Die Zeit unseres Lebens - 1. Semester - Teil 3

Autor: Issi
veröffentlicht am: 09.11.2012


Der schrille Ton seines Weckers ließ ihn im Schlaf zusammenzucken. Mit einem genervten Aufstöhnen schlug er seinen Wecker vom kleinen Beistelltisch, das neben der Matratze stand.
Das kleine Bett, das für gewöhnlich im Zimmer stand, hatte Derek vor einem Jahr rausgeworfen, nachdem es nach einer Nacht mit Tammy kaputt gegangen war und durch eine einfache Matratze, die auf dem Boden lag, ersetzt.
Mit einem erneuten Seufzen erhob er sich und strich sich die honigblonden Wellen aus den Augen. Was für ein scheiß Tag, fluchte er, als er aus dem Fenster sah. Es regnete in Strömen und die Zweige der Bäume vorm Haus peitschten gegen die Fensterscheibe. Das neue Semester fing ja schon mal gut an.
Lustlos zerrte er eine schwarze Jeans und ein graues T-Shirt aus seinem Schrank und streifte beides über. Er verließ sein Zimmer ohne in den Spiegel zu schauen.
Am Küchentisch saßen bereits Abby, Seth und die kleine Neue, dessen Name er längst wieder vergessen hatte, obwohl sie süß aussah. Sie hatte ihre rotbraunen Locken aus dem Gesicht gebunden und am Hinterkopf zu einem lockeren Knoten gedreht.
Sie war die Erste, die aufsah, als er die Küche betrat. „Guten Morgen“ sagte sie mit ihrer hohen Mädchenstimme und innerlich verzog Derek das Gesicht. Es war zu früh für so ein Gequietsche. Er nickte ihr nur zu und ließ sich neben Seth fallen und wuschelte ihm durch seine braunen Locken: „Na, du Genie!“
Seth zog seinen Kopf weg und verzog das Gesicht: „Ich bin kein Genie. Allgemein und in Umgangssprache nennt man Leute mit einem IQ, der die 140 überschreitet Genie, aber rein theoretisch ist Intelligenz nicht messbar…“
„Blah, blah, blah“ machte Abby und tat so als würde sie einschlafen. „Und bald fängt er wieder von seinem eidetischen Gedächtnis an“ Sie schaute zu dem Mädchen, dessen Namen Derek nicht kannte und meinte: „Wenn du Fragen hast, wende dich am Besten an ihn, Natalie“
Natalie! Genau, Natalie war ihr Name gewesen. Sie kam gestern in Begleitung mit ihrem kleinen Bruder hier an. Ihr kleiner Bruder war ein Junge im Alter von etwa sieben Jahren und Derek fragte sich, weshalb ihre Eltern ihr nicht beim Umzug halfen. Sie kamen lediglich vorbei um den Kleinen abzuholen.
Natalie erzählte, dass sie aus Rumford sei und dass sie am Harbor sei, wegen der Nähe zum Meer und weil sie noch nie am Meer gewesen sei. Sie erzählte, dass sie drei Brüder hätte, doch näher ging sie darauf nicht ein, obwohl sie einer Person schnell zu vertrauen schien. Anscheinend hatte sie nicht die besten Familienverhältnisse.
„Er weiß alles“ stimmte Derek zu und schüttete sich Cornflakes in seine Müslischale, als Lucas die Treppe hinunter geschlurft kam. Noch in Jogginghose und oben ohne.
„Man, siehst du scheiße aus!“ begann Derek zu lachen, während er Milch über die Cornflakes schüttete.
„Halt bloß die Klappe“ Er ließ sich auf den letzten freien Stuhl fallen. „Mein Vater… es ist…“ Er brach ab und schüttelte mit dem Kopf. „Ach, was soll’s. Neues Semester. Was gibt es Schöneres?“ Er grinste spöttisch und schaute zu Natalie: „Bist du aufgeregt?“
Sie lachte leise und schüttelte mit dem Kopf: „Nein, wieso denn?“ Und Derek merkte an der Art, wie sie es sagte, dass sie ihre Nervosität nicht überspielte, sondern dass sie wirklich keine Angst hatte.
„Das ist immer gut“ meinte Abby. „Ich weiß noch, als ich hier angefangen habe…“ Sie wurde von Carter unterbrochen, welcher die Treppe runterhüpfte, natürlich mit Kamera in der Hand, was Derek jetzt schon auf die Nerven ging. Irgendwann würde er das Ding zerschmettern, das wusste er jetzt schon.
„Erster gemeinsamer Morgen am Harbor“ Er trug ein albernes Hemd und einen Strohhut, woran man merkte, dass er sich selbst nicht ganz ernst nahm. „Guten Morgen, Mitbewohner“
„Schläfst du auch mit dieser Kamera?“ war die trockene Frage von Lucas, welcher sich eine Zigarette am Frühstückstisch anzündete.
Seth verzog zwar das Gesicht, aber er schwieg zu diesem Thema.
Carter drehte die Kamera zu sich und drückte seine Lippen auf das Objektiv. Dann sagte er theatralisch: „Jetzt hör’ mal, sie ist immerhin meine Freundin“
Natalie begann zu lachen und ohne, dass Derek wollte, musste er schmunzeln. Ihre Art zu lachen war irgendwie ansteckend.
„Es grenzt an ein Wunder, dass ich aufgestanden bin. Habt ihr noch einen Platz für mich?“ Das Mädchen, das gerade in die Küche kam, mit dem leisesten Gang, den Derek jemals gehört hatte, kannte er nur vom Sehen. Sie war gestern sehr spät angekommen. Doch von Lucas wusste er, dass ihr Name Audrey war.
„Ich bin sowieso fertig“ antwortete Natalie, schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Sie stellte ihren Teller in die Spüle und drehte sich wieder zu den anderen um: „Ich muss noch meine Bücher aus der Bücherei holen. Wir sehen uns sicher in der Aula“
Abby verzog das Gesicht: „Mr. Harris, der jedes Jahr die gleiche Rede hält. Bald kann ich sie auswendig“
„Ich noch nicht. Es ist mein erstes Mal, also verderbt mir nicht den Spaß“ Die Ironie in Carters Stimme war nicht zu überhören. Er schwenkte die Kamera auf Abby: „Meinst du ich kann die Rede mitschneiden?“
„Warum solltest du das tun?“ fragte Seth und schnitt sein Brot akribisch genau in zwei gleich große Hälften.
„Damit ich es mir immer wieder ansehen kann“
„Spinner“ murmelte Natalie und schlüpfte in hellbraune Mokassins. „Ich hoffe, ich finde die Bücherei“
„Ich bringe dich hin“ Derek erhob sich ebenfalls und bot Carter seinen Stuhl an, während er Lucas zum Abschied auf die Schulter klopfte und Natalie nach draußen folgte. Er hörte die anderen drinnen noch gemeinsam lachen, doch er wusste nicht worüber. Bestimmt hatte Carter einen Wirtz gemacht. Er sollte Komiker werden, dachte Derek leise bei sich.
Der Regen hatte mittlerweile nachgelassen, sodass es nur noch tröpfelte. Doch der Wind blies immer noch erbarmungslos und Derek bereute, dass er keine Jacke angezogen hatte. In Phoenix, wo er herkam, fühlte sich der September noch an, wie der tiefste Hochsommer hier in Bar Harbor.
„Du musst das nicht tun“ meinte Natalie, obwohl die beiden schon losgegangen waren.
„Ich weiß. Aber ich weiß noch, wie ich mich am Anfang hier verlaufen habe“ Er zwinkerte ihr zu und bemerkte zu seiner Zufriedenheit wie sie nervös mit ihren Haaren spielte. Genau die Reaktion, die er kannte.
„Wie lange bist du schon hier?“ fragte sie ihn plötzlich und schaute ihn neugierig von der Seite an.
„Seit drei Jahren. Ich habe angefangen Physik zu studieren, zusammen mit Lucas. Doch letztes Jahr habe ich mich dann auf Mathematik umschreiben lassen“ erklärte er ihr und wunderte sich selbst, wie sachlich das klang.
„Mathematik“ Sie schüttelte sich und lachte. „Damit kann ich nichts anfangen“ Sie seufzte leise und schaute sich auf dem Campus um. Im Vergleich zu gestern Abend ist heute Morgen erstaunlich viel los. Überall Studenten, die mit Kaffeebechern oder Notizblöcken und Ordnern herumrannten, telefonierten oder in Grüppchen beisammen standen und lachten.
„Es sieht nett aus hier“ sagte sie leise, als sie Dereks Blick bemerkt hatte.
„Es ist auch nett. Klein, überschaubar. Auch Bar Harbor kann man nicht unbedingt als Großstadt bezeichnen“ Er zuckte mit den Schultern und dachte daran, wie schwer er sich anfangs damit getan hatte, in einer Kleinstadt zu wohnen. Er war in Phoenix in einem der schlimmsten Viertel aufgewachsen, er kannte diese Idylle nicht.
„Ich komme aus Rumford. Bar Harbor ist für mich wie New York“ Sie lachte wieder und schulterte erneut ihre braune Handtasche. „Außerdem liegt es am Meer“
„Das scheint dein Entscheidungsgrund Nummer eins gewesen zu sein“ bemerkte Derek spöttisch.
„War es auch“ gab sie erschreckend ehrlich zu. „Einen anderen Grund gab es nicht. Ich wollte ans Meer“
„Du solltest an eine schöne Küste gehen. Orange County, beispielsweise“
„Dafür haben wir zu wenig Geld“ Wieder diese Ehrlichkeit.
Und zum ersten Mal war Derek sprachlos. Sie schien ihm von Anfang an zu vertrauen, sie schien ehrlich zu sein und die Dinge beim Namen zu nennen. Und diese Charaktereigenschaft war Derek bisher nur von Lucas gewöhnt – nicht aber von einem Mädchen.






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