Der ganz normale Wahnsinn - Teil 2

Autor: tweety
veröffentlicht am: 10.05.2013


In Ines brodelte es. Da war es wieder, dieses Gefühl, dass sie solange vermisst hatte. Was ihr auch in den langen Jahren ihrer vorigen Beziehung sooft gefehlt hatte. Wenn sie nur seinen Namen im Terminbuch las, flatterten 1000 Schmetterlinge in ihrem Magen. Sechs lange Wochen lagen vor ihr, bis Chris seinen nächsten Termin in der Praxis hatte.
Doch dass sie gerade diesem Termin sehr sehr ängstlich und angespannt entgegen sehen würde, ahnte sie zu diesem nicht einmal.
Da Urlaubszeit war, war es zwar in der Prophylaxe recht ruhig. In der Assistenz aber war keine Erholung in Sicht, da auch einige Kolleginnen Urlaub hatten. Die Mädels flogen nur so von Zimmer zu Zimmer.
Eine Woche war vergangen. Mittwochs öffnete die Praxis erst mittags. Ines hatte noch einige Besorgungen in der Stadt zu erledigen. Da die Praxis direkt in Innenstadtnähe lag, erledigte sie gleich morgens alle vorbereitenden Aufgaben, um ohne jegliche Hektik und ohne Zeitdruck in die Stadt gehen zu können.
Mittwochs war Wochenmarkt und entsprechend voll waren die kleinen Straßen des Städtchens.
Plötzlich drang in dem Gewühle ein leises „Hallo!“ an ihr Ohr. Ines war beim Klang der Stimme wie elektrisiert. „Das ist doch unmöglich...,“dachte sie noch bei sich. Sie schaute auf und blickte sich um.
Es war tatsächlich Chris, der auf der anderen Seite der Fußgängerzone ging. Die Straße und zig Menschen trennten sie räumlich. Doch sein strahlender Blick verriet ihr, dass er wirklich sie gemeint hatte. Ines´ Herz klopfte wie wild, und sie wünschte sich inständig nicht rot zu werden. „Hallo,“ grüßte sie leise zurück. Beide gingen weiter, in entgegengesetzte Richtungen. Ines biss sich auf die Lippen. Wie gerne hätte sie mit ihm geredet. Doch die Freude überwog. Allein die Tatsache, dass Chris sie in dem Getümmel wahrgenommen hatte, dass er sie überhaupt erkannt hatte, löste ein Glücksgefühl in ihr aus. Schließlich kannte er sie ja ausschließlich in Praxisklamotten. In zivil waren sie sich noch nie begegnet.
Dass sie an diesem Nachmittag alleine für zwei Zahnärzte arbeitete, und noch dazu einen enormen Patientenansturm hatte, lenkte ihre Gedanken zunächst ein wenig ab. Den Rest des Tages sowie die restliche Woche fühlte Ines sich so wohl wie lange nicht mehr.
Von Chris wusste sie bereits seit der Prophylaxesitzung, dass er nach seiner Ausbildung ein Studium aufgenommen hatte, und nun in den großen Semesterferien in seinem Ausbildungsbetrieb jobbte. Dass dieser im Nachbardorf ihres Wohnortes lag, und sie von dort aus täglich mit dem Zug zur Arbeit fuhr war ein glücklicher Zufall.
Seine Arbeitszeiten kannte sie nicht, sie mussten nicht zwangsläufig mit den Öffnungszeiten der Bank übereinstimmen.
Dienstag nachmittag konnte Ines spontan Überstunden abbummeln.
Ines warf einen Blick in den Spiegel. „Man sehe ich sch... aus heute...,“ sagte ihr Blick. Im nächsten Moment meldete sich ihr Bauch. „Was ist wenn...?“, meldete er ihr ans Gehirn. „Ich glaub` ich mach mir ein bisschen Make up und Mascara drauf,“ murmelte Ines leise. „Ich sehe ja zum Fürchten aus.“
Für lange Tage hatte sie immer etwas in ihrem Schrank. Hin und wieder kam es vor, dass die Mädels abends noch spontan beschlossen Essen zu gehen oder etwas anderes zusammen unternahmen.
Ines zauberte sich etwas Leben ins Gesicht, und machte sich langsam auf den Weg zum Bahnhof. Ihr Magen grummelte immer mehr, mit jedem Schritt fiel ihr der Nächste umso schwerer. Sie war spät dran. Als sie die Bahnhofshalle betrat, kam ihr schon ein ganzer Schwung Leute entgegen. Sie bahnte sich einen Weg durch den Menschenstrom. Dann sah sie ihn. Chris kam ihr entgegen. In Gedanken, den Kopf gesenkt. Er blickte nicht rechts und nicht links. Ines war enttäuscht. „Er sieht total abgespannt und müde aus heute,“dachte sie. Und fasste im selben Moment den Mut „Hallo!“ zu sagen. Genau, als sie auf einer Höhe aneinander vorbeigingen. Oder eher aneinander vorbeigedrängt wurden. Sie bemerkte im Augenwinkel, dass er den Kopf hob und in ihre Richtung drehte. Keiner von ihnen hatte die Chance, stehen zu bleiben.
Ines drehte den Kopf, soweit es ihr möglich war ohne jemanden umzulaufen, und bemerkte auch ohne ihn ansehen zu können, dass er ihr so lange wie möglich nachblickte. Gedankenverloren ging sie weiter. Innerlich schlugen die Schmetterlinge Salto, und trotzdem wurde sie mit einem Mal von einer tiefen Traurigkeit erfüllt.
Am späten Nachmittag schlug das Wetter um, und es wurde kühl und regnerisch. Auch der Mittwoch war nicht besser. Es folgte eine verregnete Woche, auch das Wochenende war nicht wirklich besser.
Der nächste Wetterumschwung am Donnerstag morgen von kalt nach warm verlangte keine hellseherischen Fähigkeiten um zu ahnen, dass Ines und ihren Kolleginnen im Laufe des Tages ein mörderisches Arbeitspensum bevorstehen würde. Das war genau der Temperaturwechsel, der chronische, beschwerdefreie Entzündungsprozesse in eine akute Entzündung wechseln ließ. Zu Feierabend waren sie alle k.o., einschließlich Rike, Lars und Björn. Wie die Mädels es geschafft hatten sich neben der Assistenz so zu teilen, dass permanent Instrumente durch den Autoklaven laufen konnten, das Wartezimmer nur sporadisch aus allen Nähten platzte und die Wartezeiten trotzdem minimal waren, wussten sie selbst nicht so recht.
Schon beim Verlassen der Praxis beschlich sie ein kribbeliges Gefühl. Sie ahnte, dass sie ihm wieder begegnen würde.
„Sch... Bauchgefühl..,“ schoss es ihr durch den Kopf.
Bis zum Bahnhof waren es keine zehn Minuten Fußweg. Sie erreichte den Bahnsteig gerade, als der Zug eingelaufen war, und eine für die Größe des Zuges recht beachtliche Menschenmenge herausströmte. Hätte Ines hier einfach so jemanden ausfindig machen wollen, es wäre ein recht schwieriges Unterfangen gewesen. Und wieder erlebte Ines ein Déjà-vu.
Ein leises „Hallo“ drang an ihr Ohr. Chris lächelte sie über den gesamten Bahnsteig hinweg an. „Wie in aller Welt ist das möglich?“ dachte Ines, „Das kann doch schon kein Zufall mehr sein, dass er mir im Wochentakt über den Weg läuft.“
Ihr Herz hüpfte vor Freude und Ines zögerte kurz. Aber sie musste einsteigen, wenn sie nicht zwei Stunden warten wollte bis der nächste Zug fuhr. Und sie gestand sich ein, dass ihr der Mut, ihn anzusprechen wohl im letzten Moment doch gefehlt hätte.
Sie konnte ihn nicht aus ihrem Kopf bekommen. All ihre Gedanken kreisten um Chris.
Am nächsten Tag musste Ines außerplanmäßig arbeiten. Freitags verging die Zeit immer wie im Fluge, da die Praxis bereits am frühen Nachmittag schloss.
Ines, Martina und Karin reinigten die Zimmer, und erledigten in aller Ruhe Alles, was vor einem Wochenende an Extra-Arbeiten anstand, wie z.B. Wartung der Absauganlage und des Amalgamabscheiders, Überprüfung des Röntgengerätes und einiges Andere. Ines flitze auf Toilette, als alles fertig war. Ihr war gar nicht gut. Dieses permanente Magendrücken und Bauchgrummeln machte sie langsam aber sicher mürbe.
Die drei verließen die Praxis, Karin wurde abgeholt. Ines hatte noch Zeit, und so unterhielt sie sich vor der Praxis noch eine Weile mit Martina.
„Schlägt Dir ganz schön auf den Magen, hm?“ fragte Martina.
Ines blickte sie fragend an.
„Na, der Chris. Dir geht’s doch gar nicht gut.“ sagte Martina.
„Ich weiß auch nicht,“ erwiderte Ines, „mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich ihn heute noch sehe. Und ihn sehen will.“
„Ich muss langsam los,“ verabschiedete sich Martina. „Wünsche Dir ein schönes Wochenende!“ Dann nahm sie Ines in den Arm.
„Bis Montag!“ sagte Ines leise.
Sie machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Kein Chris, der ihr begegnete. Sie war früh dran, und der Zug hatte auch noch einige Minuten Verspätung. Sie wollte ihn sehen. Unbedingt. Auf dem Bahnsteig suchte sie sich einen Platz, von dem sie alle Türen im Blick hatte, und an dem jeder Fahrgast an ihr vorbeikommen musste. Ines´ Gefühle spielten Achterbahn, fuhren Karussell. Sie wollte ihm begegnen. Ihn sehen. Sich mit ihm unterhalten. Seine Stimme hören. Und doch hatte sie eine unbändige Angst davor. Vor was genau wusste sie selbst nicht. Denn zu verlieren hatte sie Nichts.





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