Der Zeichenunterricht

Autor: Drachenfeuer
veröffentlicht am: 20.02.2002




Es war Anjas dritter Tag an dem sie, im Rahmen ihres Jobs, an der Uni arbeitete und sie konnte noch immer nicht fassen,wie viele Menschen sich auf dem kleinen Campus tummelten. Sie hatte noch nie zuvor so viele Studenten auf einem Haufengesehen. Sie saß in der Mensa und nippte gelegentlich an ihrer Tasse Kaffee, während sie sich neugierig umschaute.Sie war bisher noch nicht mutig genug gewesen, um sich mit einem dieser jungen, gutaussehenden Studenten zu unterhaltenund eigentlich auch nicht sicher, ob sie es jemals probieren würde. Sie war davon überzeugt, daß sie mit ihnen keineGemeinsamkeiten hatte.

Während sie sich zum Lehrstuhl für Kunst und Malerei begab, wurde ihr bewußt, daß es eine Sache gab, die sie beschäftigte.Sie bedauerte es sehr, daß sie selbst niemals auf eine Universität gegangen war. Sie war ein wenig eifersüchtig auf dieFreiheiten und Möglichkeiten, die sich diesen jungen, ambitionierten Studenten boten. Keine Verantwortung, keine Sorgen,einfach nur ab und an etwas für die Prüfungen tun (oder auch nicht, wenn man den Vorurteilen Glauben schenken wollte, dieüber Studenten so in Umlauf waren) und mit der Aussicht auf einen wirklich erstklassigen Job in der Zukunft. Anja spürtetief in sich drin, daß sie genau das vermißte – sie hatte sich gleich nach der Schule einen Job (es sollten noch vielefolgen) gesucht, begierig darauf endlich Geld zu verdienen. Sie hatte stets hart gearbeitet. Es war ihr ein Bedürfnis undvorher gab sie sich nicht zufrieden.

Sie stand vor der schweren, hölzernen Tür des Kunstsaales und atmete tief durch, ehe sie die Tür öffnete und selbstbewußthindurch ging. Der große, luftige Saal war angefüllt mit Gemälden, Skulpturen und Zeichenmaterialien. Den meisten Platzaber nahmen die Staffeleien der Künstler in der Mitte des Raumes ein, einige von ihnen zeigten halbfertige Skizzen. Anjahatte sie sich niemals zuvor angeschaut. Das machte sie immer nervös. Vorn im Raum stand ein klappriges Pult an dem eindicker, glatzköpfiger Mann saß. Außer ihm befand sich niemand im Raum. Er sah von seinen Unterlagen auf, als Anja hereinkam und lächelte sie freundlich an.
„Ah. Unser Modell ist wieder da.“
Anja erwiderte das Lächeln, sprach aber kein Wort. Wieder fühlte sie sich unbehaglich in ihrer Rolle als lebendes Modell. Man verlangte von ihr, daß sie sich manchmal stundenlang so gut wie gar nicht bewegte, genauso wenig wollte man, daß siedabei sprach, so daß es für sie jedesmal sehr merkwürdig war, wenn man sie bei ihrer Arbeit ansprach. Sie schwiegdann fast immer, wobei es ihr egal war, ob man sie für schüchtern oder gar für arrogant hielt. Sie ging am Pult vorbeidurch eine kleine Tür, die sie in einen winzigen besenkammerartigen Umkleideraum führte. Während sie ihre Sachen ablegte(ganz methodisch und penibel, sie nahm diesen Job, wie all die anderen vorher, sehr ernst), hörte sie nebenan die Studentenin den Saal strömen, bereit für den Zeichenunterricht. Sie wartete, wie es ihre Gewohnheit war, bis sie sich ganz sichersein konnte, daß alle erschienen waren.



Dann griff sie nach dem Türknauf (mit deutlich weniger Selbstbewußtsein diesmal) und ging in den Saal. Der Zeichenlehrersprach geschäftig auf seine Studenten ein, so daß sie am Pult stehen blieb, bis sie ihre Meinung änderte und sich einenStuhl nahm und sich darauf in der Pose niederließ, die sie die letzten zwei Tage eingenommen hatte – in eine foetale Positionzusammengekrümmt, die Arme um die Knie geschlungen. Der Zeichenlehrer hatte ihre Bewegungen wohl aus dem Augenwinkelnwahrgenommen, jedenfalls eilte er jetzt hastig auf sie zu. Sie fragte sich, ob sie etwas falsch gemacht hatte. „Wirwerden heute eine andere Pose ausprobieren,“ erklärte er ihr, noch immer lächelnd. „Ist das für sie in Ordnung ?“Sie nickte zögernd. Sie haßte Änderungen im Ablauf einer Sitzung bei der sie Modell stand. Aber es war ja schließlichihr Job, was sollte sie machen ? Der Lehrer schob einen langen Rolltisch von einer Seite des Raumes heran und bat Anjasich seitlich darauf zu legen, den Kopf auf eine Hand aufgestützt. Dann arrangierte er den anderen Arm und ihre Beine so an,wie es seiner künstlerischen Natur am Besten gefiel. Ihr langes, blondes Haar fiel ihr halb über das Gesicht und kitzelteihre nackten Brüste. Die Studenten, wie immer, ignorierten sie vollständig und begannen zu zeichnen. Es war alles sehrprofessionell. Als die Klasse mit der Arbeit begann, entspannte sich Anja immer mehr. Eine einschläfernde Ruhe legte sichwie eine schwere Decke über die Anwesenden, die sich ganz in ihre Kunst versenkten. Auch Anja ließ ihren Gedanken freien Laufund zog sich in ihre ganz eigene Welt zurück.

Zehn Minuten später platzte plötzlich jemand in den Saal. Anja hatte sich bis dahin die Zeit damit vertrieben diekonzentriert arbeitenden Studenten zu betrachten (die alle ziemlich durchschnittlich aussahen, wie sie fand). Sie schautehinüber zu dem Neuankömmling. Er war groß mit wilden schwarzen Locken und grünen Augen. Er sah ungewöhnlich gut aus, wieAnja sofort erkannte.„Sie sind spät dran.“ sagte der Zeichenlehrer und sah ziemlich verärgert aus. Der Eindringling lächelte versöhnlich undzuckte entschuldigend mit den Schultern, sich einen Weg zu einer einzeln stehenden Staffelei im vorderen Teil des Saalesbahnend. Er packte seine Materialien aus und griff sich eine ziemlich abgenutzte Mischpalette. Als er zu malen begann,schaute er Anja mit intensiven Blicken an, die sie verwirrten. Die Blicke aus seinen grünen Augen glitten über ihrenKörper und sie spürte wie ihre Wangen erröteten. Sie fragte sich, wie er sie sah. Vielleicht auf eine künstlerische Art undWeise. Ganz sicher nicht mit einem Blick der persönlicher Natur war. Aber als sie die Blicke über ihren Körper wandernfühlte, atmete sie doch etwas schneller und sie hatte den Eindruck, daß doch mehr dahinter steckte. Sie spürte, wie ihrKörper auf ihn reagierte und ein Kribbeln durch ihren Körper fuhr, fast wie ein elektrischer Stromstoß.



Die Stunde schien nur Sekunden zu dauern, ehe sie beendet war, und die Studenten begannen den Saal zu verlassen. Der Lehrergab einige Anweisungen für die morgige Stunde bekannt, während der dunkelhaarige Student mit einem geheimnisvollen und sehrsinnlichen Lächeln durch die Tür entschwand.

Nachdem auch Anja in die kleine Kammer verschwunden war und sich dort angezogen hatte, kehrte sie in den Saal zurück und tatetwas, das sie noch nie zuvor getan hatte. Sie wartete, bis der Zeichenlehrer den Saal verlassen hatte (ganz offensichtlichwürde es einige Zeit dauern, wenn man nach dem dicken Stapel von Ordnern urteilen wollte, den er unter dem Arm trug und deshastigen Schrittes, dessen er sich befleißigte) und schlenderte dann durch den, nun leeren, Saal. Sie betrachtete dabeivoller Neugierde und Interesse die Skizzen der Studenten. So viele verschiedene Zeichnungen und Interpretationen - ihrerselbst. Einige der angehenden Künstler waren sogar soweit gegangen ausschließlich ihren Körper zu malen und ihren Kopfüberhaupt nicht zu Papier zu bringen. Eine gesichtslose Frau. Anja überkam für einen Moment ein Zittern und sie spürte einefast abergläubische Furcht. Schnell ging sie weiter.

Plötzlich kam sie zu einer Skizze, die sie zum Stehenbleiben zwang und ihr einen lauten Aufschrei entlockte. Sie starrtevoller Erstaunen auf das Bild vor ihr. Der Künstler hatte sie nicht wie die anderen ohne Gesicht gemalt – er hatte sievollständig gezeichnet. Aber was Anjas Aufmerksamkeit erregt hatte war nicht nur die Tatsache, daß er sie gemalt hatte,nein vielmehr war es die Detailgenauigkeit, der Ausdruck, der von diesem Künstler eingefangen worden war. Ihre Gesichtszügeerschienen nahezu perfekt auf dem Papier, aber es war mehr als das. Es schien Anja so, als ob der Maler ihre Seeleeingefangen, sie in dieses Bild gebannt hätte. Es war nicht nur eine Zeichnung von ihr, es war die Essenz ihrer Selbst,in eine neue, künstlerische Form gefügt. Anja fühlte sich gleichzeitig davon angezogen und erschreckt.Genau in diesem Moment öffnete sich die Tür und Anja wirbelte voller Angst herum. Er war es. Der dunkelhaarige Maler.Wie er sie so ansah, durchfuhr Anja auf einmal die Erkenntnis, daß es seine Staffelei sein mußte, vor der sie gerade stand.Dies war sein Bild.



Die Erkenntnis ließ sie ganz weiche Knien bekommen. Sie schaute ihn an.Langsam kam er auf sie zu, sich einen Weg um die noch immer aufgestellten Staffeleien bahnend, bis er direkt vor ihr standund ihr in die Augen sah. Sie erwiderte den Blick, zu ihm hinauf sehend. Keiner von ihnen sagte auch nur ein Wort.Plötzlich streckte er seine Hand aus und berührte ihre Wange, es war, als ob eine Feder darüber hinweg streichen würde,so sanft zog er ihre Konturen nach. Er hatte die Hand eines Künstlers und seine schwieligen Finger fühlten sich rauh anauf ihrer weichen Haut.Sie blinzelte und schluckte, schwer atmend. Langsam, voller Zärtlichkeit, faßte er sie unters Kinn und ihr Gesicht nähertesich so dem seinen. Er stand so dicht vor ihr, das sie seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht spüren konnte. Sie schloß dieAugen und spürte, wie seine Lippen die ihren berührten und seine Arme sie umfaßten...

Als er gegangen war, schien ihr Körper förmlich zu glühen. Sie hatte eine unbeschreibliche Zärtlichkeit erlebt, Momente derLust, Augenblicke des Staunens. Sie hatten sich geliebt auf eine Weise, wie sie nie zuvor geliebt hatte. Sie wußte wederseinen Namen, noch hatte sie nur ein Wort mit ihm gewechselt. Sie wußte nichts von ihm, nur daß er in ihr ein Verlangen,eine Sehnsucht geweckt, ein Feuer entzündet hatte, welches tief in ihrem Innern von nun an brennen würde.Der Zeichenlehrer kam zurück und lächelte zerstreut, zu beschäftigt mit sich und der Welt, um sich zu fragen, warum dasModell, was er für seinen Zeichenunterricht gebucht hatte, noch immer im Saal war. Sie schaute sich ein letztes Mal um,betrachtete seine Zeichnung von ihr auf der Staffelei, ehe sie ging. Morgen würde sie ihn wiedersehen, in seinen Armenliegen. Sie gehörte ihm. Tief in ihrem Innern wußte Anja, daß ihr unbekannter Maler großartige Bilder malen würde. Bildervon ihr. Sie würde seine Muse sein. Seine Liebe.









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