Wenn Worte keine Bedeutung haben - Teil 2

Autor: zeitvorhang
veröffentlicht am: 28.08.2012


"Vielleicht sollten wir uns den Film zusammen ansehen, um uns ein Urteil darüber zu bilden."

Dieser Satz war praktisch die Aufforderung zu unserem ersten Date. Eigentlich hätte ich schon in diesem Moment mit irgendeiner Ausrede sagen sollen, dass ich nicht sonderlich daran interessiert war, "Never forget!" anzuschauen und mein Problem 'Dominik' wäre schon am nächsten Tag aus meinem geordneten Leben verschwunden. Aber ich genoss das Gefühl, wenn ich bei ihm war. Er war der erste Hörende, der nicht zu meiner Familie gehörte, bei dem ich das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit verspürte. Er brachte mit einem einzigen Lächeln die bisher schlafenden Schmetterlinge in Aufruhr und trieb mir bei den kleinsten Komplimenten schon die Röte ins Gesicht. Bis dato kannte ich diese Gefühle nicht - zumindest nicht in dieser Intensität, wie ich sie bei Dominik spürte.
Erst zu spät registrierte ich, dass es sich hierbei um die ersten Anzeichen der Liebe handelte.
Mit jeder SMS die er mir schrieb wurde mein Herzklopfen lauter und deutlicher und mein Guthaben schrumpfte in sich zusammen. Aber das war mir ehrlich gesagt egal, hauptsache ich blieb mit Dominik in Kontakt! Dem Menschen, der mein Leben von einem auf den anderen Tag bunter und lebenswerter machte.
Den ganzen Tag spukte sein Gesicht in meinem Kopf herum und auch nachts ließ er mir keine Ruhe. In meinen Träumen liefen wir händchenhaltend über blumige Sommerwiesen und lächelten uns verliebt an oder teilten uns einen riesigen Pärcheneisbecher in der 'Bar Celona'.
Tagsüber überprüfte ich mehrmals den Nachrichteneingang meines Handys und freute mich wie ein kleines Kind, wenn das SMS-Zeichen rot aufblinkte - und umso enttäuschter war ich, wenn mir ausnahmsweise nicht Dominik geschrieben hatte, sondern Carolin oder Amanda.
Die ganzen Erzählungen meiner Freunde über die Liebe, dass man fast nur noch positiv denkt und mit einem fetten Garfieldgrinsen durch die Gegend läuft, hatte ich bis dahin immer für schwachsinnig gehalten, doch ich musste mir leider eingestehen: es stimmte. Verdammt, und wie das stimmte!
Ich lebte auf Wolke 7 und sah alles durch eine rosarote Brille, die alle Pünktchen in kleine rote Herzchen verwandelte. Ja, mein Verstand litt mächtig unter diesem Umstand, aber um ehrlich zu sein war mir das schnurzpiepsegal - wie so vieles in dieser Zeit. Normalerweise durchdachte ich jeden Schritt bis ins kleinste Detail, wenn ich mit einem Hörenden in Kontakt trat, aber bei Dominik vergaß ich meine ganzen Vorsätze und lebte einfach - und es fühlte sich so richtig an!
In Dominiks Anwesenheit vergaß ich sogar, dass ich anders war als er. Die dicke, scheinbar unüberwindbare Mauer zwischen uns war durchsichtig geworden. Durchsichtig, nicht unsichtbar.
Es gab schon viele Situationen, in denen ich ihm sagen hätte können, dass ich hörgeschädigt war, aber ich hatte Angst. Angst, dass er mich von sich stoßen würde wie es bisher jeder getan hatte, dem ich vertraut hatte.
Dominik gab mir etwas Normalität in mein Leben zurück und schenkte mir so viel Glück, dass es mir - wieder einmal - egal war, dass ich womöglich dabei war, den größten Fehler meines Lebens zu begehen.

Der Freitagabend im Kino war eigentlich als ein ganz normales Date unter zwei sich näherkommenden Jugendlichen gedacht, doch für mich waren diese 113 Minuten die längsten und qualvollsten meines bisherigen Lebens.
Ich saß hochkonzentriert neben Dominik im Kinosessel und musste mich wirklich bemühen, dem Geschehen auf der Leinwand folgen zu können.
Als ich dann auch noch bemerkte, dass Dominik mich schief von der Seite angrinste, trug es auch nicht dazu bei, dass ich verstand, worum es in dem Film ging.
Der Film kam nicht aus Deutschland sondern aus irgendeinem osteuropäischen Land und somit konnte ich mein Lippenlesen vergessen, denn neben Deutsch konnte ich nurnoch Englisch und Französisch - und selbst da fiel es mir verdammt schwer, alles zu verstehen. Von dem Film bekam ich also nicht einmal die Hälfte mit und das wenige, das ich verstand, führte ich mir durch Gestik und Mimik herbei.
Ich war wirklich heilfroh, als dieser ewige Film endlich sein Ende nahm und ich mit Dominik den abgedunkelten Kinosaal verlassen konnte.

Schwerstarbeit nannte meine Freundin Amanda einen Film ohne Untertitel immer. Bisher hatte ich noch nicht die Gelegenheit gehabt, Filme ohne Untertitel anzusehen, aber innerlich musste ich nun Amanda zustimmen. Ich war fix und fertig und fühlte mich, als hätte ich eine vierstündige Mathearbeit hinter mir.
Die kühle Luft schlug mir entgegen, als wir durch die Tür ins Freie traten. Es war unheimlich befreiend, die Frische durch die Lungen segeln zu lassen und durch eine kleine Rauchwolke wieder auszustoßen.
Der Winter rückte mit kleinen Schritten näher, das konnte man an den Thermometern erkennen, in denen die Flüssigkeit von Tag zu Tag weiter nach unten sank.
"War der Film so schrecklich, dass du dich jetzt erst wieder dazu durchringen musst, um mit mir zu reden?", witzelte Dominik trocken und erntete von mir einen leichten Schlag auf den Oberarm. "Blödmann!"
"Und?", er blickte mich fragend an. "Wie fandest du den Film?"
Draußen war es schon dunkel, die einzige Lichtquelle war eine Straßenlaterne, die sicherlich bald den Geist aufgeben würde, so sehr flimmerte die Glühbirne schon. "Es wurde viel geballert und wenig geredet... aber ich denke, das war ganz gut so."
Sofort spürte ich seinen verwunderten Blick, der bei mir wie ein Blitz einschlug und sämtliche Alarmglocken losschrillen ließ. Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken herunter, als ich realisierte, was ich da gerade von mir gegeben hatte. Es war wie ein Fausthieb in die Magengrube, denn ich hatte etwas Entscheidendes vergessen - oder eher verdrängt.
Und wieder einmal wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich schwerhörig war und die Grenze zwischen uns quasi unüberwindbar war. Na ja, überwindbar schon, aber ich war viel zu feige, ihm die Wahrheit über mich zu erzählen. Ich hatte mir geschworen, Dominik nichts von meinen Hörgeräten zu erzählen, denn ich war mir sicher, dass dadurch die immer enger werdende Verbindung zwischen uns schlagartig auseinander gerissen werden würde. Dominik würde sich aus Unsicherheit zurückziehen und er wäre wirklich nicht der erste gewesen, der mir dies angetan hätte. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte diesen Jungen bei mir behalten, egal wie!

"So, so. Vor ein paar Tagen hast du noch behauptet, dir würde Geballer aus dem Hals raushängen und jetzt bist du auf einmal froh, dass der Film größten Teils aus Krach bestand.", stellte Dominik belustigt fest und ich durchforstete mein Hirn nach einer brauchbaren Erklärung für diesen zugegeben komischen Widerspruch. "Hey, ein bisschen Action tat dem Film ganz gut."
Dominik lachte. Er lachte so laut, dass ich verdattert stehen blieb und wartete, bis er fertig gelacht hatte. Was ging denn jetzt bei dem schief? Die Leute, die aus dem Kino herauspilgerten schenkten Dominik einen verwirrten Blick; die Situation war mir wirklich peinlich.
Als er nach einer gefühlten Ewigkeit endlich aufgehört hatte, über meine Bemerkung zu lachen, stemmte ich wie ein kleines trotziges Kind die Hände in die Hüften und wollte energisch von ihm wissen: "Was war denn daran bitteschön so lustig!?"
Noch immer mit einem belustigten Ausdruck auf seinem laternenbeschienenen Gesicht, antwortete er: "Du bist echt seltsam, Miriam!"
Seltsam? Wieso war ich denn jetzt bitte seltsam? Nur weil ich meine Meinung geändert hatte, oder wie?
Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Dann sind Politiker ja verrückt, denn die ändern ihre Meinung mehrmals täglich.", erwiderte ich etwas trotzig und setzte den Weg zur Bushaltestellte fort.
"Hey!", sagte Dominik besänftigend und legte eine Hand auf meine Schulter. Diese klitzekleine, nichts bedeutende Berührung löste in mir Gefühle aus, die alles übertrafen, was ich bisher gefühlt hatte. Die Stelle begann zu kribbeln und die Schmetterlinge in meinem Bauch flogen dreifache Loopings.
"Seltsam ist doch noch immer besser als ... als...", er suchte nach einem passenden Wort, woraufhin ich ihm aushalf: "...langweilig."
Er nickte bestätigend und stellte beschwichtigend fest: "Ja, genau, richtig. Immer noch besser als langweilig."
Ein heimtückisches Grinsen schlich sich auf meine Lippen, was ihn sichtlich verwirrte. "Genau, das Wort scheint perfekt für dich gemacht zu sein!" Anscheinend hatte er nicht mit dieser Reaktion meinerseits gerechnet, denn es schaute so aus, als ob er nicht wüsste, ob meine Worte ernst oder sarkastisch gemeint waren. Ha, jetzt war er mal an der Reihe, das Opfer zu spielen!
"Okay, okay... wie genau definierst du langweilig?" Gespielt überlegend legte ich meinen Kopf in den Nacken und starrte in den nachtschwarzen Himmel. "Hmm... ich weiß nicht. Kannst du irgendwas besonders gut?"
Die Antwort kannte ich natürlich schon - das Guthaben meines Handys war nicht umsonst fast aufgebraucht - und Dominik enttäuschte meine Vorahnung natürlich nicht, denn postwendend kam es aus seinem Mund geschossen: "Fußball!"
Gelassen winkte ich ab. "Natürlich, genauso wie zwei Millionen andre Jungen deines Alters ebenfalls - also nichts besonderes." - und deshalb die Langeweile, fügte ich in Gedanken hinzu und mein Grinsen wurde noch eine Spur breiter.
Ohne jegliche Vorwarnung blieb Dominik vor mir stehen und beugte sich ein wenig zu mir herunter. Er war bestimmt einen dreiviertel Kopf größer als ich, sodass ich meinen Kopf leicht in den Nacken legen musste, um ihm direkt ins Gesicht sehen zu können. Ich stand etwas perplex vor ihm, gespannt darauf, was er jetzt tun würde. Ich wusste nicht, wieso ich mir genau in diesem Moment die Frage stellte, warum sein Lächeln mich jedes Mal vollkommen aus der Bahn warf, aber die Antwort darauf befand sich wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt: seine Augen strahlten mit wie zwei Sterne. "Soll ich dir zeigen, was ich, ohne, dass du es bestreiten kannst, wirklich gut kann?", fragte er und ich erwiderte seinen herausfordernden Blick. Unsere Nasenspitzen berührten sich fast, so nah standen wir beieinander und ich konnte seinen warmen Atem spüren, der mir, wenn er ausatmete sanft über die Nase bishin zu den Wangen strich. "Nur zu, du Langweiler.", setzte ich noch eins drauf, was ihn endgültig davon überzeugte, mir zu beweisen, dass er noch etwas gut konnte neben Fußball.

Ja, er wagte es tatsächlich, mich zu küssen. Und wie. In diesem Moment, in dem unsere Lippen aufeinandertrafen, flogen meine Gedanken im Kreiselmodus durch mein Gehirn, bis der letzte Funken von Vernunft verraucht war und nurnoch kleine rosarote Herzchen durch die Gegend tanzten. In Richtung meiner Magengegend sah das Chaos nicht anders aus; das Gefühl war überwältigend und ich wollte nicht, dass dieser unbeschreibliche Moment jemals ein Ende nahm.
Meine Knie nahmen die Konsistenz von Wackelpudding an und wenn Dominik nicht seine großen, warmen Hände um meine Hüften gelegt hätte, wäre ich womöglich vor ihm zusammengesackt vor lauter Glücksgefühlen.
Seine warmen, weichen Lippen liebkosten zärtlich die meinen und es fühlte sich an, als würden sie zu einem Teil verschmelzen.
Alles ging wie automatisch und meine Arme legten sich fast schon selbstverständlich um seinen Hals, um ihn noch näher an mich heranzuziehen. Innerlich musste ich Dominik wirklich Recht geben, neben dem Fußballspielen hatte er das großartige Talent, wahnsinnig gut zu küssen und mich damit auf Wolke Siebe oder noch höher schweben zu lassen.

An diesem Abend küsste ich den Jungen, der mir so wichtig war, dass ich mich für ihn selbt belog.

Bishin zu diesem Tag habe ich immer selbstbewusst zu meiner Behinderung gestanden, aber nur solange bis ich auf Dominik traf. Er hatte einen Schalter in mir umgelegt und mich in eine Einbahnstraße geschickt - es gab kein Zurück mehr. Im Moment des Geschehens hatte sich alles so richtig angefühlt, aber nach unserem ersten Kuss saß ich verweifelt auf meinem Bett und fragte mich, wieso ich mich für diesen Jungen selbst belog, dass es mir selbst in der Seele wehtat.
Nach unserem ersten Date folgten weitere und zur Kuss-Liste konnte man weitere Striche hinzufügen. Bisher hatte es genug Momente gegeben, in denen ich Dominik in mein kleines Geheimnis hätte einweihen können, weshalb ich in seiner Anwesenheit beispielsweise meine Haare nie zu einem Zopf zusammengebunden trug. Als ich ihm auf diese Frage die Antwort gab, dass er mich mit einem Zopf hässlich finden würde, hatte er nur gelacht - und mit diesem Lachen waren meine Vorsätze immer weiter an den Horizont gerückt. Und ich lief geradewegs durch die Einbahnstraße hindurch, ohne einen einzigen Blick zurückzuwerfen.
Die Situation wurde immer verzwickter und ich tischte ihm immer mehr Lügen auf - mit dem Wissen, dass jede Lüge kurze Beine hatte und irgendwann das Licht der Welt erblicken würde.

Dominiks abfällige Bemerkungen gegenüber meinen Freunden Carolin und Manuel hätten mir eigentlich Beweis genug dafür sein müssen, dass dieser Junge es nicht wert war, mein bisheriges Leben für ihn aufzugeben - aber ich tat es nicht. Es war eine Schande, ja, fast schon Verrat, dass ich versuchte, mich von meinen besten Freunden, die mir in guten sowie in schlechten Zeiten zur Seite standen, zu distanzieren.
Nach Dominiks Meinung sollte Carolin gänzlich auf die Gebärdensprache verzichten und nurnoch Lautsprache sprechen, denn er fand es peinlich, mit so einem Menschen in der Öffentlichkeit aufzutauchen. Es würde aussehen, als wäre sie nicht mehr ganz dicht und Manuels komische Laute, die er von sich gab, wenn er versuchte, seinen Handzeichen mehr Bedeutung zu verleihen, sollten ebenfalls verboten werden. Man konnte die beiden schließlich niemals mit irgendwo hinnehmen, da die Gefahr bestand, sich zu blamieren.

Dominik und ich lebten nach wie vor in zwei verschiedenen Welten vor uns her. Die Mauer zwischen blieb stehen und ich bezweifelte, dass wir es jemals schaffen würden, sie einzureißen, denn dazu bräuchten wir viel Geduld, Vertrauen und vorallem Zeit - und die eilte mir im Schnellschritt davon. Ich stellte mir auch mehr als einmal die Frage, ob Dominik überhaupt in der Lage war, dieses Wunder zu vollbringen, mich so wie ich wirklich war, zu lieben - aber diese Zweifel verdrängte ich immer wieder in die hinterste Ecke meines Kopfes, zu schön waren die schönen Augenblicke, die wir teilten.
Es war wahnsinnig egoistisch, ihm etwas vorzuspielen, aber ich sah keine andere Möglichkeit, um ihn um mich zu haben. Dafür nahm ich sogar die Mühe und Anstrengung in Kauf, die es mich kostete, 'normal' zu sein.
Nach einem Stadionbesuch trommelten mir danach stundenlang noch die Ohren, doch ich traute mich nicht, meine Hörgeräte heimlich in Dominiks Anwesenheit auszustellen, es war einfach zu riskant.
Wenn Dominik mich anrufen wollte, ließ ich mir immer billiger werdende Ausreden einfallen, die er mir anscheinend auch abkaufte - aber ich wusste genau, dass auch das nicht mehr lange gut gehen konnte. Denn für so strunzdumm, dass er mir abkaufte, dass mein Handylautsprecher vier Wochen kaputt war, hielt ich ihn auch wieder nicht.

Abends, wenn ich in meinem Bett lag, dachte ich gerne an unseren ersten Kuss zurück, es folgten zwar viele weitere, doch keiner war so von Bedeutung, wie dieser magische Moment. Mir bedeutete unser erstes Treffen viel, es war tausendmal mehr Wert als die darauf folgenden - denn die beruhten alle auf einer schlummernden Lüge, die langsam aber sicher erwachte.
Trotz allem versuchte ich alle Momente mit Dominik in mich aufzusaugen, wie einen Schwamm, den man ins Wasser taucht.

Ich glaube, einer der bedeutendsten Momente war der, in dem Dominik meine Kamera in meinem Schrank liegen sah und mich fragte, was mein Lieblingsmotiv war. Die Antwort war simpel und einfach zu beantworten; ich liebte das geheimnisvolle, melancholische. Ich versuchte Momente einzufangen, die, wenn man das Bild betrachtete, das selbe Gefühl hervorriefen, wie im Augenblick des Geschehens. Fotografie war für mich der perfekte Mix aus Leben und Harmonie.
Dominik hatte meine Antwort mit einem Lächeln quittiert - ich denke, er hat nicht ganz nachvollziehen können, von was ich da redete. Aber allein dieses Lächeln ließ mich wieder alles um mich herum vergessen und mich auf Wolke Sieben hinaufschweben.

Mit Frederik hatte ich bereits mehrere heftige Diskussionen geführt, denn er verlangte von mir, dass ich Dominik endlich reinen Wein einschenkte und ihm genauso ehrlich gegenüber stand wie ihm. Die Situation war verzwickt, zum Verzweifeln verurteilt und es gab keinen anderen Ausweg mehr, der nicht durchs Unglück ging.
Ich konnte Frederik verstehen, ich meine, wer hat schon gerne Geheimnisse vor seinem besten Freund? Aber andererseits hatte ich ihn anders kennengelernt - und ich hatte bei Frederik nicht das Gefühl, dass er über Menschen nach solch scheinbar banalen Dingen urteilte. Wütend hatte er mir vorgeworfen, dass ich Dominik an der Nase herumführte und uns beide ins Pech stürzen ließ, schließlich wäre Schwerhörigkeit nicht wie Mongolismus schon aus der Ferne erkennbar. Meinen Einwand, dass ich in Dominiks Augen trotzdem ein Krüppel war, ließ er unbeachtet links liegen.
Verdammt, warum hatte dieser Junge so eine soziale Ader? Klar, ich mochte ihn und war froh darüber, dass er so locker mit meiner Behinderung umging, aber wieso musste er mir so ein schlechtes Gewissen gegenüber Dominik machen?
Seine knallharten Worte hallten immer wieder in meinem Kopf wider wie ein Echo und ließen mir einfach keine Ruhe.

Völlig in meiner durcheinander gewirbelten Gedankenwelt vertieft, bemerkte ich erst nach mehrmaligem Antippen, dass ich mich noch immer mit Amanda beim Hörgerätakkustiker befand. Wir hatten uns in der Stadt verabredet, um mal wieder eine Shoppingtour zu starten und einfach mal das Mädchenleben genießen zu können, sprich: über Jungs quatschen, zu McDonald's gehen und dann einen extragroßen Starbuckskaffee als Krönung. Den Stopp beim Hörgeräteakkustiker hatten wir nur deswegen eingelegt, da mir eingefallen war, dass ich dringend neue Batterien für meine Hörgeräte benötigte. Nachdem wir alles bezahlt hatten, traten wir wieder zurück in die Einkaufsstraße, durch die viele Menschen hetzten, um auch ja noch die billigsten Wintermäntel und Schuhe zu bekommen. Mit den warmen Kaffees in den Händen liefen wir schweigend durch das rege Treiben, jede hing ihren eigenen Gedanken nach, bis wir vor der Frauenkirche stehenblieben; die Uhr schlug gerade sechs Uhr abends, als Amanda anfing mit ihren Händen zu gestikulieren: »Entschuldige Miriam, ich ... los. Manuel wartet ... mich!«, dabei leuchteten ihre Augen wie zwei Sterne und sie erinnerte mich ungemein an mich selber, wenn ich von Dominik erzählte. In diesem Moment, in dem sie verliebt grinsend vor mir stand und ich sie wissend anschaute, fing es an zu schneien. Es war nicht ungewöhnlich, es war schließlich schon Ende November und Weihnachten stand in weniger als einem Monat vor der Tür. Die weißen, kleinen Flocken ließen sich sanft auf Amandas dunkelbraunen, dicken Haaren nieder und verschmolzen langsam darin. Wenn das die nächsten Tage so weiterging, hätten wir endlich mal ein weißes Weihnachten, an dem wir knietief durch den Schnee stapfen konnten.
»Wann sagst du mir ... mit dir und Sai was läuft?«, wollte ich mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht wissen. Mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen antwortete Amanda mir: »Dann ... er ... über seinen Schatten gesprungen ... und was passiert..., was ... Bedeutung beimessen...« .

Na, das klang ja vielversprechend! Denn ehe Manuel ein vernünftiges Wort über seine Gefühle zu Amanda sprach oder irgendetwas in diese Richtung unternahm, war ich eine Oma im stolzen Alter von 70 Jahren. Ehe ich noch etwas auf das eben Gesagte erwidern konnte, hatte mir Amanda schon ein Küsschen auf die rechte Wange gehaucht und war in den Trubel eingetaucht. Eine kleine Weile blickte ich ihr mit meinem mittlerweile leeren Kaffeebecher in den Händen hinterher, ehe mich ein nerviges Tuten in meinem linken Ohr aus der Starre riss.
Ohne zu zögern, zog ich mir meine neu erstandene dunkelgraue Wollmütze vom Kopf und stopfte sie in meine Tasche, um besser an das Hörgerät heranzukommen; den Starbucksbecher hatte ich in den nächstbesten Mülleimer entsorgt. Wieso mussten diese dämlichen Batterien ausgerechnet jetzt ausgehen? Konnten sie nicht bis ich zu Hause, geschützt von meinen vier Wänden war, warten? Andererseits hätte mich dieser dämliche, nervtötende Tut-Ton noch in den Wahnsinn getrieben, weshalb mir nichts anderes übrig blieb, als mitten in der Stadt eine neue Batteriepalette einzulegen. Es war nicht das erste Mal, dass mir das passierte, aber ich hasste es, es in aller Öffentlichkeit zu erledigen - wieso konnten die Passanten ihren gaffenden Blick nicht einfach abschalten oder wenigstens versuchen, nicht so auffällig hinzustarren?!

Nach einer gefühlten Ewigkeit, hatte ich die ewige Fitzelei endlich hinter mir und wollte gerade das Hörgerät wieder einsetzen, als mein Blick sich nach vorne richtete und alles um mich herum zu Eis erstarrte. Abwechselnd durchfuhren mich heiße und kalte Schauer und meine Augen weiteten sich.
Nein! Das konnte nicht sein!
Meine bis vor wenigen Sekunden mehr oder weniger heile Welt, zerfiel in tausend Einzelteile und brökelte zu Boden.

Wie lange stand Dominik schon da und beobachtete mich? Mit unablässigem Blick hatte er jede meiner Bewegungen mit seinen dunklen Augen verfolgt und sein fassungsloses Gesicht verwandelte sich langsam in eine eiskalte Maske. Meine Glieder durchzuckten einzelne Stromschläge, bis ich endlich wieder dazu in der Lage war, etwas zu sagen: "D-Dominik...", stammelte ich und rankte nach weiteren Worten. "Was... was für ein Zufall, dich hier zu treffen! Machst du Weihnachtseinkäufe?", etwas besseres war mir nicht eingefallen und zu spät merkte ich, wie dumm mein Gefasel eigentlich klang.
"Spar dir die Scheiße!"
Seine harten, kränkenden Worte waren wie ein Fausthieb mitten ins Gesicht und verzweifelt stellte ich fest, dass er einen Schritt zurückgegangen war und mich mit einer herablassenden Miene betrachtete. Solch einen niederschmetternden Blick hatte ich noch nie an ihm gesehen und seine strahlenden Augen, in die ich mich verliebt hatte, betrachteten mich mit Abscheu.
"I-ich kann dir das alles erklären, bitte, Dominik... können wir nicht in Ruhe-", ich versuchte ihn an der Schulter zu fassen, doch er schlug angewidert meine Hand weg. "Reden?!", spuckte er mir entgegen. "Worüber willst du mit mir reden? Dass du eine taubstumme Schlampe bist wie deine zwei Spastifreunde auch?!"

WUMM! Das hatte gesessen.

Es war, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggerissen. Ich konnte förmlich spüren, wie mein Herz erst schneller anfing zu pochen und dann ein paar Takte aussetzte, ehe es auf den Boden fiel und dort endgültig zerbrach.
Fassungslos starrte ich mein Gegenüber an, der mich mit einem herausforderndem, verbitternden Blick versah. In diesem Moment tat ich das, was ich die ganze Zeit schon hätte tun sollen. Wie hatte mich dieser Typ die ganze Zeit nur so blind sein lassen, dass ich die Realität vergaß?!
Ich hatte mein geordnetes Leben für diesen Mistkerl in den Wind geschossen, obwohl ich die ganze Zeit gewusst hatte, dass es irgendwann so weit kommen würde. Ich hatte die ganze Zeit gewusst, dass er mit der Wahrheit nicht umgehen konnte und mir solch verletzende Worte entgegen werfen würde - und trotzdem war ich immer tiefer in die Einbahnstraße gerannt!
Es war egal, wie verzweifelt ich auch versuchen würde, mich anzupassen - die Mauer würde immer da sein. Es war egal, wie oft ich mich selbst verleugnen würde, niemals würde ich es alleine schaffen, die Mauer zwischen Dominik und mir einreißen zu können.
Alleine war ich aufgeschmissen.
Aber der Fehler lag nicht bei mir und meinen Hörgeräten, sondern einzig und alleine bei Dominik, denn solange er nicht auch nur nach einem einzigen Mauersteinchen griff, so lange würde ich verzweifelt alleine und vorallem umsonst kämpfen.
Meine Hand schnellte nach vorne und ehe ich realisierte, was ich tat, war meine Hand auch schon an seiner Wange angetroffen. Tränen der ohnmächtigen Wut und der unendlichen Verzweiflung stiegen in mir hoch und ließen mich vergessen, dass wir uns in der Öffentlichkeit befanden; aber es war mir verdammt noch mal egal - sollte doch alle Welt wissen, was für ein Arschloch dieser Kerl war und was er mir angetan hatte!
Noch nie in meinem bisherigen Leben hatte ich mich so schlecht gefühlt, so verdammt erniedrigt und gedemütigt. Und das alleine wegen dieser Person, die mich vor Liebe hat blind werden lassen.
"Was bildest du dir eigentlich ein?", zwischte ich ihm leise, meine angestaute Wut unterdrückend, entgegen und funkelte ihn mit meinen tränenüberfluteten Augen so gut es ging wütend an. "WAS BILDEST DU DIR EIGENTLICH EIN, DU IGNORANTES ARSCHLOCH?!?!", meine Stimme überschlug sich, ich war vollkommen in Rage. Einige sensationsgeile Passanten blieben überrascht stehen, um sich das ihnen gebotene Spektakel in der Münchner Innenstadt genauer zu betrachten - ich meine, sowas sieht man ja auch nicht alle Tage. Doch Dominik ließ mein Wutausbruch anscheinend völlig kalt, denn er schaute mich noch immer ungeniert angewidert an, als wäre ich seiner nicht würdig und ein Häufchen Dreck. "Was denn?", fragte er gehässig. "Kannst du es etwa plötzlich nicht mehr ertragen, wenn dir jemand die Wahrheit sagt? Ich dachte du findest es gut, wenn man offen und ehrlich zueinander ist.", seine Stimme triefte nur so von Sarkasmus und genau das brachte mich nur noch mehr auf die Palme.
Ich weiß nicht mehr genau, welcher Schalter sich in mir umlegte, der mich dazu veranlagte, diesem Arsch meine Meinung ins Gesicht zu sagen, aber ich war im Nachhinein fast schon stolz, dass ich es wirklich getan hatte.
"Wie kannst du ahnungsloses Schwein es wagen, über etwas zu urteilen, WOVON DU ÜBERHAUPT KEINEN PLAN HAST?! Du hast überhaupt keinen Schimmer, was taubstumm eigentlich bedeutet! In deinen Augen ist doch jeder Behinderte eine Schande für die Menschheit! Weißt du, wie man Menschen wie dich nennt? ASOZIALE SCHWEINE!!!", eine weitere Träne wagte es, sich ihren Weg über meine Wange zu bahnen und ich wandte mich augenblicklich ab, ich wollte nicht, dass Dominik sah, wie sehr mir meine eigenen Worte in der Seele brannten. Ich wollte einfach nurnoch weg von hier, weg von diesem intriganten Arschloch, von dem ich ernsthaft geglaubt hatte, er wäre anders als alle anderen hörenden Jungen auf diesem Planeten.
War ich wirklich so naiv gewesen, daran zu glauben?!

Erblindet durch meinen dichten Tränenschleier rannte ich durch die Fußgängerzone und versuchte den stechenden Schmerz meines zerbrochenen Herzens unter meiner linken Brust zu unterdrücken.

Warum tat Dominik das? Glaubte er denn, dass ich es mir ausgesucht hatte, schwerhörig zu sein? Glaubte er das tatsächlich?
Die Straßen waren noch nicht gestreut und der bereits abgetretene Schnee war glitschig, sodass ich strauchelte und beinahe hinfiel. Unbeholfen stolperte ich ein paar Schritte und rannte blindlings mit meinen Einkaufstüten in der Hand weiter. Die Schneeflocken wurden immer dicker und fielen in immer kürzer werdenden Abständen vom Himmel herab, um mir nur mehr die Sicht zu nehmen. Wohin rannte ich überhaupt?

"MIRIAM!"

Wie auf Kommando blieb ich stehen und das wirklich keine Millisekunde zu spät. Nur wenige Zentimeter vor meiner Nase rauschte die Straßenbahn vorbei und hätte ich nicht auf den Schrei gehört, hätte diese mich womöglich erfasst. Aber wieso hatte ich sie nicht gehört und meinen Namen schon? Wie in den ganzen Filmen drehte ich mich in Zeitlupe mitten auf der Straße um und blieb wie angewurzelt stehen, als ich sah, dass Dominik auf mich zugerannt kam. Ich realisierte, wie sich sein Gesichtsausdruck von panisch in pure Erleichterung verwandelte und er wenige Meter vor mir stehen blieb. Er wollte gerade ansetzen, mir etwas zu sagen, als er wie von der Tarantel gestochen die letzten Meter überbrückte, um mich mit einem kräftigen Schubser auf die sichere Verkehrsinsel zu retten.

Die Umgebung um mich herum versank im Chaos, als ich bemerkte, dass Dominik es nicht rechtzeitig geschafft hatte, die Straße zu verlassen. Ein Auto hatte ihn erfasst.
Er war mir nachgelaufen, um mich zu stoppen, vor lauter Erleichterung, dass ich ihn gehört hatte, war er stehen geblieben und hatte dabei wohl zu spät bemerkt, dass wir uns auf einer Straße mitten in der Stadt befanden.
Der Fahrer des silbernen Audis hatte es nicht rechtzeitig geschafft, auf die Bremse zu treten, da er anscheinend mit wichtigerem im Inneren seines Autos beschäftigt war und hatte uns zu spät gesehen. Das Auto schlitterte auf der glatten Fahrbahn direkt auf uns zu und erwischte Dominik frontal. Vor meinen vor Schock geweiteten Augen, knallte er mit voller Wucht in die Windschutzscheibe des Gefährts, rollte anschließend von der Motorhaube wieder herunter auf die feuchte Straße, wo er regungslos liegen blieb. Die Menschen um mich herum fingen an zu kreischen, einige rannten panisch davon, andere tippten hysterisch auf ihrem Handy herum, um den Notarzt zu verständigen, doch ich stand noch immer unbewegt auf der Verkehrsinsel an derselben Stelle und starrte auf den ohnmächtig am Boden liegenden Jungen, aus dessen Kopf eine blutige Wunde klaffte und sein rechter Arm in einem unnatürlichen Winkel abstand. Sein zuvor wunderschönes, ebenes Gesicht war nun von hässlichen Kratzern und Blut verziert und seine Klamotten sogen die kalte Nässe in sich auf.

Die weißen Flocken segelten weiter auf die Erde herab und verliehen der Situation eine scheinheilige Unschuld und zeigten, dass die Zeit weiterging. Der Alltag holte mich ein, doch vor meinem inneren Augen sah ich noch immer das friedliche Gesicht des Jungen, in den ich mich Hals über Kopf verliebt hatte, trotz seiner Abscheu gegenüber Behinderten wie mir.
Das Bild wurde langsam immer verschwommener, bis es gänzlich verschwand. In meinem Kopf versuchte ich die durcheinander fliegenden Gedanken zu ordnen und ließ das Geschehene noch einmal in Revue passieren. An der Stelle, an der sich Dominiks panische Miene sich in Erleichterung umwandelte, blieb ich stehen. Er hatte mir etwas sagen wollen, doch nun waren es Worte, die ich wahrscheinlich nie zu Ohren bekommen würde. Ich dachte an seine wunderschönen dunklen Augen, die mich in diesem kurzen Augenblick nicht herablassend oder gar angewidert betrachtet hatten, sondern ihren vorherigen Glanz zurückerlangt hatten, der mich von Anfang an so verzaubert hatte.

Knapp vier Wochen hatte Dominik in der Münchner Klinik verbracht. Noch immer wusste ich nicht, was ihm genau passiert war, denn in dieser Zeit, die er in dem Krankenhaus verbrachte, stand ich ganze fünfmal vor seiner geschlossenen Zimmertür, aber war immer zu feige gewesen, meine Hand zu heben und anzuklopfen. Der Mut hatte mich immer wieder verlassen, als mir seine vernichtenden Worte, die er mir Wochen zuvor ins Gesicht geschleudert hatte, wieder einfielen. Hatte er mir nicht mehr als deutlich zu verstehen gegeben, was er von mir hielt? Die Krankenschwester, die sich anscheinend um ihn kümmerte, hatte mich immer wieder verwirrt gemustert, als sie mich vor der Tür hatte stehen sehen. Hoffentlich hatte sie mich nicht verpetzt...
Der aufkommende Schmerz, der bei dieser schrecklichen Erinnerung aufkam, machte die Sache auch nicht viel erträglicher.
Ich hatte versucht, mein Leben weiterzuleben, ging jeden Tag wie gewohnt zur Schule und versuchte nachmittags meine volle Konzentration auf die Mathehausaufgaben zu lenken, aber es sollte mir einfach nicht gegönnt sein, in den normalen Alltagstrott zurückzukehren. Immer wieder wurde ich von Carolin gefragt, ob ich ihre SMS bekommen hätte, weil sie mir etwas furchtbar Wichtiges über Frederik zu erzählen hatte, doch die Antwort blieb immer dieselbe: nein.
Seit Dominiks Unfall lag mein geliebtes Handy auf meiner Kommode und wurde schon von einer feinen Staubschicht bedeckt. Auch den Laptop mied ich tunlichst, ich hatte einfach keine Lust mit meinen Freunden außerhalb der Schule in Kontakt zu treten.
Die Zeit, in der ich nicht kopfrauchend über meinen Hausaufgaben brütete, vertrieb ich mir mit meiner Nikon. Ich machte viele Spaziergänge und fotografierte diverse Motive. Eiszäpfen an Blättern, verfangene Schneeflocken in Bäumen, Spinnennetze in der winterlichen Morgensonne oder einfaches Stillleben in meinem Zimmer.

In der Zeitung hatte ich gelesen, dass man bis zum 21. Dezember Fotos zum Thema 'Bilder erzählen deine Geschichte' bei einem Wettbewerb einschicken konnte und ich hatte mir fest vorgenommen, ein passendes Bild zu fotografieren um es dort hinzusenden.

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"Miriam, warte doch noch einen Moment, bitte."
Ich war gerade dabei, meine Brotbox in meine Tasche zu stopfen, als mich mein Deutschlehrer vom Gehen abhielt. "Was gibt es denn, Herr Clausen?"
Der alte Lehrer musterte mich wachsam und klappte dabei seine Lektüre zu, dann lehnte er sich gegen das Pult und fragte: "Kann es sein, dass dir derzeit etwas auf der Seele liegt?" Verblüfft und auch ein wenig ertappt sah ich ihn an und wartete gespannt darauf, was er als nächstes zu sagen hatte. "Nun ja, ich habe in letzter Zeit das Gefühl, dass du dich in deinen Gedanken wo völlig anderes befindest - nur nicht in meinem Unterricht."
Schuldbewusst zuckte ich mit den Schultern. "Tut mir leid."
"Nein, das braucht es nicht. Ich wüsste nur gerne, was mit dir los ist, mein Kind." - "Es ist nichts, wirklich." Der weise ältere Lehrer hatte noch nie lange nachgebohrt, er zog es vor, sich zurückzuziehen, wenn man nicht freiwillig auf ihn zukam. Schließlich nickte er in Richtung Tür und ich setzte meinen Weg fort, doch ehe ich aus dem Klassenzimmer trat, drehte ich mich noch einmal um.
"Herr Clausen?", der Angesprochene drehte sich etwas überrascht zu mir um und zeigte mir somit, dass ich seine vollste Aufmerksamkeit besaß. Seine buschigen Augenbrauen gespannt in die Höhe gezogen, wartete er auf das, was ich zu sagen hatte.
"Hatten... hatten Sie schon einmal das Gefühl, dass sich zwischen Ihnen und einer sehr wichtigen Person eine Art Grenze befindet, die sich nicht überwinden lässt?" Es herrschte eine kurze Stille in dem kahlen Klassenzimmer und ich dachte schon, dass der Mann mir gleich den Vogel zeigen würde, doch dann überraschte er mich mit seiner Antwort:
"Ja, ich weiß was du meinst, Miriam", er legte eine kurze Pause ein, in der er zu überlegen schien. "Als ich etwa so alt war wie du, brachte meine große Schwester ihren neuen Freund mit zu uns nach Hause. Er war fast gänzlich taub und konnte kaum richtig sprechen. Alle aus meiner Familie verstanden ihn, doch ich konnte versuchen was ich wollte, ich verstand erst nach einer Übersetzung meiner Schwester, was er von sich gegeben hatte. So fing ich an, ihn zu hassen, weil er anders war als ich und nicht normal war - so wie ich es damals definierte. Er sollte dahin zurückgehen, wo er herkam und sich niemals wieder bei uns blicken lassen." Der Grauhaarige rückte seine Brille zurecht und lächelte selig, obwohl seine Worte hart gewählt waren.
"Erst später erkannte ich, warum ich solch einen Hass auf ihn hegte. Es war Angst, pure Angst vor etwas Unbekanntem, etwas Fremden, das mir bisher noch nicht auf diese Weise begegnet war."
Hart schluckend sah ich zu Boden. Angst vor etwas Anderem, etwas Neuem - die Antwort war so klar und simpel, dass ich mich fast schon schämte, nicht von selbst darauf gekommen zu sein. Natürlich hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, wieso Dominik so abgeneigt gegenüber meinen Freunden war, aber ich hätte nie gedacht, dass hinter dieser Fassade Angst stecken könnte.
Das Schlimmste an der Sache war allerings, dass ich ihn sogar verstehen konnte. Fest entschlossen sah ich nun wieder auf. "Herr Clausen?"
"Ja, was gibt's?" Ich schaute ihm kurz in die hellen, freundlichen Augen, die mich an einen treuen Hund erinnerten. "Danke!"
Dann rannte ich.

Ich wusste selbst nicht so recht, was auf einmal in mich gefahren war geschweige denn wohin mein Weg mich führen sollte, aber mein schlummernder Kampfgeist war gerade im Klassenzimmer wieder erwacht und ich war fest entschlossen, meinem derzeitigen Trübsal den Kampf anzusagen. Wenn ich verlieren würde, dann nicht, ohne gekämpft zu haben!
Wenn ich heute Abend nach Hause kam, würde ich mein Handy vom Staub befreien, es sofort aufladen und alle SMSen beantworten. Wie hatte ich es nur solange ausgehalten ohne meinen treuesten elektrischen Begleiter auszukommen?
Während ich durch die Straßen hetzte, die Straßenbahngleise unversehrt überquerte und schließlich durch eine mir unbekannte Gegend irrte. Mein Atem ging heftig, ich war solch schnelles Tempo einfach nicht gewohnt und meine schwere Tasche erleichterte mir mein Vorhaben auch nicht sonderlich. Doch ich wollte mich nicht davon abhalten lassen - was war schon eine Tasche voller Schulbücher im Vergleich zu dem, was ich vorhatte?
Eine banale Tasche konnte mich in diesem Moment nicht davon abhalten, ihn aufzusuchen. Wen? Den Jungen, der meine Welt völlig aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.
Von Carolin wusste ich, dass er vor Kurzem aus der Klinik entlassen wurde, also musste er zur Zeit zuhause verweilen. Fragte sich nur, wo der Herr wohnte. Ich wusste zwar nicht, wo er wohnte, aber der Drang mit ihm über das Geschehene zu reden war so groß, dass ich vollends davon überzeugt war, sein Haus zu finden.
Ich wollte ihn einfach nicht im Unwissen aus meiner Welt verbannen. Vielleicht hatte er wirklich nur aus reiner Angst gehandelt. Wenn das der Fall sein sollte, wollte ich den Versuch wagen, ihm zu helfen, doch wenn seine Reaktion pure Unsicherheit gewesen war, dann wollte ich versuchen ihm zu helfen, seine Berührungsangst gegenüber etwas anderem, behinderten zu überwinden.
Eine gefühlte Ewigkeit war ich durch das Prachtvillen-Viertel geirrt, bis ich einmal verschnaufen musste. Meine Lunge brannte bei jedem Atemzug, den ich tat und ich lockerte meinen Schal ein wenig. Gerade fragte ich mich, welches dieser Häuser wohl Dominiks Familie gehörte, als ich vor einem grauweißen, riesigen Haus stehen blieb. Die gepflasterte Auffahrt endete direkt vor einer edlen, schwarzen Haustüre, neben der auf einem goldenen Schild der Name 'Hokamp' in geschnörkelten Buchstaben eingraviert war. Was für ein Zufall!
Mit langsamen Schritten, damit ich das mir gebotene Kunstwerk von Haus genauer betrachten konnte, bewegte ich mich auf den Eingang zu. Ich wusste ja, dass Dominik aus einer wohlhabenden Familie stammte, aber dass er aus solch einer gut betuchten Familie kam, hatte ich nicht geahnt. Verunsichert blieb ich vor der Haustüre stehen, ehe ich die Klingel betätigte und wartete, bis diese von einer hübschen, braunhaarigen Frau - höchstwahrscheinlich Dominiks Mutter - geöffnet wurde. Meine schwitzigen Hände wischte ich schnell an meiner Hose ab, ehe ich die mir gebotene Hand annahm und mich kurz vorstellte. Sylvia, so hieß Dominiks Mutter, erklärte mir freundlich den Weg zu Dominiks Zimmer und entschuldigte sich für ihre Kurzangebundenheit, doch sie hätte Besuch im Wohnzimmer sitzen.

Also tappte ich sockig über den hellen Marmorboden, ging die gewundene Treppe ins zweite Stockwerk hinauf und blieb vor einer hellbraunen Holztüre stehen. Nach Sylvia Hokamps Beschreibung müsste dies Dominiks Zimmer sein und ich verweilte ein paar Sekunden davor, bis ich meine Hand anhob, um anzuklopfen und anschließend einzutreten.
Als ich die Zimmertüre öffnete, verschlug es mir fast den Atem. Der mir gebotene Raum war der Traum eines jeden Jugendlichen. Fernseher in der einen Ecke, einen iMac in der anderen und ein riesiges Bett vor einer gigantischen Fensterfront. Ich setzte gerade den ersten Schritt nach vorne, als eine deutlich hörbar schlecht gelaunte Stimme sprach: "Verschwinde, Mama, ich hab wirklich keinen Hunger und echt keinen Bock, mich mit runter zu setzen!" Ich zuckte zusammen und sah mich erschrocken um, da ich die Richtung nicht bestimmen konnte, aus der die Stimme kam. Ein wenig verwirrt setzte ich ein paar weitere Schritte ins Zimmer und suchte nach dunklen Haaren. "Verdammt, ich hab doch gesagt, dass ich-!" Ich zuckte zusammen und riss meinen Kopf nach rechts. Dominik wirkte verblüfft, mich zu sehen - konnte ihm keiner verübeln -, und ich selbst war mehr geschockt, als in irgendeiner Weise überrascht.

Ein dicker schneeweißer Verband verdeckte Dominiks Stirn, wahrscheinlich die Folgen seiner Kopfverletzung. Seine Wange verzierte ein noch immer deutlich sichtbarer dunkelroter Kratzer und sein rechter Arm war einbunden. Nein, er sah nicht gut aus, aber was hatte ich erwartet? Dass seine Verletzungen von einem auf den anderen Tag spurenfrei verheilen würden?
Wie naiv ich mal wieder gewesen war.
Dominik erhob sich langsam von seiner Eck-Couch und klappte seinen Laptop zu, der bis gerade eben noch auf seinem Schoß gelegen war. Er schien nicht so recht zu wissen, was er sagen sollte, zu sehr hatte ich ihn anscheinend überrumpelt. Also lag es diesmal an mir, den ersten Schritt zu machen. Ich holte tief Luft und verknotete verlegen meine Finger ineinander, ehe ich anfing: "Ich weiß, dass du mich nicht sehen willst." Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber ich wusste, dass er es gehört hatte. "Aber ich bin hier, weil ich mit dir reden muss."
Dominik wollte einen Schritt auf mich zugehen, doch ich deutete ihm, dort stehen zu bleiben, wo er war und er tat mir den Gefallen. Ich wollte nicht, dass er es mir durch seine Nähe nicht noch schwerer machen würde als es eh schon war. Nervös strich ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und setzte ein weiteres Mal zum Reden an: "Seit dem Vorfall vor ein paar Wochen hatte ich wirklich genug Zeit, um nachzudenken. Mir ist mittlerweile klar, dass es ein Fehler war, dir zu verschweigen, dass ich hörgeschädigt bin, das war nicht ganz fair dir gegenüber.", ich bemerkte, wie er seinen Blick auf den Boden richtete und die unverletzte Hand in seine Hosentasche vergrub. "Allerdings stelle ich mir jetzt die Frage, ob meine Ehrlichkeit etwas geändert hätte. Sag es mir, Dominik. Sag mir, wenn du davon gewusst hättest, wärst du dann jemals mit mir ausgegangen? Oder hättest du versucht, mich auf Freddys Party so schnell wie möglich loszuwerden?"

Er seufzte tief und sah mich mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an.
"Ganz ehrlich?", ich nickte und studierte sein müdes Gesicht weiter. "Ich weiß es nicht. Keine Ahnung, Miriam... echt. Und weißt du, ich will mir diese Frage auch gar nicht stellen." In mir verkrampfte sich etwas und ich nickte niedergeschlagen. "Schon klar, ja..., verstehe...", ich versuchte mir ein Lächeln abzuringen, was mir gänzlich misslang.
"Nein, ist nicht klar!", unterbrach mich Dominik barsch und sah mich ernst an. "Ich hab mich wie das letzte Arschloch verhalten, man!" Ich blinzelte verwirrt, überrascht über seinen Sinneswandel. "Wie... wie bitte?"
"Ich hab keine Ahnung, was an diesem bescheuerten Tag in mich gefahren ist, aber als ich gesehen hab, dass du...", er suchte nach den richtigen Worten und mit einem Mal erkannte ich seine Unsicherheit, die er die ganze Zeit über schon versuchte, in den Griff zu bekommen. Er fuhr sich mehr als nötig durch seine zerzausten Haare und nagte an seiner Unterlippe. "Dass du Hörgeräte trägst und wie Carolin und Manuel bist. Es war wie ein Schlag ins Gesicht, weißt du? Schau doch mal, wie ungerecht ich ihnen gegenüber war, als ich glaubte ihnen weismachen zu müssen, dass sie in unserer Gesellschaft nichts verloren hätten, weil ihr Auffallen ja mehr als peinlich wäre! Dass ich dich damit einbeziehe, ist mir nicht einmal im Traum eingefallen! Mir ist ja nicht einmal aufgefallen, dass du genauso gehandicapt bist wie sie." Er machte einen Schritt auf mich zu und sah mich wehmütig an. "Es gab genug Anhaltspunkte und ich habe sie alle übersehen."

Ich schwieg dazu, doch innerlich gab ich ihm Recht. Im Nachhinein betrachtet gab es wirklich genug Dinge, die mich hätten auffliegen lassen können, doch Dominik hatte nie etwas bemerkt. "Du solltest es ja auch nicht merken.", gab ich mit einem schwachen Lächeln zu.
"Dominik,... warum hast du so heftig darauf reagiert, als du gesehen hast, dass ich Hörgeräte trage?", ich konnte nicht anders, ich MUSSTE es einfach wissen!
"Ich will dich nicht verletzen, Miriam... okay, hab ich ja eh schon, aber in dem Moment, als mir klar wurde, dass du anders bist als ich, es war als würde ich dich nicht kennen. Auf einmal war da eine Grenze zwischen uns." Ich schluckte leicht, denn er meinte genau die Grenze, die ich mein ganzes Leben schon vor Augen hatte. Die Grenze, die mich daran gehindert hatte, ehrlich zu Dominik zu sein.
"Irgendwie hatte ich Angst."

Es waren die gleichen Worte wie bei Herr Clausen und doch hatten sie für mich dieses Mal eine ganz andere Bedeutung. Eine viel tiefere, wichtigere Bedeutung. Ich hob den Kopf und suchte seinen Blick. "Willst du gegen diese Angst ankämpfen?", meine Stimme klang sehr viel leiser, als ich es beabsichtigt hatte, doch Dominik, der mittlerweile kaum mehr als zwei Schritte von mir entfernt stand, hatte mich aus der Fassung gebracht. Stand er nicht vorhin noch mindestens drei Meter von mir entfernt? Aber das war nun nicht mehr von Bedeutung. Ich konnte die Tiefe seiner Augen sehen, als wäre viel mehr dahinter als Nerven, atmete seinen unverkennbaren Duft ein und musste den Impuls unterdrücken, mit meiner Hand über seine verletzte Wange zu streichen. "Ja", sein Atem streifte nun mein Gesicht, er war noch näher an mich herangetreten. "Aber ich möchte, dass du mir dabei hilfst...", die Worte waren so leise, dass ich sie kaum verstanden hatte, aber allein das Gefühl, Dominik endlich wieder nahe zu sein hätte gereicht, um mir klarzumachen, welchen Sieg wir gerade errungen hatten. Es war der Sieg gegen Dominiks Angst und ich glaubte fest daran, wenn er er jetzt wirklich wollte, und die andere Seite an mir wirklich eines Tages akzeptieren konnte, dann konnten die anfänglichen Gefühle, die sich in den letzten Wochen zwischen uns entwickelt hatten, an Tiefe gewinnen, die uns beiden noch vollkommen fremd war.

Ich spürte, wie Dominiks raue Hand meine berührte. Zärtlich strichen seine Fingerspitzen zuerst über meine Handoberfläche, so, als ob sie ein bisher unberührtes Land erkunden würden. Diese eine zärtliche Geste ließ mich lächeln. Wie sehr hatte ich mich in den letzten Wochen nach seiner Nähe gesehnt? Die Antwort war einfach: viel zu sehr. Ich bemerkte, dass sich nun auch seine andere eingebundene Hand sanft um meine schloss und blickte direkt in sein wunderschönes Gesicht. Die Verletzungen taten seiner unglaublichen Ausstrahlung keinen Abbruch und ein einziger Blick in seine fast schwarzen Augen genügte, um meine Knie weich werden zu lassen.
Dominik lächelte, als er bemerkte, dass nicht nur er auf unsere verhakten Hände gestarrt und nun sein Gesicht gemustert hatte.
"Vielleicht sollten wir aufhören, einander anzustarren.", grinste ich und der Vorschlag schien meinem Gegenüber zu gefallen, denn Dominiks Gesicht näherte sich meinem. Vorsichtig , fast schon zögernd legten sich seine Lippen auf die meinen. Für meine Verhältnisse waren sie unnatürlich warm und ich schmeckte unwillkürlich den Geschmack von Pfefferminztee. Erneut musste ich grinsen und löste mich aus dem Kuss, auch wenn ich spürte, dass er eigentlich vorgehabt hatte, ihn zu vertiefen.
"Dominik?", säuselte ich lieblich, woraufhin er ein grummelndes Geräusch von sich gab. "Könntest du in Zukunft vielleicht Früchtetee trinken?" Er lachte sein unwiderstehliches Lachen und lehnte seine Stirn an meine. "Machen wir einen Kompromiss: ich trinke Hagebuttentee und du hörst auf, diese ekelhaften Erdbeerkaugummis zu kauen." Kritisch hob ich meine Augenbrauen an und wollte gerade Einspruch einlegen, doch Dominik legte ohne ein weiteres Wort zu dulden erneut seine Lippen auf die meinen.
Na gut, setzte ich in Gedanken dazu, ich verzichtete auf Erdbeerkaugummi, aber Kirsche dürfte ja dann wohl erlaubt sein.


"Spielst du etwa Klavier?", ich konnte es nicht fassen, als ich das Musikinstrument neben dem Bett stehen sah; es war mir gar nicht aufgefallen, als ich das Zimmer betreten hatte. Wir hatten es uns auf ebendiesem superbequemen Bett gemütlich gemacht und Dominik schloss die Augen. "Ja, ein bisschen. Meine Mutter wollte unbedingt, dass ich irgendwas musikalisches mache.", er schien es nicht sonderlich zu mögen, auf den weißen Tasten herumzuhauen. Doch das war mir in diesem Moment herzlichst egal. "Kannst du ein Stück mit tiefen Tönen spielen?", wollte ich begierig wissen und er nickte zögerlich. Ich war so davon begeistert, dass ich sofort aufsprang und Dominik an seiner unverletzten Hand aus dem Bett hochzog. "Aber wehe du lachst!", warnte er mich und schenkte mir einen - gespielt - ärgerlichen Blick und setzte sich auf den Klavierhocker. Ich versicherte, dass kein Laut der Belustigung über meine Lippen kommen würde und Dominik setzte misstrauisch mit geschlossenen Augen zum ersten Akkord an.
Ich in der Zeit hatte es mir auf dem Bett bequem gemacht und lauschte den tiefen Tönen, die klangen, als würde er nicht jede Taste einzeln drücken, sondern so, als ob das Stück von einem Band abgespielt wurde. Trotz seiner Verletzung an der Hand, spielte er ohne Unterbrechung oder abgehackte Töne. Ich war nie ein großartiger Fan von solcher Musik gewesen, doch als ich begriff, welches Bild sich mir bot, wurde ich von dem Moment eingefangen und gefesselt. Es gab kein Wort auf dieser Welt, das diesen zauberhaften Augenblick beschreiben könnte. Es war wundervoll, unbeschreiblich und ich konnte nicht anders als gebannt auf die Finger von Dominik zu starren, die wie als wäre es das Normalste dieser Welt über die weißen Tasten schwebten.
Ohne zu zögern griff ich in meine Tasche, in der sich zu meinem Glück noch meine Kamera befand. Ein Blick durch den Sucher, die Lichtverhältnisse eingeschätzt und ein wenig gezoomt - so entstand mein Bild, das ich zu dem Fotowettbewerb schickte.

Ich hielt den einmaligen Moment fest, in dem Liebe und Musik zu Einem verschmolzen und war acht Wochen später stolze Drittplatzierte des Wettbewerbs.

-- -- --

»Das ich ... glaube ich ... sehe!«, Amanda lachte laut und einige Passanten an dem Bahnsteig drehten sich erschrocken zu ihr um. Ich stand mit einigen Klassenkameradinnen am Münchner Hauptbahnhof und in wenigem Minuten würden wir mit dem Zug zum größten Handballturnier des Landes fahren, das jedes Jahr kurz vor den Pfingstferien stattfindet. Na ja, zumindest das Größte unter den Schulen für Hörgeschädigte und ich hatte die große Ehre, seit der fünften Klasse meine Schule zu vertreten. Allerdings hatte ich die Nacht zuvor bei Dominik verbracht und dummerweise meine Sportschuhe in seinem Zimmer liegen lassen. Ich hätte ein klitzekleines Problemchen gehabt, wenn Dominik nicht in diesen Minuten auftauchte, um sie mir zu bringen.
»Miriam! Ich habe... Typen einmal gesehen und kenne ihn... besser...du! Diese Sorte Kerl... niemals quer durch die Stadt schlängeln nur...vergesslichen Perle Sportschuhe, ich betone Sportschuhe...bringen!« In der Tat. Amanda hatte Dominik wirklich nur ein einziges Mal getroffen und zwar auf unserer Weihnachtsfeier der Schule. Sie mochte ihn nicht, aber das beruhte glücklicherweise auf Gegenseitigkeit, was wohl an erster Stelle daran lag, dass sie für verschieden Fußballmannschaften schwärmten. So ein Pech aber auch...
»Du...bescheuert, Dominik mit Manuel auf eine Stufe zu stellen...keine faire Art!«, gab Carolin empört ihren Senf dazu und fuchtelte wie wild vor meinem Gesicht herum. Frederiks Einfluss in den letzten Monaten hatte sich stark bemerkbar gemacht, denn aus meiner einst schüchternen, süßen Freundin war ein selbstbewusstes, lockeres Mädchen geworden, das mittlerweile auch gar keine Probleme mehr damit hatte, einmal einen Fehler bei der Aussprache zu machen. Manuel, der sich zu uns gesellt hatte, bot uns an, unsere Sporttaschen abzunehmen um sie im Zug zu vertauen und ich überreichte sie ihm dankbar. Als er sah, um welches heikle Thema es ging, warf er mir einen genervten Blick zu und verschwand in dem Zug - ich war ihm wirklich dankbar, dass er sich nicht auch noch eingemischt hatte.
»Ich wette mit dir um 20 Mäuse...Dominik kommt!«
»Carolin!«, jetzt reichte es mir aber. »Seit wann benutzt du Umgangssprache?« Diese zuckte allerdings nur mit den Schultern und Amanda ging bereitwillig auf das Angebot ein. Manchmal hasste ich meine beiden besten Freundinnen für solche Aktionen.

Eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht streichend, wendete ich mich von den beiden ab und ließ mir lächelnd die warme Sonne ins Gesicht scheinen. Mein Lächeln wurde noch breiter, als ich meinen Freund erkannte, der mit suchendem Blick auf Gleis 24 herumirrte. Auch er schien mich gesehen zu haben, denn er steuerte geradewegs auf mich zu. Hinter mir bemerkte ich, wie Carolin zufrieden grinsend das Geld von Carolin einkassierte, doch die Tatsache, dass Dominik wirklich hergekommen war, lenkte mich in diesem Moment ab. Ich rannte ihm ein paar Schritte entgegen und schlang meine Arme um ihn. "Danke, danke, danke!", bei jedem 'danke' drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange, was ihn etwas peinlich berührt zur Seite sehen ließ. "Ja, ja, is' schon gut, hier sind sie", er reichte mir meine schwarzen Nikes und nickte über meine Schulter hinweg. "Darf ich fragen, warum Wachmopp Carolin Geld gibt?" Ich musste über die Bezeichnung meiner Freundin kichern, denn das war weiß Gott der netteste Spitzname, den er für sie übrig hatte. "Sie haben darum gewettet, ob du wirklich kommst oder nicht." Sofort zierte sein Gesicht ein schadenfrohes Grinsen und ich wusste, dass er sich freute, dass Amanda Geld verlor. "Hol dir die Kohle, sie gehört mir!"
Daraufhin verpasste ich ihm einen leichten Rippenstoß. "Männer!" Lächelnd griff er nach meiner Hand und begleitete mich bis zum Zug. Dort angekommen scheuchte uns Herr Clausen, der als zweite Aufsichtsperson mitfuhr, in den Zug. Dabei bemerkte ich, wie er Dominik einen kurzen Blick zuwarf und ich bildete mir sogar ein, dass sich kurzzeitig ein zufriedenes Lächeln auf seine Lippen schlich.
"Also, ich muss dann mal los.", ich wollte gerade hinter Carolin in den Zug steigen, als Dominik mich am Arm fasste und mich zurückzog, um mir einen leidenschaftlichen Abschiedskuss zu geben. Jedes Mal überraschte er mich mit seiner stürmischen, besitzergreifenden Art, mit der er mich in einen Kuss
verwickelte. Das hieß natürlich nicht, dass ich sie nicht begrüßte - ganz im Gegenteil, ich liebte sie. "Komm mir ja nicht ohne Pokal wieder.", sagte Dominik und ließ mich, wenn auch etwas widerwillig, in den Zug steigen. Kaum war ich im Abteil angekommen, suchte ich nach Carolin, Manuel und Amanda, die mir versprochen hatten, einen Platz frei zu halten und kaum hatte ich sie gefunden, wurden die Türen des Zugs geschlossen. Natürlich war mein Platz am Fenster, sodass ich Dominik hinterherwinken konnte, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte.
Angestrengt versuchte ich das Fenster des alten REs aufzuklappen, doch - was hatte ich anderes erwartet? - es klemmte. Dominik, der sich köstlichst über mein verbissenes Gesicht amüsieren zu schien, grinste mir von draußen entgegen. "Verdammt!", schimpfte ich. Dabei wollte ich ihm doch sagen, dass er mich am Sonntag vom Bahnhof abholen sollte! Dann müsste ich dies wohl über die neumodischere Art und Weise tun und ihm eine SMS zukommen lassen.

Ich fischte also mein heißgeliebtes Spielzeug aus meiner Hosentasche und zeigte darauf, damit Dominik wusste, dass ich ihm jeden Moment eine Nachricht schreiben würde, allerdings reagierte mein Freund nicht, sondern starrte mich nur an. Ich stutzte und winkte ihm lächelnd zu, doch er reagierte nicht darauf. Was war denn jetzt los mit ihm? Warum sah er mich auf einmal so ernst an?
Plötzlich zuckte Dominik zusammen und ich schlussfolgerte daraus, dass der Schaffner gepfiffen hatte.
Aber dann geschah etwas, womit ich nie im Leben gerechnet hatte und was ich niemals vergessen würde. Langsam und unsicher hob Dominik seine Hände. Zuerst wusste ich nicht, was er damit bezwecken wollte, doch dann erkannte ich die Zeichen, die er versuchte zu formen. Es war das allererste Mal, dass Dominik die Gebärdensprache vor meinen Augen gebrauchte. An seinem Blick sah ich, dass es ihm unangenehm war, vor meinen Freunden, die ihn wachsam beobachteten, zu zeigen, was er mir nicht sagen konnte.

Der Zug setzte sich mit einem Quietschen langsam in Bewegung und er verschwand aus meinem Blickfeld. Vollkommen neben der Spur starrte ich noch immer aus dem Fenster, als würde Dominik noch immer dort stehen. Erst als Amanda mir spielerisch in die Seite piekte und ich erschrocken zusammenfuhr, wurde mir bewusst, dass Dominik die Angst, die ihn oft unsicher wirken ließ hinter sich gelassen hatte.
Noch vor einigen Wochen hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass irgendwann einmal der Tag kommen würde, an dem mir ein hörender Junge in meiner Sprache das sagen würde, was sich zig tausende Liebespaare täglich ins Ohr hauchten. Dominik hatte seine Gefühle mir gegenüber immer in Gesten ausgedrückt, Worte waren seiner Meinung vergänglich. Jedoch schien er heute seine Meinung geändert zu haben und augenblicklich breitete sich ein wohliges Gefühl in mir aus. Augenblicklich wurde mir klar, dass es sich genau so anfühlen musste, wenn man das größte Glück gefunden hatte, das man sich nur wünschen konnte.

Diese drei kleinen Zeichen, die für manch einen sinnloses Rumgefuchtel darstellte, waren für mich dieselben Worte, die sich hundert andere Menschen täglich ins Ohr flüsterten. Der kleine, aber deutliche Unterschied bestand lediglich darin, dass Dominik nicht mit den Lippen flüsterte, sondern mit seinen Händen. Ganz still und zaghaft hatten mich diese drei kleinen Worte durch die Glasscheibe erreicht. Eine Wand, die zuerst unsere Grenze symbolisierte und schließlich mit vereinter Kraft eingerissen worden war.

»Ich liebe dich.«


~ THE END ~
_______

....TÄDÄÄÄÄMMM!
Hallooo, meine Lieben! :) Das war der Zweiteiler "Wenn Worte keine Bedeutung haben", ich hoffe die Story hat euch gefallen und ihr lasst mir wie beim letzten Mal eure Meinung da. :) btw: dickes, fettes DANKE für die zahlreichen Kommentare! :o

Zur Geschichte:
Ich weiß, ich weiß, teilweise ein bisschen unrealistisch (Auto-Crash ... hust... zufällig Dominiks Haus gefunden...hust ... ;D), aber es ist ja nur ne Geschichte, die aus meiner Fantasie entsprungen ist. Also... ich hoffe, ihr habt euch auf meine Erzählung eingelassen und bis zum Schluss durchgehalten. Ist doch ganz schön lang geworden... :D

An alle »Kann Liebe alle Grenzen überwinden?«-Leser: Fettes SORRY, dass ich da so ewig nicht mehr weitergeschreibe, aber ich sitz in nem megatiefen KreaTief... ich hoffe nach meinem zweiwöchigen Sonnen-Urlaub fällt mir da wieder was ein. :)

GREEZ





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