Turkish Delights - Zucker und Zorn - Teil 2

Autor: Maggie
veröffentlicht am: 31.08.2012


So, weiter gehts ;)
Diesmal nicht so lustig, aber die Geschichte soll ja auch keine Komödie werden. Ich denke in diesem Teil werdet ihr feststellen, in welche Richtung sich die Story entwickelt :) Über Kommentare freue ich mich natürlich!!
Gruß Maggie ♥


Kapitel 2


Es war bereits später Nachmittag, als die zwei Mädchen erschöpft die Hotelanlage hinter sich ließen und gemütlich zu den Mitarbeiterunterkünften schlenderten. Die Sonne brannte noch immer heiß am Himmel und der kieselige Trampelpfad staubte trocken unter ihren Schritten.
„He! Mädels!“, rief es hinter ihnen. „Wartet doch mal!“
Tülin stöhnte genervt, Marlena drehte sich um und erkannte Michael, der dritte im Bunde.
Grinsend lief der großgewachsene Schönling auf die beiden Mädchen zu. Auch er trug die beigen Shorts und ein enganliegendes, orangefarbenes T-Shirt. Micha war für die „Teens“ verantwortlich, schwer zu begeisternde und pubertierende Nörgler im Alter zwischen 13 und 16 Jahren, mit denen er fast unheimlich gut umgehen konnte. Er war der geborene Animateur, immer gut gelaunt, stets ein unschlagbares Lächeln im braungebrannten Gesicht und jeden Tag mit einer Begeisterung für den Job, dass Marlena fast Angst bekam, auch irgendwann diese Arbeit zu lieben. Immerhin war es bereits die dritte Saison für Micha und laut seiner Aussage, machte es ihm von Jahr zu Jahr mehr Spaß. Ein höheres Maß an Perspektivlosigkeit konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.
„Na ihr zwei Hübschen!“, begrüßte er sie strahlend.
„Hey Micha.“, antworteten die Freundinnen Ton in Ton und lachten sich dabei an.
„Ich habe von deinem kleinen Zwischenfall im Plantschbecken gehört, Marliiii!“ Er betonte ihren ungeliebten Spitznamen und grinste dabei unverschämt. Marlenas Blick verfinsterte sich.
„Ja, war witzig.“, gab sie trocken zurück.
Er schlug ihr freundschaftlich auf den Rücken, sie zuckte unter seiner Berührung zusammen und wich ihm aus. Micha ignorierte ihre abweisende Reaktion.
„Mach dir nichts draus Süße, nicht jeder von uns kann es mit einem Sechsjährigen aufnehmen!“, er unterdrückte ein Lachen und wechselte mit Tülin einen verschwörerischen Blick. Diese musste sich auf die Innenseite ihrer Wange beißen, um ihre Freundin nicht an Ort und Stelle auszulachen.
Marlena schenkte beiden einen abfälligen Blick.
„Ihr seid echt das Letzte.“, sagte sie betont gelangweilt, konnte sich aber selbst auch ein Grinsen nicht verbergen, als sie an den dicken Jordan und das Bild, was sie mit ihm im Wasser abgegeben haben musste, dachte. Sie schüttelte selbstironisch den Kopf, während sie vor den Beiden herlief und sich langsam den Appartements der Angestellten näherte.
„Was macht ihr heute Abend?“, fragte Micha nach wenigen Sekunden des Schweigens.
Es war der freie Abend der Kinderclubanimateure, einer der beiden Einzigen, welche sie pro Woche hatten. Ansonsten mussten sie auch Abends für einige Stunden für mörderischen Spaß sorgen, indem sie Mini-Discos, Schnitzeljagden und andere völlig sinnlose Dinge organisierten. Ihr einziger freier Tag war der Sonntag, da mussten die Eltern dann doch selbst mal für das Entertainment ihrer Stammhalter sorgen.
Marlena stieg bei dieser Frage die Hitze in den Nacken. Ja, sie hatte heute etwas vor und schon seit Tagen hatte sie versucht, die unterschwellige Nervosität zu unterdrücken.
Sie reagierte einfach nicht. Micha und Tülin durften nichts von ihren Plänen erfahren.
„Nein, wieso?“, fragte Tülin halbwegs interessiert.
„Wir wollen nachher am Strand ein Feuer machen, ein bisschen was trinken und vielleicht den ein oder anderen Joint rauchen.“, antwortete er in kindlicher Vorfreude.
Marlena verzog das Gesicht. Sie lief noch immer vor den Beiden, so dass sie es nicht sehen konnten. Weder Alkohol noch Drogen hatten sie jemals gereizt, genauso wenig wie die Einladung zu solch einem klischeehaften Abend unter selbstverliebten Ekelpaketen. Denn wenn Micha von „wir“ sprach, dann meinte er sich und die anderen männlichen Animateure aus den naheliegenden Clubanlagen. Es gab auch ein paar Mädchen, die sich an solchen Abenden zu den Testosteronopfern trauten, allerdings waren deren Absichten alles andere als jugendfrei.
Ein einziges Mal hatte sie sich zu solch einer Veranstaltung überreden lassen. Letztendlich war sie mehr als geschockt gewesen. Sie kam sich vor wie in einem Swinger-Club, nur unter Palmen, Sternenhimmel und mit jeder Menge Sand in der Unterhose. Dort machte wirklich Jeder mit Jedem rum, alle dröhnten sich zu und feierten bis in die Morgenstunden. Sie hatte mehrere anzügliche Angebote ablehnen müssen und war schon nach kurzer Zeit angewidert und zutiefst erschüttert geflüchtet.
Nein, selbst wenn sie heute einem deprimierendem Abend in Gesellschaft des türkischen Wörterbuchs und der riesigen Spinne, die sie schon seit Tagen aus sicherer Entfernung beobachtete und sich nicht traute, zu entfernen, entgegen sehen würde, wäre ihr diese trostlose Aussicht allemal lieber, als das Saufgelage am Strand.
Tülin war auch nicht sonderlich begeistert.
„Nein, Danke Micha. Dann wohl eher doch nicht.“, sagte sie abwertend.
Sie waren bei der kleinen Appartementanlage angekommen. Marlena drehte sich zum Abschied um und sah Michas enttäuschtes Gesicht. Seine hellbraunen Augen fixierten sie.
„Kommst du wenigstens Marli?“, fragte er hoffnungsvoll.
Allein schon wegen des Namens hätte sie abgesagt. Sie schüttelte entschuldigend den Kopf.
„Viel Spaß heut Abend!“, wünschte sie ihren Freunden, entschwand zielsicher und blendete Tülins fragendes Gesicht aus, welche wahrscheinlich davon ausgegangen war, heute etwas mit ihr zu machen. Doch nicht mal Tülin konnte sie verraten, was sie an diesem Abend vor hatte. Es war ihr ausdrücklich verboten wurden.

Die Mitarbeiterunterkünfte ähnelten den Bungalowanlagen im Hotel, nur das sie viel verkommener und renovierungsbedürftiger waren. Es handelte sich um ein Gebäude, welches von oben als Rechteck betrachtet werden konnte. In der Mitte des Rechtecks befand sich ein Innenhof, von welchen die Eingangstüren zu den kleinen Wohnungen lagen und die Treppen, die zu den Appartements im zweiten Stock führten. Außen waren Balkons und Terrassen angelegt und wer Glück hatte, konnte von dort aus ein Stück vom Meer sehen.
Marlena bewohnte ein karg eingerichtetes Zimmer, welches Küche, Stube und Schlafzimmer in einem Raum vereinte und von welchem aus man nur die Bauruinen in der flachen Landschaft ringsherum sah.
Ihr standen ungefähr 30 qm zur Verfügung, plus ein fensterloses Badezimmer. Auf der Terrasse stand ein einsamer Stuhl, auf welchen sie manchmal Abends saß, umringt von der kleinen Katzenfamilie, die sie seit einigen Wochen regelmäßig fütterte. Ihre Nachbarn hatten sich bereits darüber beschwert, doch Marlena fütterte weiterhin stur die verlausten Streuner. Bald würde sie die Bande einfangen müssen und zum Kastrieren bringen, dachte sie zufrieden und in dem Bewusstsein, den Tieren dadurch ein längeres und stressfreieres Leben zu verschaffen.
Sie stieg eilig unter die Dusche, wartete gefühlte zehn Minuten auf halbwegs lauwarmes Wasser und schäumte sich dann großzügig ein. Ihre Haare wusch sie mindestens drei Mal, bis sie endlich das Gefühl hatte, sämtliche Chlorreste ausgespült zu haben.
Als sie dann später auf der Terrasse saß, ihre verbrannten Arme und Beine mit einer beruhigenden Apres-Sun-Lotion behandelte, zog sich ein heftiges Anspannungsgefühl durch ihren Körper.
In weniger als zwei Stunden würde sie in den Dolmus steigen und nach Antalya fahren.
Heute Abend war ihr erster richtiger Einsatz als Tierschützerin in der Türkei.

„Hands for Pads“, oder einfach nur proPads, übersetzt „Hände für Pfoten“, hieß der kleine aber feine Verein, für welchen sich Marlena schon in Deutschland entschieden hatte. Die reißerischen, aber ebenso genialen Texte und Aufrufe auf deren Homepage, hatten das Mädchen letztendlich überzeugt, sowie die Tatsache, dass es sich um ein deutsch-türkisches Ehepaar handelte und die Seite in ihrer Muttersprache verfasst war. Sie hatte mit Ali und Sandra Öztürk, welche auch ein Tierheim außerhalb Antalyas leiteten, Kontakt aufgenommen, eine ordentliche Geldspende überwiesen und war dem Verein beigetreten. Er bestand aus einer beachtlichen Anzahl von ehrenamtlichen Helfern und finanzierte sich größtenteils über Spenden.
Die Hauptaufgabe bestand darin, Streuner zu kastrieren, verwahrloste Tiere gesund zu pflegen und ab und zu bei Demonstrationen und Protestaktionen den Missstand des Tierschutzes lauthals rauszubrüllen.
Marlena gefiel das, nichts anderes hatte sie in Deutschland auch getan und sie liebte diese Arbeit. Doch bis jetzt hatte man ihr nur ein paar Futterstellen zugewiesen, sie hatte Sonntags in jenem Tierheim von dem Ehepaar Öztürk sauber gemacht und ein paar Katzen und Hunde eingefangen, die kastriert worden waren.
Doch heute sollte zum ersten Mal etwas wirklich spannendes passieren.
Ein heikler Einsatz außerhalb der Stadt auf einem Fabrikgelände war geplant. Was genau sie erwarten würde, wusste sie noch nicht. Sie hatte nur die Anweisung bekommen, sich dunkel zu kleiden, eine Skimaske und eine Kamera mitzubringen. Das klang auf jeden Fall vielversprechend und reichte, um sie gehörig nervös zu machen.
Sie erinnerte sich an einen Abend in Berlin. Mit ein paar Studenten war sie damals in das Unigebäude eingebrochen und sie hatten mickrige, weiße Mäuse aus einem Versuchslabor befreit. Damals war sie genauso aufgeregt gewesen und sich absolut nicht im Klaren darüber, dass sie sich mit dieser Aktion so richtig gründlich die Zukunft hätte versauen können, wären sie erwischt worden.
Dass sie heute nicht nur ihre Zukunft, sondern ihr ganzes Leben aufs Spiel setzten würde, war eine Tatsache, die ihr nie im Traum eingefallen wäre.

*

Zögerlich betrat sie das schäbige Haus, welches in einer der dunkelsten Gassen der quirligen Altstadt Antalyas versteckt lag. Das Hauptquartier des Vereins war der offizielle Treffpunkt, den Marlena nur mit Hilfe eines komplizierten Stadtplans gefunden hatte. Sie war einige Minuten zu spät, das wusste sie, trotzdem hatte sie keine Eile.
Hier würde sie zum ersten Mal fast alle aktiven Mitglieder kennenlernen und die Herausforderung, sich wildfremden Menschen gegenüber zu stellen, bereitete ihr wie immer leichte Übelkeit.
Sie ging langsam durch den dunklen und langen Flur des Gebäudes, alles machte einen ungepflegten Eindruck und es roch eindringlich nach tierischen Exkrementen. Sie wusste nicht direkt, wo sie hinzugehen hatte, vernahm aber am Ende des Flurs Stimmengemurmel. Sie wischte sich ihre schwitzigen Handflächen an der dunklen Jeans ab und sah ein letztes Mal an sich hinab. Das schwarze T-Shirt war hauteng und absolut ungeeignet für das mediterrane Klima im August am Mittelmeer. Ihre langen Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten und die zu kurzen Strähnen des herauswachsenden Ponys mit Klemmen seitlich festgesteckt. Sie trug schwarze Nikes und hatte einen dunkelblauen, gefälschten Jack-Wolfskinn-Rucksack geschultert, den sie letzte Woche für 15 türkische Lira in Side erstanden hatte.
Schon als sie vorhin in den Dolmus eingestiegen war, war sie sich wie eine Schwerverbrecherin vorgekommen und die Einheimischen hatten sie kritisch gemustert. Ihr dunkler Aufzug war ziemlich auffällig und völlig untypisch, wenn es selbst bei Sonnenuntergang noch weit über 30 Grad waren.
Vor der Tür blieb sie stehen, sie hörte mehrere Stimmen durcheinander reden, schöpfte Mut und klopfte an. Im Inneren wurde es still und sie öffnete die Tür mit einem lauten Knarzen.
In dem großen Raum befanden sich zirka zehn Leute, die sie alle neugierig betrachteten.
Marlena sah sich schnell um und erkannte Ali, den Kopf des Vereins, dem sie schon mehrere Male begegnet war. Der Türke lächelte erfreut und unter seinem dichten Bart strahlten in einer Reihe gelbliche Zähne, die Zeugnis eines außerordentlichen Zigaretten- und Kaffeekonsums waren.
„Marlena! Wie schön.“ Er breitete die Arme aus, um sie zu begrüßen. Marlena ließ sich flüchtig umarmen. Ali war Mitte Vierzig und roch nach Tabak, Aftershave und Zwiebeln.
„Sehr gut, jetzt sind wir fast vollzählig.“, sagte er begeistert. „Leute, das ist Marlena, unser neuestes Mitglied.“ Er drehte sie zu den anderen und Marlena lächelte schüchtern in die Runde.
Flüchtig erkannte sie ein paar Gesichter aus dem Tierheim, doch die meisten waren ihr völlig fremd.
Schnell setzte sie sich auf einen freien Stuhl, um der ungewollten Aufmerksamkeit zu entgehen.
Die freiwilligen Helfer fingen wieder an, untereinander zu murmeln und Marlena nutzte die Gelegenheit, sich unbemerkt umzusehen. Das Alter der Anwesenden reichte wahrscheinlich von Ende Zwanzig bis Mitte Fünfzig, sie selbst schien die Jüngste hier zu sein. Das war sie gewohnt. Nicht viele Mädchen in ihrem Alter interessierten sich für den Tierschutz.
Neben ihr saß eine hübsche Frau, mit kurzen braunen Haaren, sie war mit Sicherheit zehn Jahre älter als sie.
Die Frau schien ihren Blick zu bemerken, sah sie an und lächelte zaghaft.
„Hallo.“ Sie reichte ihr eine zierliche Hand. „Ich bin Theresa.“ Sie zwinkerte ihr zu.
Marlena lächelte ebenfalls schüchtern. Gerade wollte sie mit Theresa ein bisschen verhassten Smalltalk führen, um wenigstens eine Person zu haben, an die sie sich hängen könnte, da wurde die Tür ein weiteres Mal geöffnet, jedoch ohne das höfliche Klopfen, welches Marlena benutzt hatte, um sich anzukündigen.
Die Tür knallte in den Angeln und ein Mann kam zügigen Schrittes in den Raum gestürzt.
Marlena traute ihren Augen nicht. Augenblicklich rutschte ihr das Herz bis in den kleinsten Zeh und sie bekam wackelige Knie. Das konnte nicht sein.
Ali drehte sich dem Neuankömmling zu, nickte kurz in dessen Richtung und wandte sich dann an den Rest.
„So, wir sind vollzählig. Jetzt kann ich euch auch endlich verraten, was wir heute geplant haben.“ Er lächelte verschmitzt und Aufregung blitzte in seinen dunklen Augen.
Marlena saß stocksteif und ungesund verkrampft auf ihrem Stuhl und versuchte mit aller Kraft, nicht in die Richtung des jungen Mannes zu blicken, der nach ihr gekommen war und der ganz sicher nicht derjenige sein konnte, nachdem er aussah. Sie musste ihn verwechseln.
Aus dem Augenwinkel schielte sie zu ihm und zuckte sofort zusammen.
Kein Zweifel, es war Yati.
Er saß am äußeren Ende der Gruppe, hatte seine Hände lässig in den Hosentaschen versenkt und blickte interessiert zu Ali.
Sie zwinkerte blitzschnell und ihr Mund stand offen.
Ihr wurde bewusst, dass sie ihn anstarrte. Sie registrierte noch das schwarze T-Shirt, dass auf wundervolle Weise mit seinen Haaren harmonierte, dann riss sie ihren Blick los und lauschte wie betäubt Alis Ansprache.
„Es gibt da eine Sache, die uns schon länger ein Dorn im Auge ist.“, begann er zu erklären. „Eine alte Fabrikhalle im Hinterland, schon seit den Neunzigern nicht mehr im Betrieb und seit knapp zwei Jahrzehnten unbenutzt -“, er blickte skeptisch und fügte mit schnalzender Zunge ein „-angeblich!“, hinzu.
Marlena runzelte die Stirn. Ali sprach weiter.
„Seit fast zwanzig Jahren steht die Halle leer, dennoch ist der Zaun um das Gelände herum makellos, ohne ein einziges Loch, mit Stacheldraht gesichert und Leute haben regelmäßig Transporter und Lkws vor der Einfahrt gesehen.“
„Was für Transporter?“, fragte Theresa scharfsinnig. Ali zog vielsagend seine dichten Augenbrauen in die Höhe, als er antwortete. „Viehtransporter, Lkws mit Luftschlitzen – Fahrzeuge, die unsere Aufmerksamkeit erregen!“
Die anderen stimmten murmelnd zu und nickten wissend.
Marlena konnte sich ebenfalls denken, was dort ablief.
Es hörte sich nach illegalen Machenschaften an. Sie konnte ahnen, dass dieser Ort grausame Geheimnisse verbarg. Wenn dort Tiere hingeschafft wurden, dann nur, weil sie da draußen heimlich getötet werden konnten.
Sogar das >warum< konnte sie sich selbst beantworten: Wahrscheinlich ging es wie immer um Geld – sei es das Fleisch, Fell oder wertvolle Knochen. Wenn Tiere irgendwo still litten, dann meistens aus Profitgier des Menschen.
„Wir haben natürlich versucht, dort mit irgendjemanden Kontakt aufzunehmen.“ fuhr Ali fort. „Keine Chance. Um die ganze Sache wird ein riesen Geheimnis gemacht, niemand will etwas wissen, keiner ist verantwortlich. Wir können uns sicher alle denken, dass da irgendetwas faul ist.“, missbilligend verzog er seine dicken Lippen.
„Also fahren wir da heute hin und sehen uns mal ein bisschen um?“, fragte ein finster drein blickender Mann, der offensichtlich Türke war, aber akzentfrei deutsch sprach.
Ali nickte. „Genau das ist geplant. Wir sehen uns nicht nur um, wir werden in das Gebäude eindringen müssen. Yati und ich waren letzte Woche schon dort und haben uns die Gegend angeguckt -“ Wie automatisch blickte Marlena zu Yati, dieser starrte ernst auf einen Punkt der gegenüber liegenden Wand. Schnell sah sie wieder zu Ali. „- außerhalb der Halle ist nichts Verdächtiges zu finden. Wir müssen da definitiv rein! Und dann Gnade ihnen Gott!“
Die Worte hinterließen Eindruck, freudige Erregung zog sich durch den Raum und auch Marlena spürte ein undefinierbares Gefühl in der Magengegend, während sie sich fragte, wer überhaupt mit „ihnen“ gemeint war.
Alis Ansprache klang fast wie eine Motivationsrede eines amerikanischen Footballtrainers, der seine Mannschaft kurz vor dem Spiel Anweisungen gibt, aber sie auch gleichzeitig aufbaut. Irgendwie komisch.
„Es gelten die gleichen Spielregeln wie immer!“, sagte er streng. „Wir machen nur Bilder, sammeln Beweise und hauen dort wieder ab!“ Er sah warnend in die Gesichter seiner Helfer. „Wir begehen keine Straftat! Egal, was wir dort sehen, egal, was uns erwartet: Wir machen nur Bilder! Ihr behaltet einen kühlen Kopf! Ist das klar?“
Alle bejahten. Marlena lief ein Angstschauer den Rücken hinab.
Was er sagte, meinte er todernst.
„Marlena?“ Sie zuckte heftig zusammen.
Sofort stieg ihr Hitze in die Wangen und sie spürte alle Augenpaare auf sich gerichtet.
Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sie sich, ob Yati sie erkennen würde, sie zuordnen konnte. Sie glaubte nicht daran.
„Ja?“, fragte sie mit fast sicherer Stimme.
„Du hältst dich heute bitte an Theresa. Tue, was sie dir sagt, dann sollte dir nichts passieren.“
Auch diese Ansage klang eindringlich, sie nickte untergeben.
„Gut. Dann kanns ja los gehen!“ Ali rieb sich die Hände und alle standen auf.
Marlena erhob sich langsam und griff nach ihrem Rucksack, der auf dem Boden lag. Als sie auf blickte, verließ Yati bereits den Raum.
Sie wusste nicht im Ansatz, was sie von all dem halten sollte.

Es dämmerte bereits, als sie Antalya hinter sich ließen und über eine staubige Piste ins Hinterland fuhren. Marlena saß in dem Wagen von Arno, ein zerbeulter Transporter dessen Fahrer sehr wortkarg war und grimmig ab und zu einen Blick zu ihr über den Rückspiegel warf. Auf dem Beifahrersitz saß ein ebenso stillschweigender Mann, der sich flüchtig als Ronald vorgestellt hatte.
Beide waren offensichtlich Deutsche und Marlena hatte den Verdacht, dass die beiden Brüder waren. Zumindest sahen sie sich ziemlich ähnlich.
Neben ihr saß Theresa, auch sie war beunruhigend still und kaute nervös an ihren Nägeln, eine Unart, die Marlena zutiefst anwiderte.
Sie fühlte sich urplötzlich unwohl und fehl am Platz.
In Deutschland waren die Tierschützer viel freundlicher, stellte sie eingeschüchtert fest und fragte sich gleichzeitig, wie gefährlich die ganze Aktion werden würde, auf die sie sich so blauäugig eingelassen hatte.
Der Wagen raste über die Landstraße. Vor ihnen fuhren zwei weitere Fahrzeuge, ein Kleinbus, den Ali lenkte und ein alter Golf, in den Yati eingestiegen war.
Marlena nutzte die Ruhe und dachte über den Sohn ihres Vorgesetzten nach.
Sie hätte nie in ihrem Leben gedacht, dass er sich für Tiere einsetzen, geschweige denn interessieren würde. Unglaublich, dass er ausgerechnet in diesem Verein aktiv war, was für ein Zufall!
Ihm schien dieser Zufall weniger aufgefallen zu sein, dachte sie leicht eingeschnappt.
Er hatte sie nicht ein einziges Mal angesehen, geschweige denn durchblicken lassen, dass er sie kannte.
Und verdammt nochmal, er musste sie doch kennen!, dachte sie ärgerlich und verbittert. Schließlich war er quasi ihr Chef, wenn auch nur der Junior.
„Wir sind gleich da!“, sagte Ronald leise und riss sie damit aus den verqueren Überlegungen.
Sie sah aus dem Fenster und stellte fest: Hier war man mittendrin im Nirgendwo.
Um sie herum war einfach Nichts. Entfernt leuchteten die Lichter der Stadt und kleine helle Punkte, die sie als Autoscheinwerfer erkannte, bewegten sich erschreckend langsam auf der Hauptstraße in verschiedenen Richtungen und schienen kilometerweit entfernt zu sein.
Sie hielten vor einer riesigen Halle und parkten im Schutz von ein paar vereinzelt stehenden Bäumen. Das Gelände um die Halle herum war eingezäunt, nirgendwo brannte auch nur ein Licht.
„Aussteigen!“, befahl Arno.
Marlena befolgte verdutzt seiner herrischen Anweisung.
Als sie aus dem Transporter hüpfte, umfing sie die schwüle Nachtluft des Landesinneren. Hier war es nochmal gute fünf Grad wärmer, als an der Küste und sofort spürte sie, wie sie in ihrer dicken Jeans zu schwitzen begann.
Ihre Mitfahrer gingen schnurstracks zu Alis Auto, wo sich das Team versammelt hatte. Marlena folgte ihnen.
Keiner sagte ein Wort.
Es herrschte eine gewaltige Anspannung unter den Tierschützern. Marlena erkannte im Dämmerlicht die verkniffenen Gesichter, Theresa neben ihr war stocksteif. Yati stand ihr schräg gegenüber, sein Blick war fest auf das Fabrikgebäude geheftet und sie verlor sich kurzzeitig in seinem markanten Profil. Sie konnte zu gut verstehen, dass ihm die Urlauberinnen scharenweise verfielen, er war außergewöhnlich schön anzusehen und strahlte pures Selbstbewusstsein aus. Er wirkte sehr entschlossen.
„Auf gehts!“, flüsterte Ali und Marlena zuckte vor Schreck zusammen.
Die Gruppe schlich an dem hohen Maschendrahtzaun entlang. Oben war er mit Stacheldrahtrollen gesichert. Nach mehreren hundert Metern, sie hatten das Gelände fast bis zur Hälfte umkreist, fragte sich Marlena, wie sie denn diesen Zaun überwinden wollten, als sie vor einem auffälligen Pfosten anhielten. Der Pfosten war höher als der Rest der Zaunpfähle und direkt daneben setzte Ali eine Heckenschere an und knipste den Draht geschickt auseinander, die anderen setzten ihre Skimasken auf.
Jetzt wird es wirklich ernst!, schoss es Marlena durch den Kopf und sie dachte an Alis Ermahnungen, während sie ihre eigene Maske aus dem Rucksack fummelte und sie sich überzog.
Der dicke Stoff war unangenehm auf ihrem verschwitzten Gesicht, er kratzte.
Nach der Reihe krochen die Tierschützer durch das kleine Loch, Marlena war die Vorletzte.
Jetzt galt es noch gut 500 Meter Wiese zu überwinden, dann würden sie direkt vor einem großen Tor stehen, welches wahrscheinlich die Öffnung für das bedrohlich wirkende Gebäude war.
Sie liefen langsam, fast schleichend über das ungeschützte Gelände, als jemand von hinten Marlenas Arm nahm.
Ihr blieb kurz das Herz stehen, doch sie gab keinen Laut von sich.
Theresa war hinter ihr gelaufen.
„Warte mal kurz!“, zischte diese ihr zu. Marlena blieb stehen, es lag nur noch ein kurzes Stück vor ihnen. „Deine Haare! Sie leuchten richtig.“ Forsch nahm sie ihren Zopf und stopfte ihn unter die Maske. Marlena hielt still.
„Danke!“, murmelte sie ihr dann zu. Theresa zwinkerte nur. Dann gingen sie weiter.
„Hast du deine Kamera?“, fragte sie nach wenigen Schritten. Marlena hob zur Antwort die sauteure Canon, die ihre Eltern ihr vor dem Auslandsjahr geschenkt hatten, in die Höhe und dachte sarkastisch, dass das Gerät für solch einen Einsatz wohl nie gedacht war.
„Pass auf sie auf!“, warnte Theresa noch, dann holten sie die anderen ein, die sich in einer Traube vor dem Eingang versammelt hatten.
Nun klopfte ihr das Herz bis zum Hals.
„Wir teilen uns auf!“, sagte Ali bestimmend. Er deutete auf Marlena und die Personen, die ihr am nahesten standen, darunter auch Theresa. „Ihr übernehmt diesen Eingang.“, dabei zeigte er auf das dunkle Tor. „Arno übernimmt die Verantwortung. Ihr tut, was er euch sagt.“, dabei sah er ausgerechnet Marlena mehr als berechnend an. Sie nickte perplex und fragte sich gleichzeitig, warum überhaupt. Sie kam sich ziemlich einfältig vor. Dieser Befehlston war ihr völlig neu.
Etwas beleidigt sah sie an Ali vorbei und sofort blieb ihr Blick hängen.
Zwei stechend blaue Augen musterten sie abschätzend.
Es waren verdammt schlechte Sichtverhältnisse, er trug eine Skimaske und verschmolz in der schwarzen Kleidung geradezu mit der Nacht, trotzdem konnte es nur Hayati sein.
Marlena war völlig überrumpelt. Er sah sie wirklich an.
Vor Schock blickte sie sofort an ihm vorbei, ignorierte seine Präsenz und verbarg ihr zitternde Hand an dem Riemen ihres Rucksacks.
„Viel Glück!“, sagte Ali noch, dann drehte er sich um und seine Gruppe folgte ihm.
Marlena blieb als Häufchen Elend zurück, umringt von bitterernsten Menschen, die sie noch nicht mal länger als eine Stunde kannte.

Sie sah an dem dunklen Gebäude hinauf. Es wirkte einschüchternd. Sämtliche Fenster waren mit Brettern vernagelt, die Backsteine waren an manchen Stellen schon brüchig. Sie zählte drei Etagen und schätzte die Halle auf eine Länge von gut 400 Metern, in der der Breite maß sie wahrscheinlich die Hälfte. Sie war wirklich riesig.
Ihr Gefühl sagte ihr klipp und klar: Verschwinde hier!
Sie schluckte krampfhaft, dann beobachtete sie Arno, wie er vor der massiven Holztür kniete und mit einem Dietrich das Türschloss zu knacken versuchte. Es gelang ihm sofort, für ihren Geschmack viel zu schnell.
Er öffnete langsam die Tür, im Inneren war es vollkommen schwarz. Marlena folgte Theresa, die als eine der Letzten durch den Eingang ging.
Urplötzlich schlug ihr ein abartiger Geruch entgegen.
Sie unterdrückte einen ziemlich überwältigenden Würgereiz. Es roch so stark nach Exkrementen, Eiter und Verwesung, dass sie sich fragte, warum ihr dieser Stunk nicht schon draußen in die Nase gekrochen war. Die unerträglich schneidende Hitze verstärkte den Gestank und machte ihn irgendwie greifbarer, lebendiger.
Auf einmal war sie froh über die Skimaske, die ihren Mund bedeckte, denn es fühlte sich an, als atmete sie den Tod ein.
Irgendwer knippste eine Taschenlampe an und was sie dann sah, verschlug ihr nicht nur die Sprache, nein, es würde sich für Lebzeiten in ihr Gehirn brennen und sie bis zu ihrem Tod in den dunkelsten Stunden heimsuchen.
Sie befand sich in der Hölle.





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