Kirschblütenstaub

Autor: MissCarolina
veröffentlicht am: 07.12.2012


Georgia, 1860

Kapitel 1

Die Sonne stand gleißend heiß über dem Lake Mirror. Die Luft flimmerte und von hier oben sah der See aus wie ein Spiegel. Als würde seine Oberfläche in tausend Teile zersplittern, wenn man einen Stein hineinwerfen würde.
Ich warf einen Blick über die Schulter zurück und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Wie gerne stand ich hier oben. Wie gerne blickte ich auf der einen Seite zum See hinunter und auf der anderen Seite auf die Plantage meines Vaters.
Es war der 6. November 1960 – um diese Jahreszeit war es erschreckend heiß. Beinahe beunruhigend heiß.
Es war der Tag der Präsidentschaftswahl. Ein Tag, der die Geschichte der USA und auch mein Leben grundlegend verändern sollte. Doch in diesem Moment wusste ich noch nichts von diesen Veränderungen.
Für mich war es ein langweiliger Tag, wie jeder andere auch. Mein Vater, ein angesehener Plantagenbesitzer, saß in seinem Arbeitszimmer, qualmte eine Zigarre und führte die Buchhaltung.
Das Herrenhaus thronte pompös auf einem kleinen Hügel, sodass man von dort aus die gesamte Tabakplantage im Blick hatte. Aus meinem Zimmer konnte ich bis zu den kleinen Hütten der einzelnen Sklaven schauen. Ich fragte mich immer, weshalb es so wenige Hütten waren. Ich kannte die Anzahl unserer Sklaven. Sie würden dort niemals alle Platz haben.
Das Haus des Sklaventreibers, Mr. Whites, lag noch weiter hinten, fast schon an dem eisernen Zaun, der das Grundstück begrenzte. Er wohnte dort mit seiner Familie. Er hatte eine Frau, eine liebe, dicke Dame, und zwei Söhne. Beides Raufbolde, die ein paar Jahre jünger als ich waren. Ich beneidete Mr. Whites nicht um seine Arbeit, aber um seine Familie. Immerhin hatte er eine Familie.
Meine Mutter starb bei meiner Geburt vor neunzehn Jahren. Ich war ihr erstes Kind gewesen. Demzufolge hatte ich keine Geschwister. Ich lebte in diesem Herrenhaus allein mit meinem Vater. Hätten wir keine Bediensteten wäre ich vor Langeweile schier gestorben.
Ich seufzte und wandte der Plantage den Rücken zu.
Wie gerne sah ich zum See hinunter. Das blaue Wasser glitzerte im Sonnenlicht und ich konnte erkennen, wie ein paar Fische aus dem Wasser sprangen und einzelne Seemöwen über den See hinweg flogen.
Meine Mutter muss diesen See genauso geliebt haben wie ich.
Ich hob mein Kleid an und machte ruckartig kehrt, bevor mich die Trauer um eine Person, die ich nie gekannt, deren Gesicht ich nie gesehen habe, einholen konnte.
Ich warf einen Blick auf meine vergoldete Taschenuhr und schnappte nach Luft. Es schlug schon zwölf. Meine Pause war längst um.
Mr. Borrow, mein Hauslehrer in Mathematik, Philosophie, Französisch und Latein würde verrückt werden. Er hasste Unpünktlichkeit, aber vor allem hasste er mich.
Ich war ihm zu quirlig, zu aufgedreht für eine junge Dame. So schickte sich das nicht. Und schon gar nicht für die einzige Tochter eines Plantagenbesitzers. Laut ihm sollte ich mehr Benehmen an den Tag legen.
Mein Vater, Sir John Westwood, tadelte mich nie. Er nahm mich noch nicht einmal wirklich wahr.
Meine Schuhe knirschten auf dem Kiesboden, während ich die Auffahrt zum Haus hinauf rannte.
Ich konnte Mr. Borrow schon von Weitem erkennen. Seine langen Beine, seine schmale Statur und sein rötlicher Spitzbart waren unverkennbar.
„Miss Westwood, wenn ich Sie doch bitte darf!?“ Sein britischer Akzent brachte mich zum schmunzeln. Im Dorf munkelte man, dass er aus den alten britischen Kolonien stammte, doch Mr. Borrow schwieg eisern über seine Vergangenheit. Auch ich – oder gerade ich – konnte ihm kein Wort entlocken.
„Es tut mir Leid, Mister“ Ich war völlig außer Atem und kam erst dicht vor ihm zum Stehen, sodass er einen Schritt zurückwich. Nachdenklich strich er sich das dünne, immer lichter werdende Haar zurück und seufzte: „Was soll ich bloß mit Ihnen anfangen? Sie waren nicht beim Essen, Sie kommen zu spät, Sie lernen nicht, und Sie sind ganz verschwitzt!“
„Ich hatte keinen Hunger“ erwiderte ich nur und strahlte ihn schließlich an: „Ach, nun seien Sie doch nicht so! Ich will auch ganz fleißig weiterlernen“ Ich ging an ihm vorbei und sprang die Stufen zur Terrasse hoch, die um das gesamte Haus herumführte.
„Gut, dann beginnen wir mit Algebra“ Ich hörte an den Schritten, dass Mr. Borrow mir folgte.
„Oh bitte, bloß keine Algebra!“ Ich stieß die schwere Holztür auf und stand in der imposanten Eingangshalle des Hauses. Eine Flügeltreppe führte nach oben in den ersten Stock, zu dessen Seiten Säulen mit irgendwelchen Figuren standen, die mir mehr Angst machten, als dass ich sie als schön empfand.
„Wären Sie pünktlich gekommen, so wäre ich gewillt gewesen…“ Er konnte nicht ausreden, da von oben, aus dem Arbeitszimmer meines Vaters, wilde Rufe erklangen. Ich erkannte seine Stimme, die Stimme von Sir Thomas Wilds und von Sir Edgar Price. Sie klangen nicht erfreut.
„Die Präsidentschaftswahl“ murmelte Mr. Borrow leise, doch ich wurde kein bisschen schlauer. Es war mir bewusst, dass heute der sechzehnte Präsident der Vereinigten Staaten gewählt worden war, doch welche Bedeutung dies alles hatte, ahnte ich noch nicht einmal.
Die Tür vom Arbeitszimmer wurde aufgerissen: „Dieses Telegramm, am liebsten würde ich es… zerreißen!“ Sir Price riss die Hände zum Himmel und fuchtelte wild mit den Händen herum.
„Lincoln – gerade Lincoln!“ stimmte auch Sir Wilds zu und mein Vater nickte nur zustimmend, bevor er leise sagte: „Das wird noch Folgen haben“
„Du meinst doch nicht es wird Krieg geben?“ hakte Sir Price nach und auf einmal klang er unsicher.
„Ach, Unsinn!“ ereiferte sich mein Vater. „Wer redet denn immer gleich vom Krieg?!“ Er klang deutlich genervt. „Die Zeit wird zeigen, was passiert. Warten wir erst einmal den Amtsantritt unseres neuen Präsidenten ab. Alles andere wird sich zeigen“ Erst jetzt fiel sein Blick auf mich. Seine Miene änderte sich und er wies Mr. Borrow zurecht: „Wieso lernt das Mädchen nicht?! Sie ist den gesamten Tag schon faul genug. Gehen Sie ins Schulzimmer und bringen Sie ihr etwas bei. Ich bezahle Sie nicht umsonst“
„Entschuldigung, Sir. Mich interessierte nur Ausgang der Wahlen“
„Und mich interessiert, dass Sie meiner Tochter etwas beibringen“ Er machte eine scheuchende Handbewegung und Mr. Borrow deutete eine Verbeugung an und ging ins Schulzimmer. Unsicher folgte ich ihm.
Der arme Mr. Borrow hatte es schon nicht ganz leicht mit uns Westwoods und zum ersten Mal verstand ich, weshalb seine Backen dauernd gerötet und sein Blick immer gehetzt aussah.
„Wieso regt sich jeder über den neuen Präsidenten auf?“ fragte ich schließlich, während ich die Tür hinter mir schloss und mich an den langen Eichenholztisch gegenüber von Mr. Borrow setzte.
„Es sind unruhige Zeiten“ war Mr. Borrows einzige Antwort.
Ich wusste über diese unruhigen Zeiten Bescheid. Mein Vater redete vor einigen Monaten kurz mit mir darüber. Im Norden war die Industrie weit vorangeschritten, während wir im Süden der Vereinigten Staaten immer noch auf Rohstoffe bauen mussten. Mein Vater sagte, es sei billiger und produktiver Sklaven zu beschäftigten, als Lohnarbeiter. Nur so würden wir mit dem Norden mithalten können. Als dann vor 40 Jahren die Krise um den Schutzzoll aufkam, war unser Land schon längst gespalten. Ich wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass es noch schlimmer werden konnte.
„Wir sollten uns nun der Algebra widmen“ riss mich Mr. Borrow aus meinen Gedanken und schob mir die Schiefertafel unter die Nase. Damit war klar, dass ich gar nicht darauf zu hoffen brauchte, weiter mit ihm über die Politik unseres Landes zu reden.
Ich seufzte leise und gab nach.






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