Turkish Delights - Zucker und Zorn - Teil 11

Autor: Maggie
veröffentlicht am: 20.02.2013


Urlauber waren schon so ein Phänomen für sich, dachte Marlena müde.
Sie hatte die Touristen nun seit gut einer halben Stunde beobachtet und war zu dem Entschluss gekommen, dass sie selbst nie wieder in ihrem Leben einen Urlaub in einem Pauschalhotel buchen würde – es war einfach nur peinlich.
Die Beach Party war im vollen Gange. Die billigen, alkoholhaltigen All-Inklusive-Getränke flossen in Strömen, ebenso der Stolz der meisten Gäste, allerdings abwärts.
Eine Gruppe von jungen Männern johlte und grölte zu würdelosen Ohrwürmern aus dem letzten Jahrzehnt, der überwiegende Teil der weiblichen Vertretung schwang ihre mehr oder weniger ansehnlichen Körper zu eben diesen Rhythmen und Marlena hielt sich auffällig bedeckt im Hintergrund.
Eigentlich sollte sie sich auch auf der Tanzfläche befinden, so wie Micha,Tülin und die drei anderen Animateure, die für die Erwachsenen verantwortlich waren. Das war Anweisung, sie mussten ja schließlich höllisch gute Laune heucheln und die Gäste zum tanzen auffordern. Nicht dass das nötig gewesen wäre, der Strand war voller Menschen und es gab kaum jemanden, der nicht seine Hüften schwang – bis auf Marlena.

Sie konnte nicht mehr. Im Laufe des Tages hatte sich ihr Zustand enorm verschlechtert.
Die Tabletten hatten keine Chance mehr gegen das Fieber und nur der Gedanke, dass sie später noch Yati treffen sollte, hielt sie halbwegs auf den Beinen.
Dieser stand im übrigen ziemlich lässig am Tresen der Beach-Bar gelehnt und unterhielt sich mit einer brünetten Frau, die Marlena als die Mutter von dem kleinen Jeremy-Jason-Finn erkannte. Der Quälgeist war hoffentlich nicht auch noch hier, dachte sie erschrocken und sah sich verstohlen nach dem Vierjährigen um.
Indes tanzte Micha unauffällig auf sie zu. „Marli...“, knurrte er lächelnd. „Steh hier nicht so dumm rum...“, dabei nickte er in Richtung des Weges, welcher zu dem Hauptgebäude der Anlage führte.
Ein kleiner Schreck jagte durch ihre müden Knochen, als sie sah, das Nazar Canavar auf den Strand zuschlenderte.
Micha warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu, dann reichte er ihr seine Hand und sie ließ sich von ihm in das Getümmel führen.
Auch wenn sie weder Lust, noch Energie, geschweige denn die Kraft für eine Tanzeinlage hatte, so war sie Micha ziemlich dankbar. Es war eben ihr Job, hier so zu tun, als würde ihr die ganze behämmerte Veranstaltung gefallen. Hätte Nazar sie so trostlos am Rande stehend erwischt, wäre sie heute zum zweiten Mal negativ aufgefallen, einen Umstand den es tunlichst zu vermeiden galt.

„Heyyyyyyy! Heyey Baby! Uh! Ah!“, schallte es plötzlich überlaut an ihrem linken Ohr.
Marlena hatte sich in die Mitte der Menge vorgearbeitet und mit einem gekünstelten Lächeln zaghaft im Takt gewippt, so unauffällig wie möglich eben, umzingelt von Leuten und unsichtbar für Vorgesetzte.
Doch nun umfassten schwitzige Hände von hinten ihre Hüfte, pressten sie an den dazugehörigen Körper und zwangen sie dazu, sich zu dem furchtbaren Lied völlig außerhalb des Taktes zu bewegen. Damit hatte Marlena nicht gerechnet.
Leicht empört drehte sie sich um und sah sich blutunterlaufenen Augen gegenüber.
Ein Gast, wahrscheinlich einer aus der betrunkenen Junggesellentruppe, war auf sie aufmerksam geworden und grinste sie nun mit einem beachtlichen Silberblick an.
„Du bischt doch eine von den Amatörn!“, schrie er ihr entgegen. Seine Fahne hätte sogar den stärksten Alkoholiker aus den Latschen kippen lassen.
Marlena überfiel eine Welle von Ekel und Übelkeit.
Dennoch lächelte sie freundlich zurück.
Sofort verstärkte sich sein Griff, er presste seinen Unterleib gegen ihren Po, zwang sie, sich mit ihm zu bewegen und Marlena überfiel ein kleiner, aber feiner Panikanfall.
Sie versuchte sich von seinen vorwitzigen Händen zu befreien, umfasste seine Arme und drückte diese von sich weg.
Als Antwort lachte er ihr rau ins Ohr.
Wahnsinnig lustig, dachte Marlena wütend. Du besoffener Hampelmann!
Sie wehrte sich nun vehementer gegen seine körperliche Präsenz, machte sich stocksteif und das eh schon unwirkliche Lächeln gefror ihr im Gesicht.
Sie verabscheute solche Situationen.
Selbst wenn sie gerade nicht aus beruflicher Pflicht dazu gezwungen wäre, dem Gast gegenüber höflich zu bleiben, hätte sie dennoch Schwierigkeiten, sich aus dieser misslichen Lage geschickt zu befreien.
„Nu hab disch nisch so!“, nuschelte er ihr in den Nacken.
Seine Bewegungen wurden mittlerweile anzüglich, Marlenas Herz hämmerte gegen ihre Brust, sie zwang sich ruhig zu bleiben und sagte so bestimmend, wie möglich: „Lass mich sofort los!“ Natürlich zitterte ihre Stimme verräterisch und sie war sich ziemlich sicher, dass er kein Wort von ihrer lächerlichen Ansage verstanden hatte.
Er drückte seinen Schritt gegen sie, seine Hände schossen blitzschnell von ihren Hüften fort und er umschlang mit seinem rechten Arm ihren Oberkörper. Es fühlte sich an, als würde eine Python ihr die Rippen brechen wollen. Sie schnappte entrüstet nach Luft, spürte sein sich ekstatisch kreisendes Becken an ihrem Hinterteil und registrierte dann völlig fassungslos, dass seine rechte Hand erst ihren Bauch streichelte, dann unter das T-Shirt kroch, um letztendlich in besorgniserregender Geschwindigkeit in tiefere Gefilden hinabzudringen.

Die Dreistigkeit, mit der dieser Urlauber vor ging, ließ Marlena kurzzeitig zu einer Salzsäure erstarren, dann explodierte in ihr ein Gewitter aus Entrüstung und sie kämpfte mit unglaublicher Kraft gegen seinen Klammergriff an.
Zu ihrer Erleichterung hielt die vorwitzige Hand inne, dennoch konnte sie sich nicht aus seinen Klauen befreien, während Dj Ötzi im Hintergrund immer noch fröhlich vor sich hin jodelte.
„Sofort los lassen!“, fauchte sie aufgebracht.
Er lachte wieder. Nahm sie überhaupt nicht ernst.
Stattdessen drehte er sie mit Leichtigkeit herum und umklammerte dabei ihre Oberarme. Marlena war froh, nicht mehr seinen widerlichen Trockensex-Übungen ausgesetzt zu sein, fühlte sich dennoch nicht viel wohler mit dieser Wendung.
Nun sah sie sich seinem Gesicht gegenüber.
Er musste unglaublich betrunken sein, stellte sie fest.
Seine Augen schielten an ihr vorbei, seine Haut glänzte vor Schweiß und ganz allgemein entglitten ihm seine Gesichtszüge in netten, regelmäßigen Abständen.
Marlena konnte nicht sagen ob er hübsch oder hässlich war. Mund, Augen und Nase ergaben nur noch eine komische Fratze, gezeichnet von übermäßigen Alkoholkonsum. Außerdem stank er nach einer Mischung aus billigen Parfum, Whisky und irgendetwas Süßlichem.
Wie automatisch hielt sie ihren Atem an.

„Was stellsten disch so an?“, hauchte er ihr direkt ins Gesicht.
Marlena überging die sinnfreie Frage und starrte ihn erbost an. Sie spürte seinen zu festen Griff um ihre Oberarme und versuchte sich freizuzappeln.
Der aufdringliche Typ ließ sie jedoch nicht los.
Es war, als wäre die Zeit um sie herum stehen geblieben. Sie befanden sich noch immer mittig des Getümmels, Leiber tanzten an ihnen vorbei, hier und da stieß ein Ellenbogen in ihre Seite, die Musik dröhnte über den Strand und blinkende Partybeleuchtung erhellte den nächtlichen Himmel.
Und trotzdem lag Marlenas volle Konzentration auf dem betrunkenen Gast, der sich anmaßte, sie hier an ihrem Arbeitsplatz ernsthaft sexuell zu belästigen.
„LASS LOS!“, schrie sie ihn nun mit erheblich mehr Nachdruck an.
Er missachtete ihren Befehl und zog sie zu sich, viel zu dicht und viel zu nah an seine Lippen.

In diesem Augenblick schob sich eine fremde, rettende Hand zwischen die beiden.
Marlena erkannte Kasim, den türkischen Kofferträger der Anlage, der gleichzeitig eine Art Security, der persönliche Leibwächter Nazars und auch so die gute Seele des Hotels war.
Kasim war fast so groß wie Ben, ebenso muskulös und hatte ausgeprägte, türkische Züge – dass hieß, er blickte stets finster und konnte einem gehörig Respekt einjagen.
Marlena kannte ihn nur flüchtig, hatte von ihm allerdings schön öfter ein freundliches Lächeln geerntet und daher beschlossen, dass er schlimmer aussah, als er tatsächlich war.
Und in diesem Moment bestätigte sich ihre Annahme.
Kasim drängte sich bestimmt zwischen Marlena und den Touristen, dieser sah leicht schockiert zu dem großen Türken auf und wirkte auf einmal ziemlich jämmerlich.
Mit tiefer Stimme sagte Kasim: „Bitte belästige die Dame nicht.“
Ein schlichter Satz in gebrochenem Deutsch, trotzdem wirkungsvoll.
So schnell, wie sich ihr Belästiger nach dieser Ansage tummelte, konnte sie garnicht fassen.
Eine kleine Welle von Erleichterung durchlief sie, sie spürte, wie das Adrenalin ihren Körper aufputschte und registrierte ganz nebenbei, dass sie sich nicht mehr ganz so kränklich fühlte.

„Danke!“, sagte sie zu Kasim, der sich nun ihr zugewandt hatte.
Er schüttelte mit dem Kopf. „Dank nicht mir!“ Dabei deutete er zur Beach Bar. „Dank ihm!“
Marlena folgte seinem richtungweisenden Finger und riss die Augen auf.
Da stand Nazar, starrte sie an und sobald sich ihre Augen trafen, winkte er sie zu sich.
Das war definitiv das Letzte, was sie wollte. Ein weiterer Plausch mit diesem Unmensch!
Und dennoch war ihm aufgefallen, dass sie gerade in einer Notsituation gewesen war und hatte ihr seinen Lakaien zur Rettung gesandt. Er musste sie beobachtet haben.
„Komm mit.“, flüsterte Kasim ihr sanft ins Ohr und schob sie behutsam durch die tanzende Menge.
Nazar stand keine zwei Meter von Yati und der braunhaarigen Mutter entfernt, dennoch schienen sich Vater und Sohn geflissentlich zu übergehen. Jedenfalls stand Yati mit dem Rücken zu ihm.
Doch nun, da Marlena in Begleitung des stattlichen Türken erschien, drehte sich Yati um, blickte sie erst erstaunt an, als erwartete er, sie würde etwas von ihm wollen, und kniff dann verdrießlich die Augen zusammen, als Marlena vor seinem Vater stand und ein „Danke.“ stotterte.

„Selbst Schuld!“, war die die trockene Antwort ihres Bosses.
Marlena schoss das Blut in die Wangen, sie sah im Augenwinkel, das Yati sich komplett ihnen zugewandt hatte und wahrscheinlich seine volle Aufmerksamkeit nun ihr und seinem schon wieder ziemlich unhöflichen Vater galt.
Schon diese zwei Worte waren eine Kampfansage, ganz zu schweigen von Nazars funkelnden Augen, die ihr einzureden versuchten, dass sie diese Schlacht eindeutig verlieren würde.
„Das war nicht so einfach...-“, begann sie verteidigend.
Nazar schnitt ihr sofort das Wort ab. „Ihr habt die Anweisung mit Gästen zu tanzen! Dabei sollt ihr nicht gerade die Betrunkensten anbaggern...kein Wunder, dass dann SO etwas passiert.“, zischte er, wie eine schnappende Schlange.
„Anbaggern?“ Marlenas Stimmlage war ein Oktave höher gewandert.
Ihre Wangen glühten vor Scham und sie spürte zu viele Blicke auf sich gerichtet.
Hatte dieser Mistkerl gerade ernsthaft behauptet, sie hätte diesen Touri „angebaggert“? Sie schnaubte verzweifelt, dann startete sie einen weiteren Versuch, die Sache so darzustellen, wie sie wirklich war:
„Er hat MICH bedrängt! “, echauffierte sie sich aufgebracht.
Nazar zog skeptisch die Brauen in die Höhe. Sein Blick war so desinteressiert und gleichzeitig herablassend, dass Marlenas Wangen einen radieschenroten Farbton annahmen und sie sich am liebsten auf der Stelle im Sand vergraben hätte. Wie diese Vögel, die das immer mit ihren Köpfen machten, dachte sie und kam nicht mal mehr auf den Namen dieser gefiederten Tiere.

„Darf man fragen, worum es geht?“, flüssiges Karamell an ihrem Ohr.
Sie zuckte zusammen, Yati stand auf einmal auffällig dicht bei ihr, sein Körper schirmte den ihren minimal von dem seines Vaters ab, dennoch sah er sie an, furchtbar eindringlich und zu ihrer Überraschung, ehrlich besorgt.
Nazar dagegen sah überhaupt nicht erfreut aus. So, wie er seinen Sohn taxierte, konnte man vermuten, dass der Streit, den Marlena am Morgen zufällig mitbekommen hatte, noch immer nicht beigelegt war.
Sie wurde angeblich von einem Gast belästigt.“, sagte Nazar kühl zu seinem Sprössling, wobei er das sie entsetzlich abfällig betonte. „Allerdings ist das nur eine Behauptung. Für mich sah es anders aus...“
Hatte er das eben wirklich gesagt?
Marlena hätte gern gemutmaßt, dass sie mal wieder ihren Ohren nicht traute oder sie Wahrnehmungsstörungen dank des immer noch vorhandenen Fiebers hatte, jedoch brauchte sie sich keine Illusionen machen. Ihr Boss war tatsächlich der Meinung, dass sie es darauf angelegt hatte von einem sturzbetrunkenen Grapscher befummelt zu werden.
Ein letzter Funken Gegenwehr keimte in ihr auf, nicht zuletzt, weil Yati neben ihr, beziehungsweise vor ihr, stand und sie schon so viel Stolz besaß, dass ausgerechnet er nicht SO von ihr denken sollte.
Doch noch bevor sie überhaupt die richtigen Worte fand, sprang Yati ein.
„Ich glaube kaum, dass Marli sich an unsere Gäste ranschmeißt.“, sagte er belustigt. „Ganz im Gegenteil. Sie ist viel zu schüchtern für derartiges Verhalten.“ Sein Blick wanderte zu ihr, er zwinkerte ihr zu und sah diesmal alles andere als überheblich und unantastbar aus. Nein. Er bekannte sich eindeutig zu ihr und es musste auf Nazar so wirken, als würden sich die beiden relativ gut kennen.
Marlena musste sich leider eingestehen, dass es sich ziemlich toll anfühlte, wie Yati sie heldenhaft vor seinem einschüchternden Erzeuger verteidigte. Und um ehrlich zu sein, hätte sie das nie von ihm erwartet. Er setzte sich wirklich für sie ein, vor seinem Vater! Für sie war es kam zu fassen.

Nazar zog gelangweilt die dichten Augenbraue hoch und musterte sie und Yati prüfend.
Der Gedanke, der Marlena in diesem Augenblick kam, war absurd, aber Yati stand so nah bei ihr, beide frontal gegenüber des Managers und unter seinem urteilendem Blick...es fühlte sich einfach so an, als würden sie und Yati zusammen gehören. Als würde sie gemeinsam den Kampf gegen seinen Vater führen, einen fiesen Tyrannen.
Lächerlich!, besann sich Marlena.
Tülin hatte ihr doch erzählt, dass Yati ein Problem mit seinem Vater hatte. Kein Wunder, dass er jede Gelegenheit nutzte, um gegen ihn vorzugehen. Es hatte überhaupt nichts mir ihr zu tun und es gab auch nicht diesen dämlichen Umstand, dass Yati irgendeine besondere Art von Sympathie für sie empfand. Wahrscheinlich war sie einfach nur eine nette Abwechslung, um seinen Vater zu reizen.
Nazar lächelte erschreckend gekünstelt, als könnte er in diesem Moment in ihren Kopf schauen oder in ihrem Blick die Gefühle deuten, die sie heimlich für seinen Sohn empfand. Er konterte spitzzüngig: „Ach. Ich verstehe. Also ist die junge Dame genau das Gegenteil von dir, Hayati? Schließlich macht es dir nichts im Geringsten aus, die Urlauberinnen meines Hotels zu belästigen!“ Seine Zähne blitzen bei den Worten auf.
Ein Schlag unter die Gürtellinie!
Und Marlena fragte sich geschockt, ob er nicht vielleicht doch Gedanken lesen konnte.
Mit diesem Satz hatte er sie mehr verletzt als seinen Sohn und so fies grinsend, wie ihr Boss sie in diesem Moment ansah, hatte er das wahrscheinlich auch so beabsichtigt.

Hayati dagegen lachte. „Jaaaa...“, antwortete er nachdenklich, als schwelge er in wunderschönen Erinnerungen. „Dank meiner „Belästigungen“-“, seine Finger verzogen sich zu imaginären Anführungszeichen, „ - hast du wenigstens seit Jahren Stammkundschaft.“, fügte er dann in einem scharfen Ton hinzu.
Es gab ihn also doch noch, den alten Yati, den Aufreißer vorm Herrn, der nicht mal einen Hehl aus seiner schändlichen Anzahl von eroberten Urlauberinnen machte.
Ein bisschen fand Marlena ja, dass seine Antwort dennoch in einem trotzigen Teenagerton rüberkam, was ihn ihr, zu ihrer Schande, schon wieder viel sympathischer machte.
Nazar schnaubte. „Sicher. Und nicht zu vergessen die weiblichen Gäste, die wegen dir sogar hier her gezogen sind, nur eine Ortschaft weiter. Wie geht es Theresa? Hast du noch Kontakt zu ihr?“

Marlena klappte die Kinnlade runter. Yati neben ihr wurde stocksteif. Sie sah zu ihm hoch, auf der Suche nach seinem Gesichtsausdruck. Er blickte finster, irgendwie auch verletzt, als wär sein Vater zu weit gegangen.
Nazar dagegen grinste höhnisch, er wusste anscheinend, wo der wunde Punkt seines Kindes war...und dass er ganz nebenbei eine Bombe zum Platzen gebracht hatte, war ihm sicher nicht mal bewusst. Er konnte schließlich nicht wissen, dass Marlena Theresa kannte.
Und natürlich konnte er nur eine Theresa meinen – Bens Schwester, die, die ihr erst gestern von der großen Liebe erzählt hatte, wegen der sie ausgewandert war.
Dass Yati der Grund für diese, aus Marlenas Sicht, ziemlich hirnrissige Aktion war, das hätte sie nie vermutet, erst recht nicht, da die Beiden sich beim Tierschutz doch recht gut verstanden hatten. Ihr Verhältnis war ihr vertraut, aber trotzdem freundschaftlich vorgekommen.

Der Schock über diese Offenbarung saß ihr noch immer in den Knochen, als sie eine Hand auf ihrem Rücken spürte. Yati drückt sie leicht zu sich, verwundert sah sie zu ihm hinauf.
Er fixierte seinen Vater, die schönen Augen hart zusammengekniffen, der Kiefer angespannt – sein ganzer Körper schien unter Strom zu stehen.
„Danke für die Erinnerung, Vater.“ Marlena hatte noch nie Jemanden so sarkastisch dieses Wort aussprechen hören. „Da du Marli ja nun so nett in meine Vergangenheit eingeweiht hast, wirst du sicher nichts dagegen haben, dass ich sie für den Rest des Abends entführe.“
Mit diesen Worten zog er sie besitzergreifend an seine Seite, drehte sie zu sich herum und schliff sie hinter sich her.
Marlena war kurzzeitig viel zu perplex, um zu begreifen, doch dann nahm sie sich zusammen und versuchte, mit Yatis schnellem Schritt mitzuhalten, spürte ziemlich viele Blicke auf sich und hörte Nazar hinter ihnen zischen.
„Finger weg von meinem Personal, Hayati!“
Er hatte es nicht laut gesagt, doch Marlena war noch nah genug an ihm dran, um jedes einzelne Wort zu verstehen.
Yati beschleunigte seine Flucht, murmelte „Ignorier ihn!“ und intensivierte seinen Griff, mit dem er ihren Körper an den seinen drückte.

Marlena versuchte die abenteuerliche Tatsache zu verdrängen, dass es für Außenstehen mit ziemlicher Sicherheit so aussah, als wären die Beiden ein Paar...oder zumindest, als würde sie sich von Yati abschleppen lassen. Es war ihr egal! Das Gefühl an seiner Seite zu sein war so berauschend, aufregend und gleichzeitig verboten, dass sie am liebsten Raum und Zeit um sich herum vergessen hätte. Genauso, wie die brisante Enthüllung Nazars bezüglich Theresa.

Als Marlena und Yati den Trubel hinter sich gelassen hatten, verlangsamte er sein Tempo, klammerte sie allerdings noch immer an sich.
Etwas bekümmert musste sie feststellen, dass ihr diese Szene bekannt vorkam, keine vierundzwanzig Stunden her, hatte sie ebenso mit Yati an fast der gleichen Stelle gestanden. Und die Erinnerung holte sie zurück auf den knallharten Boden der Tatsachen.
Sie versteifte sich und hielt abrupt an.
Yati hatte wohl schon mit einer ähnlichen Reaktion gerechnet, zumindest blieb er ebenfalls stehen. Jedoch wandte er sich nicht ihr zu.
Er blickte mit ernster Miene Richtung Meer, dabei sah er zu Marlenas Leidwesen aus, wie eine in Stein gemeißelte Gottheit, mit kühnen Zügen, das dichte, schwarze Haar umschmeichelte auf eine unverschämte Art und Weise sein braun gebranntes Gesicht.
Der Mond schien so hell, dass sie das himmlische Blau in seinen Augen aufblitzen sah.
Und in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie das alles so nicht länger ertragen konnte. Seine Spielchen, dieses Heiß und Kalt seiner Gefühle, sein sprunghaftes Verhalten und diese zweideutige Art, mit der er sie stets behandelte.
Marlena war noch nie ein Freund von Geheimniskrämerei gewesen und sie hasste nichts mehr auf der Welt, als nicht zu wissen, woran sie war. Klare Verhältnisse und Strukturen hatten schon immer ihren Alltag bestimmt, noch nie hatte sie emotional so in der Luft geschwebt, wie den ganzen heutigen Tag und die letzte höllische Nacht, seit Yati sie gestern einfach aus heiterem Himmel geküsst hatte.
Ja, sie war schüchtern... und vielleicht auch naiv, unerfahren und manchmal etwas gutgläubig.
Jedoch hatte sie auch schon genug Leid gesehen, so viel erbärmliche und mitleiderregende Geschöpfe, dass es jedem Anderen für ein Leben gereicht hätte. Diese Erfahrungen hatten sie stark gemacht, nicht auf körperliche Weise, aber auf emotionaler Ebene. Sie hatte sich schon lange davon befreit, sich von Gefühlen lenken zu lassen.
Ein Tierschützer musste beherrscht sein, brauchte den nüchternen, überschauenden Blick, um dann entgegen seiner Gefühle, wie Ekel, Befangenheit oder auch Wut, zu handeln.
Keine Angst vor unangenehmen Konsequenzen, das hatte sie gelernt.
Und nun war es an der Zeit, diese Fähigkeiten auf einem menschlichem Level zu vertiefen.
Sie fasste all ihren Mut zusammen, ignorierte die einschüchternde Präsenz des Halbtürken und wollte einfach nur noch wissen, wo sie bei ihm stand:
„Yati...-“, begann sie mit klopfendem Herzen.

„Scht!“, zischte er in genau diesem Moment, legte einen Finger auf ihren Mund und sah sie ernst an. „Ich kann mir vorstellen, dass du tausend Fragen hast, aber lass mich zuerst, ja?“, hauchte er ihr flüsternd entgegen.
Selbst wenn sie nur den Funken einer Chance besessen hätte, sich gegen seinen eindringlichen Blick zu wehren, so war seine traumhafte Stimme, in dieser rauchigen Tonart, zu viel für ihr wankelmütiges Selbstbewusstsein.
Also sah sie ihn einfach nur mit großen, kullerrunden Augen an, nickte und verfluchte die kleinen Stromschläge auf ihren Lippen, die sein läppischer Finger allein schon bei ihr verursachte.
„Was hat mein Vater gegen dich?“, fragte er.
Marlena zwinkerte kurz überrascht, mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. Yati zog seinen Zeigefinger wieder weg, was sie mit einem kurzen, aber sehr enttäuschtem Gefühl quittierte, dann mahnte sie sich selbst zur Konzentration und antwortete mit einer Gegenfrage: „Was soll er denn gegen mich haben?“
Der Halbtürke lächelte ganz leicht. „Das frage ich dich, Süße!“
Marlena schüttelte verständnislos und kaum merklich mit dem Kopf , vereinzelte Strähnen hatten sich aus ihrem Dutt gelöst und der sanfte Wind ließ diese um ihren Kopf tanzen.
Yatis Blick verfing sich kurzzeitig in ihrem blonden Haar, aus seinem Lächeln wurde wieder eine dünne, ernste Bleistiftline.
„Ich meine -“, begann er zu erklären. „Er ist ja zu all seinen Mitmenschen stets unfreundlich und großkotzig, aber zu dir war er irgendwie besonders gemein.“ Er sah sie prüfend an. „Gibt es dafür einen bestimmten Grund?“
Marlena war tatsächlich ein klein wenig überrumpelt. „Einen Grund?“, sie überlegte kurz. „Nicht das ich wüsste. Wie meinst du das? Besonders gemein?“, fragte sie ihn interessiert.
Nun umspielte wieder ein fürchterlich charmantes Lächeln seine Lippen. „Weil ich genau gesehen habe, dass sich der Urlauber an dich rangemacht hat und nicht umgekehrt.“
Bei den Worten zwinkerte auf diese freche, spitzbübische Art und Weise, die Marlenas Blut viel zu schnell in Wallung geraten ließ und ganz nebenbei die Funktion ihres Hirns deaktivierte, die für das logische Denken verantwortlich war.
„Du hast mich beobachtet?“, fragte sie um Fassung bemüht.
Ein etwas betretener Ausdruck auf seinem Gesicht und das obligatorische am Kopf kratzen waren ihr Antwort genug, wobei diese Reaktion so garnicht zu seinem sonst so arschcoolem Verhalten passte.
„Warum hast du es nicht gesagt?“, fügte sie ihrer unbeantworteten Frage hinzu.
Yati zuckte mit den Schultern. „Muss ja nicht jeder gleich wissen, dass ich dich beobachte.“, antwortete er dann gespielt gelassen.
Marlena wusste, dass sie jetzt den Ball in der Hand hatte, sie durfte ihn so schnell nicht abgeben. „Warum beobachtest du mich?“, flüsterte sie ihm entgegen.
Yatis Reaktion war untypisch. Sie hätte mit einem weiteren Schulterzucken gerechnet, doch stattdessen sah er sie so intensiv, wie noch nie, an.
Seine Augen studierten ihre Gesichtszüge, fuhren über Stirn, Augen, Wangen und Nase um schließlich bei ihren Lippen inne zu halten. Marlena war wie hypnotisiert von seinem Blick.
Sie kam sich vor, wie eine in Trance gesetzte Schlange. Yati war der flötenspielende Guru, der sie mit einer einzigen Melodie in eine andere Welt befördern könnte, der sie in ein zahmes, marionettenähnliches Wesen verwandelte. Seine Augen spielten das Lied und Marlena war machtlos.
„Weil ich dich faszinierend finde.“, raunte seine Honigstimme.
Konnte das wirklich wahr sein?, fragte sie sich selbst in ihrem paralysiertem Zustand.
Meinte er das ernst? Ist das nicht wieder ein Spiel?

Marlenas Herz klopfte ihr bis zum Hals. Yati stand noch immer mit einem geringen Abstand zu ihr, noch konnte sie sich im entziehen, noch war da ein winzig kleiner Rest von einem klaren, kritischen Gedanken, der sie davon abhielt, ihm jedes Wort unüberlegt zu glauben.
Doch es blieb ihr nicht viel Zeit.
Die Atmosphäre um sie herum war schon wieder mehr als verführerisch. Nicht zum ersten mal fiel ihr auf, dass ihr diese Situation mehr als bekannt vor kam, eine kleine Zeitreise.
Sie waren wieder am Meer, die Wellen schlugen in einem ruhigen, regelmäßigem Abstand gegen das Ufer und die warme Luft in dieser dunklen Nacht, versetzte Marlena wie immer in einen befreienden Zustand voller Glücksgefühle.
Natürlich wünschte sie sich nichts sehnlicher, als wieder von ihm geküsst zu werden. Doch auf das Drama danach, die vermeintliche Reaktion, die Yati mit Sicherheit wieder an den Tag bzw. die Nacht legen würde, darauf konnte sie dankend verzichten.
Und diese Erwartung holte sie auch wieder einigermaßen zurück in die Realität, auch wenn Yatis Augen noch immer an ihren Lippen klebten.
Provokativ leckte sie sich kurz und zaghaft über genau diese, dann sagte sie selbstbewusster, als sie sich fühlte:“So faszinierend, dass du mich nach einem Kuss wieder stehen lässt?“

Yatis Augen schossen zu ihr hoch, er kniff sie etwas beleidigt zusammen. „Kann ich dir das Gegenteil beweisen?“, fragte er verführerisch lächelnd.
Nein Danke. - Das war das, was sie eigentlich hätte antworten müssen.
Doch stattdessen ließ sie sich in seine Arme fallen, wie eine liebestolle Irre, schloss die Augen und spürte im nächsten Moment seine weichen Lippen auf ihrem Mund.
In Erwartung eines weiteren, stürmischen Kusses klammerte sie sich vorausschauend an ihm fest, sie wusste, dass sie sich sonst nicht auf den Beinen halten können würde.
Doch Hayati küsste sie überraschend sanft und kurz.
Es war eine regelrecht liebevolle Berührung seiner Lippen, die sich nur für wenige Sekunden auf die ihre pressten, während seine Hände plötzlich sanft ihren Hinterkopf streichelten.
Es war zart, innig und nach Marlenas Geschmack viel zu schnell vorbei.
Sie wollte gerade ihren Mund leicht öffnen, weil sie mit seiner Zunge rechnete, oder besser gesagt, darauf hoffte, als er sich schon von ihr löste.

Mit überraschten und leicht enttäuschten Blick sah sie zu ihm hinauf.
Er betrachtete sie eingehend, wartete eine kleine Weile in der Marlena das Blut an den Schläfen rauschte, bis er dann unverschämt grinste. „Siehst du, ich bleibe.“, sagte er mit einem Augenzwinkern.
Marlena biss sich auf die Lippen. „Und nun?“, fragte sie erwartungsvoll.
„Nun...-“, seine Augen wurden wieder ernst. „Nun gehen wir erstmal zu Theresa. Wir haben dir da eine Menge zu erklären...“.
Er schnappte sich ihre Hand und sie folgte ihm.

Scheiße! Jetzt hat er gewonnen!, dachte sie, während sie neben ihm her lief, seinen festen Griff an ihrer gesunden Hand genoss und noch ein leichtes Prickeln auf ihren Lippen kitzelte.
Jetzt ist es zu spät! Ich bin ihm vollkommen ausgeliefert. Egal was ich erfahren werde, was sie mir erzählen werden, ich werde bis an das Ende meiner Tage diesem elendigen Halbtürken aus der Hand fressen.Hast du toll gemacht, Marlena! Wo ist denn die konsequente, knallharte Tierschützerin auf einmal hin? Hat sie sich nach einem Kuss in Luft ausgelöst?
Wie er es geschafft hatte, vermochte sie nicht genau sagen.
Doch diese plötzliche Ehrlichkeit, dieser unschuldige Kuss – es waren zwei Faktoren die wie eine Falle bei ihr zugeschnappt hatten. Sie war in einem verfluchten Filzkorb gefangen, der Deckel war zu und nur Yati konnte ihn öffnen, seine Melodie spielen und sie zum Leben erwecken.
Verdammter Mist!





Voilà! Ein neuer Teil, unpünktlich und viel zu spät – so wie es sich gehört :P
Erst wird Marli unnetterweise angemacht, dann entpuppt sich Nazar zu einem noch größeren Arsch und unser Yati wird zum Softie – was für ein Kapitel ;)
Hoffen wir mal, dass er Marlena nicht schon wieder an der Nase herum führt...und natürlich bleibt es spannend: Was werden er und Theresa ihr erzählen?
Ich denke im nächsten Teil werden endlich mal ein paar Fragen beantwortet!
Ich freue mich wie immer über Kommis und Kritik!
LG Maggie

PS: Für Tülin habe ich ganz andere Pläne, liebe Peri, und es liegt mir nichts ferner, als die türkischen Türken in eine Schublade zu stecken. Aber gut, dass du mich darauf hingewiesen hast, dass meine Charakterwahl dementsprechend unpassend ist, deshalb kommt Kasim, der Lakaie, jetzt mit ins Spiel. Mal sehen, wie er sich integrieren wird ;) Danke für deine Anregung!






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