Die Kunst zu lieben - Teil 10

Autor: I.AMsterdam
veröffentlicht am: 13.12.2012


- Tag 9 -

Ich mag es nicht, wenn Züge unpünktlich sind.
Und doch kann ich es nicht verhindern oder gar irgendetwas dagegen tun. Ich muss es akzeptieren.
– So, wie ich vieles akzeptieren muss.
Mit verschränkten Armen stehe ich am Bahnhof, auf Gleis 1 und werfe immer wieder einen ungeduldigen Blick auf die große, pompöse Uhr, die hier eigentlich überhaupt nicht hinpasst.
Mein Klavierlehrer, Thorsten, wohnt in einer anderen Stadt, weshalb ich jeden Donnerstag mit dem Zug hierherfahre, um eine Stunde lang schwarze, kleine Punkte mit Strichen - auch Noten genannt - abzulesen und zu spielen.
Vielleicht würde mir das Instrumentieren mit dem Piano mehr Spaß machen, wenn ich mich aus eigener Initiative dafür entschieden hätte, wenn ich nicht unter so einem enormen Druck stünde und ständig das Gefühl hätte, Mamas Augen in meinem Nacken zu spüren. Wenn diese Angst nicht dabei wäre.
Aber ich muss es eben akzeptieren.
Noch 12 Tage, weniger als zwei Wochen, dann ist alles vorbei. Finito.

Eine Gänsehaut überfährt meinen Körper, die sicher nicht nur wegen des eisigen Windes kommt. Der Gedanke an meinen baldigen Tod lässt mich schaudern, ich schüttele mich.
Im nächsten Moment sehe ich, wie die kleine Menschenmenge bestehend aus sechs Leuten, sich dichter an das Gleis zwängt. Gleich darauf höre ich das Rauschen des Zuges, welches von Sekunde zu Sekunde zu einem lauten Brausen wird.
Schließlich bleibt die Bahn stehen, ein paar Leute zwängen sich aus den öffnenden Türen, erst dann treten wir - die neuen Passagiere - ein. Wohlige Wärme empfängt mich, wo ich weiß, dass ich sie in zehn Minuten mit Sicherheit als zu warm empfinden werde.
Nachdem ich mir ein Ticket an dem Automaten gekauft habe, lasse ich meine Augen suchend durch den Zug schweifen. Es ist nicht sehr voll, aber auch nicht wirklich leer. So wie immer.
Ich marschiere durch den schmalen Gang, meide es den Leuten in die Augen zu schauen, und halte mich überrascht an einem Sitz fest, als der Zug sich plötzlich in Bewegung setzt.
– Genau in diesem Moment sehe ich den mir mittlerweile schon wohlbekannten Schwarzkopf, wie er ganz alleine auf einem der blaugemusterten Plätze in der letzten Reihe sitzt. Ich befinde mich in dem hintersten Abteil, wo es nur Paarsitze gibt und wo sich am wenigsten Leute befinden.
Aus irgendeinem Grund schleicht sich ein kleines Lächeln über meine Lippen, als ich Milan sehe. Das ist einfach zu komisch, zu irreal. Nun bin ich wirklich fest davon überzeugt, dass das Schicksal mir einen Streich spielen will.
Aber ich nehme es mit Humor, zumindest in diesem Moment, und schüttele nur schmunzelnd den Kopf darüber. Ich dachte immer, so etwas würde nur in Filmen und Büchern geben, dass die Protagonisten sich ständig zufällig über den Weg laufen, und der Leser beziehungsweise Zuschauer es eigentlich schon geahnt hat. Dass es einfach so kommen musste, weil es eben ein Klischee ist. Und die Story ansonsten nicht seinen fortlaufenden Weg einschlagen würde.
Nur, wohin führt mein Weg?
Ich habe bereits festgestellt, dass mit Milan oder Nia, mein Leben irgendwie anders verläuft. Entgegengesetzt. In eine andere Richtung.
Nicht in die Richtung, die mein Verstand eingeschlagen hat.

Ich schiebe die Gedanken beiseite und straffe meine Schultern, als ich Milans Blick begegne. Seine grauen Irden mustern mich und innerlich wappne ich mich gegen einen eiskalten Augenausdruck, der mir durch Mark und Bein geht.
Doch wiedererwarten ist sein Blick nicht mürrisch oder düster oder gar furchteinflößend. Er ist… normal.
Als würde er gerade von einer Zeitung aufschauen und mich entdecken, die Augenbrauen ganz leicht hochgezogen. Sein Blick ist so erwartungsvoll und doch noch immer ein wenig distanziert und vorsichtig. Als müsste er seine Neugierde zügeln.
Ich blinzele verwirrt.
Milan macht mir keine Angst. Er macht mich nicht wütend.
Nein, er… sieht mich einfach so, wie ich bin. Ohne hässliche Vorurteile.
Das erleichtert die ganze Sache ungemein, denn während wir uns so angeschaut haben, ist bei mir ein Entschluss gefallen.
Schließlich muss ich noch dringend etwas loswerden.
Tief hole ich Luft, ehe ich mit schnellen Schritten zielsicher auf ihn zugehe. Seine Miene wirkt nun überraschter, verwirrter, doch auch ein wenig skeptischer.
Kommentarlos und mit einem unsicheren Lächeln lasse ich mich neben ihn auf den freien Platz gleiten, ignoriere mein wildpumpendes Herz.
Der Schwarzkopf runzelt die Stirn.
„Hier sind überall noch Plätze frei, warum setzt du dich ausgerechnet neben mich?“, fragt er und zieht nun wieder in alter Manier die Augenbrauen zusammen.
Ich lege den Kopf schief. „Findest du das schlimm?“
Milan kneift die Augen zusammen. „Ich hasse Gegenfragen“
„Tut mir leid, das war nicht mit Absicht“
Mein Sitznachbar schnaubt. „Gegenfragen sind immer mit Absicht, weil man dadurch von sich ablenken will“
„Aber ich–“
„Was willst du, Leona?“, fragt Milan mich forsch.
Da ist er wieder, der Brummbär.
Ich presse die Lippen aufeinander und frage mich, ob es wirklich so eine gute Idee war, sich neben Milan zu setzen. Scheinbar nerve ich ihn irgendwie, doch ich darf jetzt keine kalten Füße bekommen.
Nervös belecke ich meine Lippen und schaue unsicher zu ihm.
„Ich…, also ich wollte… - mich noch bei dir bedanken“, sprudelt es schließlich aus meinem Mund. Mein Herz klopft aufgeregt.
„Bedanken?“, wiederholt er verwirrt und zieht ratlos die Stirn kraus.
Ich spiele mit meinen Händen. „Wegen Sonntag. Die Kerle, die mich überfallen wollten. Du bist im richtigen Moment aufgetaucht und hast mir geholfen. – Danke“
Ich hebe den Kopf und erwidere seinen seltsamen Blick, in dem ich so viel ablesen kann und gleichzeitig überhaupt nichts.
Milan schaut mich an.
Ich glaube, einen Hauch von Verwirrung in seinen grauen Augen zu erkennen, welche er jedoch von etwas anderem verbirgt. Er wirkt nachdenklich.
Unbewusst lasse ich meinen Blick über sein Gesicht wandern, fahre die markanten Gesichtszüge nach, zum spitzen Kinn, über seinen schmalen Mund, die gerade Nase hinauf, die dichten Augenbrauen entlang und schließlich versinke ich wieder in seinen grauen Irden.
Er ist hübsch. Irgendwie.
Wenn er nicht so grimmig schaut, sondern - genau wie jetzt - mich mit einem neutralen Passfotoblick, wo man beim genauerem Hinsehen so viele und im gleichen Moment so wenig Gefühle in seinen Augen erkennen kann, anschaut, dann wirkt er gleich anders.

Ich schüttele den Kopf und wende mich von ihm ab.
Das Schweigen zwischen uns dehnt sich aus, scheinbar will Milan nichts erwidern. Ich akzeptiere es einfach.
„Okay“, sage ich gedehnt und sehe keinen Grund, weshalb ich noch länger neben ihm sitzen sollte. Also erhebe ich mich.
Doch im nächsten Moment spüre ich auf einmal eine warme Hand, die meine Finger streift, sie umschließt und mich mit einem sanften Ruck wieder auf meinen Platz befördert. Ein elektrischer Stromstoß jagt durch meinen Körper, lässt mein Herz kurz stillstehen – und das nur, wegen dieser kaum merklichen Berührung.
Ich halte die Luft an.
„Erinnerst du dich noch an den Tag, genau vor einer Woche?“, fragt Milan mich, in meinen Augen, völlig zusammenhangslos.
Verdattert schaue ich ihn an. „Was? - Äh, ja. Da war das Mädchen, welches auf einen Baum geklettert ist. Ich habe ihr geholfen“
Er nickt. „Am Freitag, als wir das Kunstprojekt hatten, warst du wütend auf mich, weil ich mir kein Beispiel an dir genommen habe“
Ich beiße mir auf die Unterlippe. „Ja, das stimmt“
Milan lässt meine Hand los.
Ein wenig irritiert schaue ich ihn an und frage mich, worauf er hinaus will. Ehrlich gesagt, habe ich das Geschehene schon längst wieder in den Hintergrund gedrückt, es verdrängt und nicht weiter darüber nachgedacht.
Aber aus irgendeinem Grund rollt Milan dieses Thema nun wieder aus und will es geklärt haben - weiß Gott, wieso.
Sein nächster Satz überrascht mich und nimmt mir den Wind aus den Segeln.
„Ich habe Höhenangst“, erklärt er leise. „Und ich hasse Wasser“
Meine Augenbrauen schnellen verwundert nach oben.
„Ich konnte einfach nicht helfen. Es ging nicht“
„Du musst mir keine Erklärung geben“, bemerke ich.
„Am Freitag wolltest du noch eine haben“
„Am Freitag war auch noch alles anders“, erwidere ich.
Und damit habe ich recht.
Freitag war ich noch nicht so… noch nicht so… unbeschwert. Irgendwie.
Da waren meine Gedanken noch zu sehr auf den 28. Oktober fixiert, mein Todesdatum, mein Geburtstag.
Nun habe ich das Gefühl, als würde ich es zumindest wagen, vorsichtig über den Tellerrand zu schauen, weiter nach vorne zu blicken, mehr in die Zukunft.
Aber für mich gibt es keine Zukunft mehr.
…Oder?
Ich runzele die Stirn.
Mit einem Mal kommt es mir so vor, als wäre das Kunstprojekt schon Wochen her. Als wäre etwas passiert, was die Zeit schneller umgehen ließ.
Am Freitag hatte ich noch keine Freundin.
Jetzt schon.
Ich spüre, wie meine Gedanken sich verlieren, durcheinander geraten und durch einen Strudel in meinem Kopf gewirbelt werden, kreuz und quer. Orientierungslos.
Zitternd hole ich Luft.
Genau das habe ich befürchtet. Genau das habe ich nie gewollt.
Unsicherheit.
Zweifel.
Bedenken.
Ich muss mir meinem Entschluss sehr sicher sein, denn danach gibt es kein Zurück mehr. Danach bin ich tot.
Ein gewaltiges Beben erfasst meinen Körper.
Mit zusammengepressten Lippen vergrabe ich meine Fingernägel in den Stoffbezug des Sitzes, verkralle mich panisch in diesen Überzug, als hätte ich Angst loszulassen und von dem Strudel mitgerissen zu werden.
Meine Mauer beginnt zu bröckeln.
Ich spüre es.
Und es macht mir Angst.

Ich schließe kurz die Augen und atme tief durch.
Ich muss mich wieder auf das Wesentliche konzentrieren, darf mich von so einem kleinen Anfall nicht erschrecken lassen.
Innerlich baue ich mich wieder auf, wenn auch ein wenig träge und erschöpft, und widme mich schließlich wieder dem Hier und Jetzt. Ich lebe. Noch.
Langsam stoße ich die Luft aus und erinnere mich wieder an die Konversation mit Milan. Vorsichtig wandern meine Augen zu ihm.
Er schweigt.
Sein Blick ist ernst und verschlossen, die Mundwinkel zucken nach unten.
Er hat Höhenangst. Und leidet scheinbar unter einer Wasserphobie.
Er wollte nicht auf den Baum klettern und dem Mädchen helfen. Er konnte nicht.
Verwirrt schüttele ich den Kopf.
Warum sagt er mir das? Hat er das Gefühl, dass ich noch immer eine Antwort von ihm erwarte? Was will er damit erreichen?
Ich weiß es nicht.
Seufzend streiche ich mir eine rote Haarsträhne zurück und mustere ihn nachdenklich. Ich will ehrlich zu mir selbst sein.
Es erfüllt mich irgendwie mit - ja, ich gebe es zu - mit Freude, dass Milan mir dies gestanden hat. Freude darüber, dass wir vielleicht doch noch normal miteinander reden können, ohne feindselige Blicke.
Auf einmal habe ich das Gefühl, einen ganz anderen Jungen vorzufinden. Mein Bild von Milan nimmt allmählich eine andere Gestalt an, das Puzzle wird neugemischt. Ob ich es lösen werde, bleibt fraglich.

Durch dieses Geständnis kommt Milan mir menschlicher vor.
Denn somit beweist er, dass auch er - der distanzierte, kühle Junge, dem scheinbar nichts anhaben kann - seine Schwachpunkte besitzt.
Ich lege den Kopf schief und wage es trotz der Gefahr hin, ihn womöglich wieder hinter seinen Schutzwall zu verscheuchen, ihm eine riskante Frage zu stellen.
Nervös belecke ich meine Lippen.
„Warum…“, beginne ich heiser und räuspere mich. „Warum magst du kein Wasser?“
Für einen kurzen Moment sehe ich, wie ein düsterer Ausdruck seine Augen einnimmt und sein Adamsapfel verdächtig zuckt. Er wendet seinen Blick von mir ab und schaut stattdessen aus dem Fenster, betrachtet den violetten Himmel.
Milan schweigt eisern.
Mit seinen Gedanken scheint er woanders zu sein, vielleicht in längst vergangenen Zeiten. Wer weiß das schon.
Die Stille zwischen uns dehnt sich aus, unerträglich.
Ich seufze und rechne mit keiner Antwort mehr von ihm, als plötzlich seine Stimme ertönt, leise und zögernd.
„Meine Mutter, sie ist… sie war…“ - Er schluckt hart. - „Sie tauchte sehr gerne“
Ich presse die Lippen aufeinander und ahne schlimmes.
Sehr schlimmes.
Automatisch verkrampfen sich meine Muskeln, während gleichzeitig eine Welle des Mitgefühls über mich einschlägt.
Ich erinnere mich, dass Milan mir erzählt hat, seine Mutter sei gestorben. Vor sechs Jahren. Und nun erfahre ich auch, wie.
„Wir haben Urlaub in Spanien gemacht, direkt am Meer“, fährt Milan fort und schaut dabei noch immer aus dem Fenster. „Meine Mutter war eine Meisterin im Tauchen. Sie besaß sämtliche Brevets, natürlich ein Logbuch und - sie war eben ein Profi darin. Zumindest in meinen Augen“
Ich beiße mir auf die Unterlippe.
„Doch an jenem Tag hat sie sich selbst überschätzt“, erklärt er und ich kann sehen, wie seine Hände sich zu Fäusten ballen. „Sie war auf einem Tauchgang, alleine, im Meer, als ihre Gasflasche versagte. Mein Vater und ich waren unwissend, wir haben in ihren Fähigkeiten vertraut. Scheinbar zu sehr“
„Das tut mir leid, Milan“, flüstere ich und fühle mich ein wenig hilflos.
Sein Kopf ruckt wieder zu mir und ich zucke unter seinem düsteren Blick zusammen. Die Lippen hat er zu einer verbitterten, dünnen Linie zusammengepresst und obwohl er es versucht zu verbergen - ich kann die Traurigkeit gepaart mit Wut in seinen Augen lodern sehen.
„Warum erzähl ich dir das überhaupt?“, fragt er mehr zu sich selbst auf eine rhetorische Art und Weise. „Das geht dich doch gar nichts an“
Ich zucke zögernd mit den Schultern. „Vielleicht weil du weißt, dass ich es sowieso niemanden erzählen werde?“
Er verschränkt die Arme vor seiner Brust und wirft mir einen langen Blick zu. Skeptisch mustert er mich, scheint mich mit seinen Augen abzuschätzen.
Ich kann sehen, wie es hinter seiner Schädelwand arbeitet.
„Du bist komisch, Leona“, meint er schließlich und schüttelt den Kopf. „Ich verstehe dich einfach nicht. Mal bist du wütend, dann wieder total normal. In manchen Momenten lachst du sogar, ehe du dich wieder verschließt“
Das sagst ausgerechnet du.
Er macht eine kurze Pause, ehe er mir eine Frage stellt, auf die ich selber keine Antwort habe: „Wer bist du?“
Perplex öffne ich den Mund zu einer Erwiderung, schließe ihn dann aber wieder.
In meinem Kopf schwirren irgendwelche Antworten herum à la »Ich bin die Tochter einer wohlhabenden Familie« oder »Ich bin eine fleißige Schülerin«. Aber irgendwie scheint das alles nicht richtig zu sein, nicht die korrekte Erklärung.
Meine Stirn kräuselt sich zu einer ratlosen Miene. Diese Frage habe ich mir offen gestanden noch nie gestellt.
„Ich… weiß es nicht“, gebe ich schließlich leise zu und kann nicht verhindern, dass in meiner Stimme ein wenig die Verwunderung und Bestürzung, dass ich einfach keine passende Antwort parat habe, mit schwankt. „Wahrscheinlich bin ich einfach eine… Marionette. Jeder hat ein Bild von mir vor Augen, welches er sich schön durch irgendwelche Worte zusammengelegt hat. Man zwängt mich in eine Schublade hinein, verschließt mich darin und wirft den Schlüssel dann weg. Weil die Leute Angst haben, mich wirklich kennenzulernen, meine wahre Person. Aber ich weiß nicht, wie ich wirklich bin, weil ich es… noch nie ausprobieren konnte. Ich habe mich einfach gefügt. Es akzeptiert“
Ich starre die Luft an und spüre, wie erneut eine Welle aus Emotionen über mich einbricht. Meine Lippen beben.
„Im Grunde genommen bin ich ein Niemand. Eine charakterlose Figur, ohne Tiefen und Perspektiven“, füge ich hinzu und schaue Milan nun wieder ins Gesicht.
„Glaubst du wirklich, dass dem so ist?“, fragt er ruhig.
Ich schnaube verächtlich. „Ich weiß es“
Sein Blick zeigt keinerlei Regung. Nicht ein einziger Gesichtsmuskel zuckt.
Im nächsten Moment kramt er auf einmal in seiner Jackentasche rum und holt etwas hervor, was von Kopfhörern eingewickelt ist wie ein Kokon. Ein alter MP3-Player.
Verwundert schaue ich ihn an.
„Hier“ - Er hält mir einen Ohrstöpsel hin, während er sich selbst den anderen in sein Ohr fummelt. Überrascht folge ich seinem Beispiel.
Mit seinen Fingern drückt er auf den Tasten des Players herum und ich frage mich gespannt, was für ein Lied er mir zeigen will.
Oder überhaupt: Warum er das macht.
Mein Herz klopft aufgeregt gegen meine Brust, während ich ein wenig ungeduldig darauf warte ich, dass endlich eine Melodie ertönt.
Schließlich legt Milan den MP3-Player in seinen Schoß und wendet sich wieder mir zu, beobachtet meine Reaktion. Verwirrt runzele ich die Stirn, als ich nichts vernehme außer - ein Rauschen.
Es ist kein beruhigendes Meeresrauchen, sondern das typische Knistern, wenn man keinen Empfang hat. Wie beim Radio.
„White Noise“, erklärt Milan.
Fragend schaue ich ihn an. „Warum willst du, dass ich mir ein Rauschen anhöre?“
„Wie findest du das Rauschen?“
„Ich dachte, du magst keine Gegenfragen“, bemerke ich mit gezückter Augenbraue.
Milan lächelt milde. „Stimmt. Aber wenn ich sie stelle, ist das okay“
„Natürlich“, erwidere ich spöttisch und verdrehe die Augen.
„Also - wie findest du es?“, fragt er erneut.
Ich seufze. „Eher nervig.“
Er nickt, als hätte er mit dieser Antwort gerechnet. „Und was würdest du sagen, wenn ich dir erzähle, dass ich dieses Geräusch liebe?“
„Ist es denn so?“
„Keine Gegenfragen!“
Unwillkürlich verziehen sich meine Lippen zu einem Lächeln. „Naja, dann findest du dieses Rauschen eben toll, aber… Milan, ich verstehe immer noch nicht, worauf du hinaus willst.“
Er nimmt mir den Stöpsel aus dem Ohr und wickelt die Kopfhörer wieder um den alten MP3-Player. „Du hast gesagt, dass du charakterlos wärst ohne Tiefen und Perspektiven“
„Ich habe es nicht vergessen“
„Aber du liegst falsch. Jeder Mensch besitzt einen Charakter, da gibt es keine Ausnahmen“, meint er und schaut mich ernst an. „Ich hätte dir jetzt ein Lied vorspielen können, irgendeines. Aber wo wäre der Unterschied gewesen, ob ich dir jetzt einen traurigen oder fröhlichen Song gezeigt hätte? Es ist doch alles das gleiche - es beschreibt das Leben“
Ich runzele die Stirn. „Aber ein Rauschen ist deswegen so besonders, weil…?“
„Nun, es spiegelt einfach deine Worte wieder. Ein Rauschen wirkt im ersten Moment charakterlos, nicht?“
„Kann sein…“, erwidere ich zögernd.
„Aber hast du es eben nicht noch als nervig empfunden? Ist das nicht auch eine Eigenschaft?“
Verblüfft schaue ich ihn an. Dieser Kerl hat wirklich ein Talent dafür, die eigenen Worte im Mund umzudrehen!
„Ich persönlich finde White Noise sehr beruhigend“, fährt Milan fort. „Es entspannt mich irgendwie und ist besser als irgendein Lied, wo man über die Facetten des Lebens schwafelt. White Noise ist eine Sache für sich. Irgendwie etwas Besonderes. Unauffällig und gleichzeitig erlangt es doch die Aufmerksamkeit, wenn es plötzlich zwischen den normalen Liedern gespielt wird. Es steckt mehr dahinter, als nur ein Rauschen. Es besitzt Tiefen, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint. Doch meistens täuscht der Eindruck eben“
Verwundert starre ich ihn an.
„Weißt du, irgendwie ähnelst du auch dem White Noise“, meint Milan auf einmal mit einem kleinen, amüsierten Lächeln.
Meine Augenbrauen schnellen nach oben. „Ach, ja?“
„Du bist auch eher eine unauffällige Person, die in der Masse untergeht. Und doch fällst du auf. Weil du einfach anders bist. Du bist eine eigene Persönlichkeit und verstellst dich nicht. Auch wenn du glaubst, dass dich jeder in eine Schublade steckt - du bist auch du selbst in manchen Momenten. Oder hast du das Gefühl auch bei mir dich zu verstellen?“
„Ich…äh…also, ich…“, stottere ich überrumpelt und spüre, wie Hitze in meine Wangen aufsteigt. Ich werde tatsächlich rot! „Also, eigentlich nicht, nein“
„Na also“
Milan wirkt zufrieden.
Ich kann darauf nichts erwidern, mir fällt einfach nichts Schlagfertiges ein. Er ist ein Rätsel, und damit wiederhole ich mich wahrscheinlich zum x-ten Mal. Aber ich stelle es einfach immer wieder fest.
Verwirrt bemerke ich, dass der Zug den Bahnhof erreicht hat, wo Milan und ich nun aussteigen müssen.
„Wir sind da“, bemerkt er.
Ich nicke perplex.
Ja, das sind wir. Wieder Zuhause, wieder im Alltag, in der Routine.
Aus irgendeinem Grund finde ich, dass diese eigentlich eher kurze Zugfahrt wie ein Ausflug war. Eine kurze Exkursion in eine andere Dimension, in die Milan mich geführt hat.
Und – ich hätte nichts gegen eine Wiederholung.


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Ich hoffe, ihr habt die Worte von Milan irgendwie verstanden. :x Ansonsten entschuldige ich mich hierfür, dass es vielleicht ein wenig missverständlich war! Aber in meinem Kopf hat das Sinn gemacht. :-)
Vielen, lieben Dank nochmal für eure Kommentare! I
m nächsten Teil geht dann - im wahrsten Sinne des Wortes - die Party ab. Zumindest in meinen Vorstellungen, mal sehen, wie schnell ich mit dem Schreiben vorankomme. ;-)
LG






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