The Facets of Black - Teil 2

Autor: Ai
veröffentlicht am: 05.12.2012


Amanda
An der Schule mag ich einzig und allein das Lernen. Ich hasse die vielen Menschen, die Pausen. Im Grunde mag ich all das, was andere hassen und hasse all das, was alle anderen mögen. Der Erwerb von neuem Wissen ist auch der einzige Grund, weshalb ich überhaupt dort erscheine. Deshalb kommt es auch ab und an vor, dass ich dort nicht erscheine, obwohl ich es sollte. Manche Dinge erscheinen mir einfach sinnlos. Ich kann mir viele Dinge selbst beibringen. Wie zum Beispiel Geschichte. Ich kann lesen und verstehen, was ich lese. Somit ist für mich der Geschichtsunterricht meist sinnlos. Deshalb verbringe ich einige Stunden lieber im Innenhof der Schule oder irgendwo anders. Das erscheint mir sinnvoller, als mir von Lehrern vorlesen zu lassen.
Heute ist der erste Schultag des letzten Schuljahres. Mrs. Wilker reicht mir wortlos meinen Stundenplan und ich nehme in wortlos entgegen. Ich mag keine Menschen und ich rede auch nicht gerne mit ihnen.
Ich gehe aus dem Sekretariat hinaus und lehne mich an die Wand neben der Tür, um den Stundenplan in Ruhe studieren zu können. Erste Stunde Französische bei Mr. Schneider. Eine sehr schöne Sprache, aber Mr. Schneider ertrage ich an einem Montagmorgen in der ersten Stunde nicht besonders. Zweite Stunde Geschichte bei Mrs. Parker. Viel zu durchsichtige Bluse, viel zu enger Rock. Trotzdem sollte ich hingehen. Ich habe das letzte Schuljahr viel zu oft gefehlt. Wenn ich gleich am ersten Tag nicht bei ihrem Unterricht erscheine, könnte das Ärger geben. Dritte und vierte Stunde Kunst bei Mrs. Wilhelm. Und dann endlich Mittagspause. Weiter lese ich erst gar nicht.
Ich falte den Plan zusammen und stecke ihn in meine Tasche. Dann mache ich mich auf den Weg in den Innenhof. Es hat bereits vor zehn Minuten zur ersten Stunde geläutet. Normalerweise ist der Innenhof leer. Selbst in den Pausen gehen die meisten Schuler vor die Schule um zu rauchen oder zu quatschen. Das liegt vermutlich auch daran, dass dieser Hof nicht besonders schön gestaltet ist. Keine Pflanzen, nur Beton und vier kleine Holzbänke. Die Mauern der Schule schmiegen sich wie Gefängniswände um den Hof. Nicht besonders einladend, aber genau das Richtige für mich. Einsam und ruhig.
Als ich durch die Glastür in den Hof hinaus sehe, sehe ich dort auf einer Bank einen Jungen sitzen, der eine Zigarette raucht. Ich kenne ihn nicht, aber das sagt nicht viel aus, denn ich kenne fast niemanden, weil ich es so will. Ich beschließe, ihn einfach zu ignorieren. Er wird mir meinen schönen Plan nicht kaputt machen. Ich drücke die Glastür auf und trete hinaus an die frische Luft.
Der Junge scheint mich nicht zu bemerken und das ist auch gut so. Ich habe im Laufe der Jahre gelernt, wie man sich unsichtbar macht. Und mittlerweile habe ich diese Technik fast schon perfektioniert.
Ich setzte mich auf die Bank gegenüber von ihm. Er hat mich immer noch nicht bemerkt. Meine Tasche stelle ich neben mich auf die Bank. Es ist nicht besonders viel drinnen. Ein paar Stifte, ein Collegeblock, der Stundenplan, ein Geschichtsbuch vom letzten Jahr und – was am aller wichtigsten ist – ein Roman. Es ist ein Buch von Jane Austen. Stolz und Vorurteil. Diese Geschichte ist schon über 200 Jahre alt, dennoch liebe ich sie. Sie gibt mir das Gefühl von Normalität. Ich kann darin eintauchen und komme in eine ganz andere Welt, mit anderen Gesetzten, anderen Sitten und anderen moralischen Vorstellungen. Wenigstens für den Moment verschwinden meine Probleme, meine Sorgen und meine Ängste und ich kann Elizabeth sein, die zwar auch ihre Probleme hat, sie erscheinen mir aber um so vieles leichter, als die Last, die ich tagtäglich auf meinen Schultern zu tragen habe.
Ich schlage das Buch auf und beginne zu lesen. Jetzt bin ich nicht mehr im Innenhof der Schule, sondern auf dem Ball, den Mr. Bennet Jane zu ehren gibt. Ich tanze mit Mr. Darcy und bewundere das prächtige Haus. Ich bin nicht länger in Amerika, sondern in England, in der Nähe von London. Es ist auch nicht Anfang des 21. Jahrhunderts, sondern die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Ich bin frei. Frei von meinen Lastern und meiner Vergangenheit.
Leider vergeht die Zeit viel zu schnell. Als der Junge gegenüber von mir aufsteht und an mir vorbeigeht, kann ich nicht anders, als von meinem Buch aufzusehen. Er sieht mich an. Seine Augen sind dunkelbraun und hellbraune Haarsträhnen hängen ihm ins Gesicht. Er sieht irgendwie verärgert aus. Vielleicht passt es ihm nicht, dass ich auch hier bin, während des Unterrichts. Vermutlich wollte er alleine sein. Dennoch glaube ich, dass er mich erst bemerkt hat, als er gehen wollte.
Als er durch die Glastür ins Schulgebäude verschwunden ist, sehe ich auf meine Armbanduhr. Es ist fast halb zehn. Ich habe also noch eine halbe Stunde, bis Mrs. Parker in einem ihrer engen Bleistiftröcke in den Klassenraum gewackelt kommt und uns Schülern zeigt, wie toll sie aus dem Geschichtsbuch vorlesen kann. Einfach nur schrecklich. Aber ich hatte letztes Jahr viel zu viele Fehlstunden in Geschichte, weshalb ich nun fast schon gezwungen bin, hinzugehen. Doch bis dahin werde ich noch weiter in das England vor 200 Jahren eintauchen.
Ich höre die Schulglocke, die das Ende der ersten Stunde verkündet, durch ein offenes Fenster im ersten Stock über mir. Langsam wird es Zeit. Ich werfe einen Blick auf den Stundenplan und stelle fest, dass ich in Raum Nummer 104 muss. Voller Vorfreude mache ich mich auf den Weg dorthin.
Als ich dort ankomme, ist die Klasse noch fast leer. Erst zwei Schüler haben in der zweiten Reihe Platz genommen und tauschen sich lebhaft über die Ferien aus. Ich gehe wortlos an ihnen vorbei und setzte mich an ein Pult in der letzten Reihe. Ich liebe die letzte Reihe. Nicht, wie man vielleicht glauben könnte, weil man hier ungestört tun und lassen kann, was man will. Denn das ist bei vielen Lehrern auch nicht so. Viele werfen speziell auf die letzte Reihe ein Auge. Aber es gibt einen Vorteil, der für mich äußerst wichtig ist. Niemand sitzt hinter mir. Ich kann das Gefühl nicht leiden, zu wissen, dass jemand hinter mir ist, ihn aber nicht sehen zu können. Deshalb setzte ich mich gleich in die letzte Reihe, somit fühle ich mich schon viel wohler.
Als sich der Klassenraum allmählich füllt, tritt auch Mrs. Parker ein. Sie sieht heute wieder einmal ganz besonders Unlehrerinnenhaft aus. Ich verstehe nicht ganz, was sie damit bezwecken will. Es ist meiner Meinung nach auf jeden Fall absolut nicht angemessen für eine Lehrerin. Aber eigentlich ist es mir egal.
Vor zwei Jahren, als Mrs. Sanderson noch da war, war der Geschichtsunterricht wenigstens noch interessant. Sie konnte gut erklären und laß nicht nur alles aus einem Buch vor, im Gegensatz zu Mrs. Durchsichtige Bluse. Mrs. Sanderson war zwar alt, aber dadurch hatte sie Erfahrung und Autorität.
Seufzend lege ich mein altes Geschichtsbuch auf den Tisch. Ich werde die Stunde damit verbringen, etwas darin zu blättern. Das ist auf jeden Fall produktiver als Mrs. Parker zuzuhören.
Mit dem Klingeln der Schulglocke beginnt Mrs. Parker ihre kleine Lesestunde und ich beginne mit meiner. Sie redet irgendetwas über den Bürgerkrieg, wie es begann und wer gegen wen kämpfte. Alles eins zu eins aus dem Geschichtsbuch vorgelesen. Ich blättere die entsprechenden Seiten im Buch durch und sehe mir die Bilder an. Eine Karte von Amerika, wo aufgezeigt wird, welche Staaten gegeneinander gekämpft haben. Irgendwie macht es mich traurig, dass der einzige Krieg, der auf amerikanischem Boden geführt wurde, ausgerechnet ein Bürgerkrieg war. Hier haben Amerikaner gegen Amerikaner gekämpft. Eine traurige Sache, so wie jeder Krieg.
Etwa fünf Minuten nachdem der tolle Vortrag begonnen hat, öffnet sich die Klassentür. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf den Zu-spät-Kommer. Es ist der Junge vom Innenhof. Ich bin überrascht. Eigentlich kenne ich die Gesichter der Schüler, die in meinem Jahrgang sind, auch wenn ich von fast allen nicht weiß, wie sie heißen.
Es dauert einige Sekunden bis Mrs. Parker bemerkt, dass jemand hereingekommen ist. Sie ist so vertieft in ihr hübsches Büchlein. Als sie endlich mitbekommt, dass jemand neben ihr steht, blickt sie zu ihm auf. Ein zuckersüßes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht und sie begrüßt ihn freudestrahlend. Mr. Danjels nennt sie ihn. Nie gehört. Und eigentlich ist es mir auch egal. Ich wende mich wieder meinem Buch zu und ignoriere sowohl Mrs. Parker als auch Mr. Danjels.
Doch als er zu mir kommt und sich genau auf den Platz vor mich setzten will, dabei den Stuhl penetrant laut nach hinten schiebt, kann ich gar nicht anders, als aufzusehen. Dieser Typ geht mir langsam auf die Nerven.
Schon bevor die Schulglocke das Ende der Stunde verkündet, packe ich meine Sachen zusammen, sodass ich genau im richtigen Moment verschwinden kann, nämlich so früh es geht. Noch bevor Mrs. Parker die Stunde offiziell beendet, bin ich weg.
Zwei Stunden Kunst liegen jetzt noch vor mir. Ich bin nicht begeistert, aber ich ertrage es besser als Geschichte. Ich weiß genau, wie diese zwei Stunden ablaufen werden. Mrs. Wilhelm gibt uns eine Aufgabe, irgendetwas zu malen. Vielleicht eine Unterwasserlandschaft oder eine Waldlandschaft. So war es bisher immer.
Ein Blick auf meinen Stundenplan verrät mir, dass ich in Raum Nummer 320 muss. Dritter Stock, ich freue mich immer mehr. In dem Moment, in dem ich dort ankomme, ertönt auch schon wieder die Schulglocke. Es ist eine Qual. Seufzend begebe ich mich in den Klassenraum und nehme wieder in der letzten Reiche Platz. Dieses Mal bin ich die Letzte. Mrs. Wilhelm begrüßt mich mit einem strengen Blick und einem kurzen Nicken. Ich hatte mir letztes Jahr angewöhnt gerade in ihre Stunden immer mit etwa fünf Minuten Verspätung zu kommen. Dadurch entging ich ihren langweiligen Begrüßungsfloskeln und all dem unnötigen Zeug, dass sie immer sagte, bevor sie den eigentlichen Auftrag verkündete.
»Nun gut, da wir nun endlich vollzählig sind«, begann sie, mit einem weiteren strengen Blick auf mich gerichtet, zu reden. »Ich habe heute etwas ganz besonderes für euch«, ihre Stimme wird vor Freude immer höher. »Heute werdet ihr beginnen ein wundervolles Bild zu malen!« Ich stütze mein Kinn auf meine Hand und warte darauf, dass sie endlich zum Punkt kommt. »Es wird mir ein großes Vergnügen sein, eure Werke nächste Woche zu bewerten.« Ach du meine Güte, kann sie nicht endlich sagen, was wir malen sollen. »Es wird wunderbar«, quickt sie und ich hoffe inständig, dass sie jetzt endlich zum Punkt kommen wird. »Ihr werdet ein Bild malen, dass den Titel Glück trägt.« Ich schlucke hart. »Also erwarte ich von euch ein Bild, das zeigt, was für euch Glück bedeutet.« Sie lächelt Seelig, als hätte sie das Gefühl, eine unheimlich gute Idee gehabt zu haben. Langsam bricht Gemurmel unter den, bis jetzt stillen Schülern, aus. »Nun gut, dann fangt an.«
Während alle Anderen sich fast schon über dieses Thema zu freuen scheinen, bin ich fast schon entsetzt. Ich habe mit dieser Sache einige Probleme, aber das größte ist, dass ich nicht weiß, was Glück für mich heißt, denn ich war schon so lange nicht mehr glücklich. Natürlich gibt es schöne Momente für mich. Wie zum Beispiel Stolz und Vorurteil lesen, oder im Wald spazieren zu gehen und dabei einzig und allein den Wind durch die Blätter der Bäume rauschen zu hören. Aber als Glück würde ich das nicht bezeichnen.
Ohne dass es mir wirklich bewusst ist, stehe ich auf und gehe geradewegs zur Tür. Irgendwo ganz weit weg höre ich die Stimme von Mrs. Wilhelm. »Miss Shor, was tun Sie da?« Ich gehe unberührt weiter. »Miss Shor! Setzten Sie sich sofort wieder hin!« Es ist mir egal, ich gehe weiter, aus der Klasse hinaus, die Treppe hinunter geradewegs in den Innenhof. Er ist leer. Zum Glück.
Ich lehne mich an die Wand neben der Glastür und lasse meinen Gefühlen freien Lauf. Dicke Tränen bahnen sich ihren Weg aus meinen Augen. Ich sacke zusammen, rutsche an der Wand hinunter zu Boden. Träne über Träne quillt aus meinen Augen. Ich schlinge die Hände um meine angewinkelten Füße und lasse den Kopf hängen. Ich hatte nicht erwartet dass diese Aufgabe solch starke Gefühle und Erinnerungen in mir hervorrufen würden. Ich fühle mich furchtbar.
Ich sitze mit Sicherheit mindestens eine halbe Stunde hier und weine, bis ich keine Tränen mehr habe. Ich habe schon so verflucht lange nicht mehr geweint. Es fühlt sich so befreiend an, trotzdem geht es mir nicht viel besser. Deshalb beschließe ich, zumiendestens bis zur Mittagspause aus der Schule zu verschwinden. In Mrs. Wilhelms Unterricht werde ich sowieso die nächsten Wochen nicht mehr kommen.
Also gehe ich wieder zurück in das Gebäude, geradewegs zum Haupteingang. Vor der Schule stehen ein paar Schüler. Sie reden mit einander und rauchen. Vermutlich haben sie gerade Freistunde oder einfach keine Lust auf den Unterricht. Ich gehe wortlos an ihnen vorbei.
Mein Weg führt mich an einen bestimmen Ort. Ein Ort, an dem ich mich halbwegs geborgen fühle, ein Ort, an dem ich meinen Kummer und die Vergangenheit für einen kleinen Moment vergessen kann. Ein Ort, der mehr Aussagekraft für mich hat, als ein Jane-Austen-Roman. Ich gehe in den Wald.
Von der Schule aus brauche ich nur knapp zehn Minuten bis zu den ersten Bäumen. Die Sonne scheint, es sind wenige Wolken am Himmel, eigentlich ein wunderschöner Tag, doch für mich sind nur wenige Tage wirklich wunderschön und dieser gehört definitiv nicht dazu.
Doch schon allein der Anblick der Bäume lässt meine Trauer schon etwas in den Hintergrund rücken. Ich liebe die Natur. Das ist eine der wenigen Tatsachen, die seit meiner Kindheit so sind. Vieles hat sich seitdem verändert. Vieles hat mich verändert. Doch darüber möchte ich im Moment absolut nicht nachdenken. Ich genieße stattdessen das Geräusch das der Wind erzeugt, wenn er durch die Blätter der Birken fährt, die am Waldrand stehen.





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