Schatten des Mondes - Teil 4

Autor: Ai
veröffentlicht am: 06.10.2012


Meine Mutter war selbstverständlich nicht die einzige Hexe im Tal, aber sie war ohne Zweifel die beste. Niemand wusste so viel über die Kunst des Zauberns, wie sie. Vor Jahren, als ich noch ein kleines Kind war, kam sie auf die Idee, ihr eigenes Geschäft zu eröffnen, um ihre heiß begehrten Tränke und Elixiere besser verkaufen zu können.
Als Kind dachte ich immer, dass all diese bunten Säfte doch sicherlich gut schmecken würden. Am besten gefiel mir ein hellblauer Trank. Als meine Mutter einmal nicht aufpasste, öffnete ich ganz vorsichtig die Flasche und nippte an dem hübsch aussehenden Getränk. Es schmeckte schrecklich bitter und stank zum Himmel. Doch bevor ich die Flasche wieder zurück auf ihren Platz stellen konnte, kippte ich auch schon um. Es war ein starker Schlaftrank, für Jemandem gedacht, der sehr, sehr schwere Schlafprobleme hatte und nicht für ein achtjähriges Kind. Selbst der kleine Schluck hatte mich für einen ganzen Tag ausgeknockt.
Mama war wahnsinnig beunruhigt. Verständlich. Deshalb durfte ich, als ich einigermaßen wieder auf den Beinen war, anfangen, alle Elixiere, was Wirkung und Zusammensetzung betraf, auswendig zu lernen. Ich sollte lernen, welcher Trank welche Wirkung hatte, und dass, nur weil etwas bunt war, nicht unbedingt gut sein musste.
In der Mittelstufe gab es das Wahlfach „Elixiere und Tränke“, speziell für die Hexen und Magiere unter uns. Zu dieser Zeit kannte ich mich auf diesem Gebiet schon besser aus, als die Lehrerin. Dadurch stand ich aber bei meinen Klassenkameraden nicht besonders hoch im Kurs. Für sie war ich eine Streberin und Besserwisserin, nur weil ich vor Jahren an einem Schlaftrank genippt hatte.
So führte mein großes Wissen über Elixiere und Tränke dazu, dass ich noch eine größere Außenseiterin wurde, als ich es ohnehin schon war. Aber dieses Wissen hatte auch positive Seiten für mich. Einmal war das Gefühl, allen Anderen weit überlegen zu sein, nicht schlecht, andererseits ließ mich meine Mutter dadurch im Laden mitarbeiten, was zur Folge hatte, dass ich mehr Taschengeld bekam.
Chica schleckte mir mit ihrer feuchten Zunge über die Stirn. Mama hatte inzwischen auch mitbekommen, dass wir neue Nachbarn bekamen. „Menschen?“ murmelte sie vor sich hin.
„Komisch, nicht?“ sagte ich, noch immer neben dem Bett auf dem Boden sitzend.
„Was?“ gedankenverloren sah sie mich an.
„Komisch, dass hier Menschen herziehen“, wiederholte ich, doch meine Mutter reagierte gar nicht mehr darauf. Sie starrte nur aus dem Fenster.
„Ich muss zu Draco“, murmelte sie dann in sich hinein und bevor ich sie fragen konnte, was sie damit gemeint hatte, war sie auch schon aus meinem Zimmer verschwunden. Seufzend hievte ich mich auf mein Bett und ließ mein Gesicht in die Kissen fallen. Es gab so viele Dinge, die hier passierten und von denen ich absolut keine Ahnung hatte. Aber ich hatte immer das Gefühl, es ist besser, wenn ich nicht nachfrage.
Chica winselte und leckte mir die Hand ab. Sie hatte Hunger. Das hieß für mich, es führte kein Weg mehr am Aufstehen vorbei. Langsam drehte ich mich auf den Rücken und ließ meine Beine vom Bett baumeln. Ein weiterer Winsler bewegte mich dazu, aufzustehen und langsam aus dem Zimmer zu stapfen. Als ich, nach einer gefühlten Ewigkeit, in der Küche ankam, saß Chica schon schwanzwedelnd vor ihrem Napf und wartete schon sehnsüchtig auf ihr Futter.
Allgemein bekannt ist ja, dass die beliebtesten Gefährten von Hexen Katzen sind. Danach kommen Raben und das war es dann eigentlich schon. An einen Hund wäre da gar nicht zu denken. Meine Mutter hatte auch eine Katze und einen Falken. Zwar kein Rabe, aber immerhin ein Vogel. Ich hatte nur Chica. Normalerweise fühlten sich Hexen und Magiere immer zu Katzen hingezogen. Das lag wahrscheinlich in den Genen oder so. Bei mir drängten sich in dieser Hinsicht wohl die Gene meines Vaters in den Vordergrund. Der war nämlich, auch wenn ich das gerne bestreiten würde, ein Werwolf und somit eher ein Hunde- als Katzenfreund. Das könnte erklären, warum zwischen mir und Katzen die Chemie nie so richtig gestimmt hat.
Aber ich danke Gott, oder wer auch immer dafür verantwortlich war, dass diese Sache die einzige war, die ich von meinem Vater geerbt hatte. Wenn ich nur daran denke, wie sich seine Werwolffrau und meine Werwolfgeschwister jeden Freitag beim Essen aufführen, läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Bei Vollmond ist es natürlich nochmal zehn Mal so schlimm. Wie gesagt, die Familie meines Vaters würde ich am liebsten nicht kennen.
Chica hatte ihren Napf innerhalb von Sekunden leergefressen. Träge trabte sie ins Wohnzimmer zu ihrem Körbchen, wobei das bei ihrer Größe doch schon ein ausgewachsener Korb war, und ließ sich mit vollem Elan hineinfallen. Ein kleiner Seufzer würde von einem lauten Schnarchen abgelöst und schon war sie eingeschlafen. Sie war schon ein besonders faules Tier.
Ich machte mir ein Müsli, setzte mich auf die Couch, schnappte mir die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Eigentlich zog ich ein gutes Buch dieser Flimmerkiste vor, aber ich brauchte jetzt etwas stumpfsinnige Unterhaltung. Doch genau eine Sekunde nachdem ich es mir gerade bequem gemacht hatte, klingelte es an der Tür. Ich hasste diesen Tag jetzt schon, obwohl ich gerade erst ein paar Minuten wach war.





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