, das es Betroffenen unmöglich macht, oder nur in bestimmten Situation zu sprechen.
Auch nach vielen Jahren Therapie und Verhaltensanalysen war Nell ein Einzelfall. Sie blieb, was andere nicht blieben-Still. Es machte die Dinge nicht leichter. Aber zumindestens machbar. Im Sinne von: Sie geschahen.

„Bist du sicher, dass du schon soweit bist? Du musst nicht gehen, du kannst bleiben solange du willst.“ Erinnert Nell sich an die liebevollen Worte ihrer Tante. Doch Nell wollte gehen, das wollte sie immer. Die neue Wohnung war etwas heruntergekommen, aber das mochte sie, dieses gemütliche, altbackene Haus. Jetzt wo sie erwachsen war, genoß sie auch die Vorzüge, die dass älter werden mit sich bringt. Nachts, wenn die Straßen leer und die Luft erfüllt von Stille, die von Hauswänden abprallt, wie ein dumpfes Echo von Nichts, geht sie gerne spazieren. Stundenlang, und am liebsten alleine. Bis zu einer bestimmten Bank im Park, auf der sie dann ihre Zeit verbringt, nur um den Teich zu betrachten, der sich davor und besonders bei Vollmond malerisch schön präsentiert. Auch wenn man meinen sollte dass ein anständiges Sozialverhalten, oder wenigstens ein paar Freunde zum Leben dazu gehören, kam Nell auch ohne all das aus. Um sich dennoch anzupassen und den Tag nicht sinnlos zu vergeuden, hörte sie auf den Rat ihres damaligen Therapeuten, Alexander Collins, der bei ihren Sitzungen zwar der Einzige war der sprach, aber ihr trotzdem irgendwie geholfen hatte. Seit zwei Jahren verschönerte sie Bilder mit Photoshop für einen Fotografen in der Stadt. Alles Online, alles unverbindlich und natürlich von Zuhause. Es war nicht viel, aber es reichte aus.






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