Turkish Delights - Zucker und Zorn - Teil 4

Autor: Maggie
veröffentlicht am: 07.09.2012


Hui! Noch ein Teil? - Ja, den hatte ich gestern schon fertig, wollte aber kein Kapitel über 12 Wordseiten einschicken und habe somit zwei Teile draus gemacht :)
Viel Spaß ♥


Kapitel 4

Auf der Fahrt brachte Marelna kaum ein Wort heraus. Die Anspannung fiel von ihr ab und erst jetzt bemerkte sie, wie erschöpft sie war.
Theresa dagegen plapperte aufgeregt in einer Tour.
„Du glaubst garnicht, was wir uns für Sorgen gemacht haben! Wir dachten schon, man hätte dich gefangen genommen. Die Leute, die uns erwischt haben, waren alle bewaffnet und mächtig sauer...-“
So erfuhr Marlena, dass diese soldatenähnlichen Männer als erstes den Raum gestürmt hatten, in dem sie selbst sich befunden hatte. Allen aus ihrer Gruppe war die Flucht gelungen, die Anderen, also Yatis Gruppe, war entkommen, ohne dass sie von den Männern gesichtet wurden. Das Licht war auch bei ihnen angegangen und sie hatten sofort die Kurve gekratzt.
Marlena ging davon aus, dass die unheimlichen Typen schon nach kurzer Zeit in den anderen Raum gestürmt waren, wahrscheinlich hatten sie angenommen, dass sich niemand mehr dort befinden würde, während sie orientierungslos und völlig panisch durch die Käfigberge geirrt war. Der braunäugige Junge, der ihr die Freiheit geschenkt hatte, war vielleicht zur Sicherheit als Wachtposten am Eingang zurück geblieben.
„...-wir hatten es alle bis zu den Autos geschafft, Ali und Yati waren schon losgefahren, erst da ist mir aufgefallen, dass du fehlst. Und Arno, der Mistkerl, ist trotzdem einfach losgefahren. Ich hatte solche Angst um dich! Ich habe mich verantwortlich gefühlt, weil ich nicht richtig auf dich aufgepasst habe...aber in der Halle...wir waren alle so geschockt und sprachlos...ich habe dich extra noch gerufen und dann ging alles so schnell...“ Marlena hörte in Theresas Stimme, wie sie verzweifelt versuchte, sich zu rechtfertigen. „Wo warst du überhaupt auf einmal?“, fragte sie dann.
Marlena räusperte sich. „Ich...bin zu tief zwischen die Käfige gegangen, als das Licht anging, wusste ich nicht mehr, wo der Ausgang war.“, sagte sie leise. Es war ihr oberpeinlich dieses hohe Maß an Orientierungslosigkeit zuzugeben.
„Wie hast du rausgefunden?“ Yatis Frage traf sie unerwartet. Er klang aufrichtig interessiert und musterte sie über den Rückspiegel. Sofort brannten Marlenas Wangen vor Aufregung.
„Dank dem Huhn.“, flüsterte sie zaghaft.
Was war das denn für ein dämlicher Satz?, fragte sie sich sofort. Warum konnte sie nicht normal antworten und warum war ihre Stimme so dünn und zittrig? Spätestens jetzt hatte er sicher festgestellt, dass seine Gegenwart sie hypernervös machte.
Prompt zog er die Augenbrauen hoch, doch ehe er etwas erwidern konnte, fiel Theresa ihm ins Wort.
„Oh Marlena.“, sie seufzte. „Das war wirklich dumm von dir. Hätten sie dich mit dem Huhn erwischt, hätten sie auf dich geschossen, garantiert! Wie bist du da überhaupt ungesehen entkommen?“
Marlena schluckte einen dicken Kloß hinunter. Sie hätten auf sie geschossen?
Die Worte fraßen sich in ihr Unterbewusstsein. Was hatte sie nur für ein wahnsinniges Glück gehabt, dass der grimmige Junge mit dem Gewehr sie hat gehen lassen... und das sogar mit dem Huhn.
„Als ich endlich den Ausgang gefunden hatte, waren wohl alle in dem anderen Raum.“, antwortete sie nicht ganz wahrheitsgetreu. Aus irgendeinem Grund, wollte sie nicht von der Begegnung mit dem Hünen erzählen. Es erschien ihr besser, dies zu verschweigen.
„Es ist gut, dass du das Huhn mitgenommen hast, auch wenn es waghalsig und ziemlich töricht von dir war.“, sagte Yati tadelnd. Er richtete wieder kurz seinen stechenden Blick auf sie.
Töricht? Diese Aussage fand sie gemein und aus seinem Mund klang es fast wie eine Beleidigung.
Da es ihr an bissigen Gegenargumenten stets mangelte, schnappte sie aufgebracht nach Luft und funkelte seinen Hinterkopf an, er hatte schon längst wieder auf die Straße gesehen und zog nun seine Augenbrauen nachdenklich zusammen.
„Dank dem Huhn finden wir vielleicht raus, warum dort tausende Tiere ohne erkennbaren Zweck vor sich hinvegitieren“, sagte er finster.
Also hatte Marlena richtig vermutet. Die Hühner waren dort nicht, um geschlachtet zu werden oder um massenhaft Eier zu produzieren. Man hatte sie dort zum Sterben eingelagert.
Aber WARUM?
Während sie geräuschlos vor sich hin grübelte, die dunkle Landschaft an ihr vorbeizog und im Radio ganz leise ein türkischer Musiker rumdudelte, beobachtete sie ganz unbewusst Yati.
Seinen muskulösen Arm, der lässig in seinem Schoß lag, während er das Auto mit der anderen Hand lenkte. Die feinen Härchen in seinem Nacken, die dazu einluden, sanft darüber zu streicheln.
Verwirrt sah sie weg. Seine Präsenz schüchterte sie ein, genauso wir der Umstand, dass er wie selbstverständlich mit ihr sprach.
Ob er wusste, dass sie eine Angestellte seines Vaters war? Hatte er sich deshalb sofort dazu bereit erklärt, mit Theresa nach ihr zu suchen? Ob sie es wollte oder nicht, aber es schmeichelte ihr, dass er mitgekommen war. Er hatte sich Sorgen um sie gemacht, ganz sicher. Dann schüttelte sie unmerklich den Kopf. Was dachte sie denn da nur? Da war wohl ihre romantische Ader mit ihr durchgegangen, sagte sie sich spöttisch. Yati, der Unerreichbare sorgte sich garantiert nicht um sie, der Unauffälligkeit in Person.
Wahrscheinlich hatte ihn die Vorstellung gefürchtet, seinem herrischen Vater am nächsten Morgen den Verlust der Kinderanimateurin zu erklären. Hätte vielleicht unangenehm werden können, obwohl, wahrscheinlich hätte er so getan, als wüsste er von nichts und weiter munter mit den sonnenebräunten Touristinnen geflirtet.
Hässliche, nutzlose Gedanken waren das. Sie verbannte sie schnellstmöglich und konzentrierte sich auf das wirklich Wichtige.
„Habt ihr eine Vermutung, warum die ganzen Hühner dort so grausam verenden?“, fragte sie stattdessen.
Yati schüttelte zur Antwort seinen Kopf und konzentrierte sich dabei auf den Verkehr, der sich langsam verdichtete. Sie waren der Stadt schon ziemlich nah. Die entgegen kommenden Fahrzeuge tauchten sein Gesicht immer wieder in ein warmes Licht und Marlena studierte widerstrebend sein Profil. Sein Äußeres war schon anmaßend schön.
Er hatte ein kantiges, fast aristokratisches Kinn. Seine dichten Wimpern warfen lange Schatten auf die goldene Haut seiner Wangen. Ein leichter Drei-Tage-Bart verlieh ihm eine wilde, raue Art, die zusammen mit dem dichten schwarzen Haaren an einen Vollbluttürken erinnerte.
Doch er hatte nicht diese typische, etwas breitere Nase. Seine Nase war gerade und lang und fügte sich wunderbar in sein hübsches Gesicht.
Theresa unterbrach mit entschlossener Stimme ihre heimliche Begutachtung.
„Erstmal lassen wir dein Huhn untersuchen. Sollte es irgendwelche ansteckenden Krankheiten haben, wäre die erste Schlussfolgerung, dass die Tiere heimlich aus der Massenproduktion entfernt wurden.“
„Aber warum hat man sie dann nicht gleich getötet?“, fragte Marlena entsetzt. „Warum überlässt man sie einen solch brutalen Schicksal?“
Yati antwortete, ohne sie anzusehen. „Kannst du dir das wirklich nicht denken?“
Die Frage war eine Spur zu herablassend ihrer Meinung nach.
Trotzig gab sie zurück. „Gibt es überhaupt eine Rechtfertigung für Tierquälerei?“
Noch während sie das sagte, fiel ihr die Antwort selbst ein. Sie hatte sie schon gekannt, bevor sie überhaupt wusste, was sie am heutigen Abend wirklich erwarten würde. Yati zog im Rückspiegel wieder die schön geschwungenen Brauen in die Höhe, eine Geste, die fast unverschämt sexy wirkte und die sie jetzt schon viel zu sehr an ihm mochte. Er blickte halb skeptisch, halb belustigt.
Marlena versuchte sich dadurch nicht aus dem Konzept bringen zu lassen und formte ihre Gedanken in Worte:
„Ich nehme an, es ist durchaus billiger, Tiere zum Sterben zu verstecken und sie dann irgendwo zu verscharren, als sie fachgerecht und ohne Qual zu euthanisieren?“, fragte sie dann trocken.
Yati nickte anerkennend, ein kleiner Schauer durchfuhr sie dabei.
„Es dreht sich immer nur ums Geld, Marlena.“, sagte Theresa resigniert.
Ja, das wusste sie. Traurig aber war.
Sie sank erschöpft in ihren Sitz, während sie den Rest der Fahrt schweigend hinter sich brachten.

Angekommen im Vereinshaus, wurde Marlena viel zu lange und viel zu fest in die verschwitzten Arme von Ali gepresst. Er war wirklich außer sich.
Arno wich ihrem Blick aus.
Es war bereits weit nach Mitternacht, als sie in sich zusammen gesunken auf einem Stuhl kauerte und Theresa beobachtete, die sich heldenhaft an ihre Wunde wagte. Die Mullbinde war erschreckend rot, die Tatsache, dass dies ihr eigenes Blut war, konnte sie nicht länger leugnen, genauso wenig wie den stetig ansteigenden Schmerz, der sich pochend durch ihren ganzen Arm zog.
„Autsch!“, entfuhr es ihr, als Theresa behutsam die letzte Schicht des provisorischen Verbands entfernte. Am liebsten hätte sie gebrüllt vor Entrüstung über die Qual, aber Theresa gab sich wirklich Mühe.
Dann blickte sie angewidert auf ihre Hand. Ein langer und ziemlich tiefer Schnitt, zog sich durch die Innenfläche. Er war schrecklich zerfetzt und klaffte ihr regelrecht entgegen.
Es sah abartig aus.
Hätte sie etwas zu Abend gegessen, hätte sie sich auf der Stelle übergeben.
Verletzte Tiere zu sehen war die eine Sache, doch solch eine Wunde und dann noch an sich selbst, dass war zu viel für ihren überstrapazierten Geschmack.
Ali beugte sich zu ihr runter und beäugte misstrauisch die Verletzung.
„Oh oh oh!“, zischte er angstvoll und verpestete die Luft mit seinem Zwiebelgeruch. Marlena hielt die Atem an und würgte unauffällig. Ihr Gesicht wurde immer blasser.
„Ich muss das leider desinfizieren.“, stellte Theresa fest und sah sie dabei unheilvoll an.
Marlena ergab sich ihrem Schicksal und schloss in finsterer Vorahnung die Augen.
Sie hörte, wie eine Flasche geschüttelt wurde, dann mehrere zischende Sprüher und spürte plötzlich ein unglaubliches Brennen in ihrer eh schon schmerzenden Hand.
Sie presste ein „Uhhh!“ hervor, während der Schmerz sich durch ihren ganzen Körper zog und ihr die Brust einschnürte.
„Tapferes Mädchen!“, lobte Theresa, dann tupfte sie um die Wundränder herum und verband die Verletzung mit einer frischen Mullbinde.
Marlena stand der Schweiß auf der Stirn. Sie war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen und sah alles verschwommen. Wahnsinnig tapfer, sagte sie sich sarkastisch.
„Ja! Mutig ist sie wirklich, unsere Kleine!“, stimmte Ali wohlwollend zu und lächelte sie liebevoll an.
Marlena nickte nur, während sie krampfhaft versuchte, wieder klare Bilder zu sehen.
„Du hast heute bewiesen, dass du für diese Arbeit aus dem richtigen Holz geschnitzt bist!“, sagte eine mausgraue Frau, die ihr bis jetzt noch nicht aufgefallen war.
Marlena hasste es, im Mittelpunkt zu stehen, besonders dann, wenn sie um ihre eigenen Fassung rang und die schlimmsten Schmerzen ihres Lebens zu verstecken versuchte. Sie lief radieschenrot an, wobei sie die Blicke der verbliebenen Vereinsmitglieder auf sich ruhen spürte. Die Meisten waren zwar schon aufgebrochen, doch ein kleiner Teil befand sich noch in dem Haus, darunter auch Yati.
Und dieser ergriff mit seiner Karamellstimme als nächster das Wort.
„Wir können froh sein, dass sie noch unter uns weilt. Was heute passiert ist, war grenzwertig, Ali!“, er fixierte den alten Türken ziemlich herausfordernd, während Marlena ihren Ohren nicht traute. „Du sagtest doch, dass Gelände sei nicht bewacht! Was war da los?“ Seine Frage war fast aggressiv.
Marlena tat der Vereinsgründer beinah leid, Yatis blaue Augen konnten erschreckend kalt blicken.
Ali schüttelte den Kopf.
„Hayati -“, begann er abwehrend. „Du weißt, wie lange ich das Gebiet beschatten lassen habe. Nachts war dort nie jemand anzutreffen. Du weißt, ich würde keinem von euch bewusst solch einer Gefahr aussetzen!“ Er klang ehrlich und erschüttert.
Yati nickte nur, er wirkte nicht überzeugt.
„Dann war es ein verdammt unglücklicher Zufall oder...-“ , er sah einmal durch die kleine Runde, wobei sein Blick nur kurz auf Marelna verweilte. „...oder jemand hat uns verraten!“
Bei seinem Verdacht wurde es mucksmäuschenstill im Zimmer, die Temperatur schien um fünf Grad gesunken zu sein. Alle starrten ihn an.
„Das ist doch nicht dein Ernst!“, sagte Theresa empört und funkelte ihn dabei an. „Willst du behaupten, unter uns steckt ein Maulwurf!?“
„Ich behaupte garnichts!“, antwortete er abfällig. „Ich frage mich nur, wie so etwas passieren konnte.“ Dabei sah er wieder fragend zu Ali.
Dieser wirkte zunehmend nervös.
„Das fragen wir uns wohl alle.“, erwiderte er ausweichend. Dann wandte er sich ab und verließ den Raum mit eiligen Schritten.
Marlena war völlig perplex. Was war das denn gewesen?
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Theresa und Yati einen Blick tauschten. Zwischen ihnen schwebten unausgesprochene Worte.
Ein kurzer und heftiger Stich der Eifersucht traf sie bei dieser verschwörerischen Verbindung zwischen den Beiden. Dann kam sie wieder zur Besinnung.
Eindeutig zu viel für diesen Abend, mein Verstand ist absolut unbrauchbar!, stellte sie über sich selbst schockiert fest.
Im selben Moment kam Yati plötzlich auf sie zu und ihr Herz setzte aus.
Er kniete sich zu ihr runter. „Soll ich dich mit nach Side nehmen, Marlena?“ Er flüsterte ihr zu und zwinkerte.
Gut, nun war sie sprachlos. Das war definitiv zu viel Aufmerksamkeit von Hayati Canavar für einen einzigen Abend und die Erkenntnis, dass er nun doch offensichtlich wusste, wer sie war, steuerte auch nicht besser zu ihrer Verwunderung bei.
Marlena wusste nicht, was sie davon halten sollte, trotzdem nickte sie mit dem Gesichtsausdruck eines Fisches, kam sich unendlich deppig vor und stand ungelenk auf.
Gemeinsam verabschiedeten sie sich, Theresa umarmte sie ein letztes Mal und blickte sie dabei prüfend an.
Im Auto ergriff Yati sofort das Wort.
„Es ist ganz schön spät. Das wird morgen kein leichter Tag für dich.“, stellte er fest.
Sie sah in mit großen Augen an.
„Kein Tag mit diesen kleinen Monstern ist leicht für mich!“, war ihre ungewohnt schlagfertige Antwort. Woher sie den Mut dazu genommen hatte, wusste sie selbst nicht. Yati lachte. Es stand ihm außerordentlich gut und seine geraden Zähne blitzen hell auf.
„Das ist mir auch schon aufgefallen.“, grinste er.
Seine Antwort verschlug ihr die Sprache.
Es war ihm schon aufgefallen? Sie war ihm aufgefallen?
Nun glotzte sie ihn entgeistert an. Er schielte zu ihr hinüber und lachte wieder.
Sein Charme war wirklich unschlagbar, ging es ihr durch den Kopf. Seine ganze Ausstrahlung war unheimlich anziehend.
„Du kannst dich nicht sonderlich gut durchsetzen, oder?“, fragte er mit einem frechen Blitzen in seinen dunklen Augen, dessen Blau sie im Moment leider nur erahnen konnte.
„Nein.“, war ihre ehrliche Antwort und sie zog die Lippen zu einer schmollenden Schnute.
„Wie geht es deiner Hand? Du sahst vorhin ziemlich blass aus?“
Eine nette kleine Konversation, die sie da führten. Doch Marlena war viel zu eingeschüchtert, um überhaupt zu begreifen, dass der Mann, den sie schon seid ihrem ersten Tag in der Hotelanlage heimlich anhimmelte und er sie NIE auch nur zur Kenntnis genommen hatte, nun hier mit ihr Smalltalk führte. Und warum musste er eigentlich immer so verschmitzt zu ihr rüber blinzeln?
All das machte sie fast wahnsinnig.
„Gut. Alles bestens.“, log sie.
„Wie alt bist du eigentlich, Marlena?“
Die Frage schnürte ihr die Kehle zu. Wurde er jetzt persönlich?
Reiß dich zusammen!, schrie sie sich selbst an.
„Neunzehn. Und du?“ Die Gegenfrage war nur fair, außerdem interessierte sie es brennend.
Er lächelte ihr wieder zu. „Ich werde nächsten Monat 26.“
Oh, er sah irgendwie älter aus, schoss es ihr durch den Kopf. Gleichzeitig fand sie jedoch, dass ihn ein fast jugendlicher Charme umgab. Wenn er mit den Urlauberinnen flirtete blitze ein frecher Schalk in seinen Augen, der verriet, dass er unheimlichen Spaß bei dem hatte, was er gerade tat: Süße Mädchen angraben und sich seiner Wirkung dabei bewusst sein.
Doch an diesem Abend hatte sie kaum etwas von dem frechen Glitzern bei ihm gesehen. Er war ernst gewesen, besorgt und zum Schluss ziemlich sauer. Alles Eigenschaften, die ihn ihr irgendwie sympathischer machten, menschlicher.
Sie zog scharf die Luft ein. Schluss jetzt! Denk nicht weiter über diesen Mann nach. Er ist einer von der Sorte, die dir gnadenlos das Herz brechen kann. Jetzt ist er vielleicht nett, aber morgen läuft er wieder an dir vorbei, als wärst du Luft.
Marlena versuchte sich abzulenken. Sie sah aus dem Fenster und stellte fest, dass sie sich schon kurz vor Side befanden. Am Straßenrand standen überall diese typischen, riesengroßen Werbereklamen, ein Schild verriet ihr, dass sie sich kurz vor dem Touristenort Colakli befanden.
Er bog schweigend von der Hauptstraße ab und sie rumpelten über durch das kleine Zentrum in Richtung Strand. Dort befand sich am Rande des Vorortes das „Sunny Beach Resort“ - ihr Hotel.
Er hielt vor den Mitarbeiterunterkünften.
Der Moment des Abschiedes war gekommen.
Marlena wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Äh...Danke fürs Mitnehmen.“, brachte sie dann halbwegs geistreich hervor und fummelte an der Beifahrertür nach dem Türgriff.
Yati beobachtete sie belustigt. Immer nervöser strich sie mit der Hand über den mit Stoff bezogenen Rahmen und suchte eifrig nach dem Hebel. Um sie herum war es stockfinster, so dass es wirklich schwierig war, etwas zu erkennen.
Er lachte, dann schnallte er sich ab und beugte sich über sie hinweg. Dabei berührten sich kurz ihre Hände. Ein Stich zuckte durch Marlena hindurch.
Seine Hand war weich und warm, ihre dagegen war schwitzig und dreckig.
Er hing halb über ihr drüber und sein Duft stieg ihr in die Nase. Er roch köstlich – irgendwie typisch nach Aufreißer, frisch, sportlich – einfach lecker.
Sie musste ganz dringend hier weg!
Er öffnete die Tür und sie stolperte hinaus.
Ohne ein weiteres Wort rannte sie über das vertrocknete Gras, zerrte ihren Rucksack neben sich her und versuchte nicht auf das Motorengeräusch hinter sich zu achten. Kurz vor ihrem Zimmer blickte sie sich noch einmal um und sah den alten Golf wieder in Richtung Colakli holpern.
Was für ein Abend!, dachte sie völlig fertig. Was für ein Mann!
Dank ihrer kindlichen Schwärmereien für Yati hatte sie fast vergessen, was alles vorgefallen war.
Endlich nahm ihr Verstand die Oberhand über die pubertären Hormone und erinnerte sie daran, dass sie völlig aufgelöst und am Ende ihrer Kräfte sein müsste.
Und das war sie auch.
Hastig zog sie Hose und Shirt aus, so schnell und gut es ihr mit nur einer brauchbaren Hand möglich war, dann fiel sie in ihr Bett.
Bilder schossen ihr durch den Kopf, sobald sie die Augen geschlossen hatte.
Das Haus in Antalya, Ali, Theresa, Yati...das Gebäude, die Hühner, das Elend, der Junge mit den warmen Augen, Yati, das Huhn, wieder Yati, ihre Hand und letztendlich nochmal Yati.
„Verflucht!“, schimpfte sie in die Dunkelheit.
Alles drehte sich, ihre Hand schmerzte noch immer, so stark, dass sie sich bald kaum noch auf etwas anderes konzentrieren konnte. Sie brauchte dringend Schlaf. In wenigen Stunden musste sie wieder fit auf der Matte stehen!
Sie knipste das Nachtlicht an und wühlte in der Schublade neben sich nach Schmerztabletten, dabei fiel ihr Blick auf den Rucksack, den sie achtlos neben das Bett geknallt hatte.
Dann, ganz langsam und unheilvoll, kombinierte sie die Fakten miteinander und eine Welle von eiskalter Panik schoss durch ihren übermüdeten Körper.
Ihre verletzte Hand, ausgelöst durch den Sturz. In der Hand hatte sie vorher etwas gehalten, was in den Rucksack gehörte und was jetzt definitiv nicht darin war. Und das war verdammt übel.
Sie hatte während ihres zirkusreifen Sturzes die Taschenlampe und die Kamera verloren.
Die Taschenlampe war kein großer Verlust, doch die Kamera dort vergessen zu haben, war sowas von schlecht, dass ihr sofort ganz anders wurde.
Sie dachte dabei nicht an den materiellen Wert des Gerätes, sondern an die Bilder, die sie eigentlich von der Speicherkarte auf ihren Laptop hatte ziehen wollen, es aber zeitlich nicht geschafft hatte.
Bilder, die sie in den letzten Tagen gemacht hatte, von Micha, Tülin und sich – mit dem einzigartigen Logo des Hotels und ihren Namensschildern auf den orangenen T-Shirts.
Jeder Volltrottel konnte auf diesen Fotos erkennen, wo sie arbeitete, wie sie hieß und wie sie aussah.
Mit einem Schlag war ihr bewusst, dass die friedlichen und unbeschwerten Tage unter der türkischen Sonne vorbei waren – ab jetzt würde eine dunkle Wolke der Angst über ihr schweben.





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