Engelstochter - Teil 6

Autor: Nici
veröffentlicht am: 20.08.2012


5. Kapitel

Am nächsten Morgen wachte Lilli erstaunlich früh auf. Sie hatte erwartet, dass sie nach dem gestrigen Tag niemals aus dem Bett kommen würde, doch sie war schon um sechs Uhr auf den Beinen. Irgendwie war sie erleichtert, dass ihre Eltern nicht zu Hause waren. Ihre Mutter war schon weggewesen als sie aufgewacht war. Ihr Vater hatte sich von ihr verabschiedet, als sie in die Küche kam. Sie seufzte. Ihr Vater war viel zu selten im Haus. Meistens war er auf irgendwelchen Geschäftsreisen für seine Bank. Er war Leiter einer großen Bank und musste ständig von Filiale zu Filiale, um irgendwelche Probleme zu lösen. Ihre Mutter arbeitete in einer Wäscherei in der Stadt und hatte ziemlich seltsame Arbeitszeiten. Manchmal musste sie mitten in der Nacht dorthin fahren, weil ein Kunde einen Eilauftrag gemeldet hatte. Dennoch hatte sie den Haushalt scheinbar ohne Probleme im Griff. Da Lilli nicht mit dem Fahrrad zur Schule fahren musste, machte sie sich einen Kaffee und kritzelte etwas in ihre Hefte, das an Hausaufgaben erinnerte, um keine Strafarbeit schreiben zu müssen. Danach füllte sie ihre Tasse wieder auf und setzte sich ins Wohnzimmer vor den Fernseher. Der Wetterbericht sagte kalte regnerische Herbsttage voraus und warnte Autofahrer vor möglichen Ästen auf den Straßen, da anscheinend gestern Nacht ein heftiger Sturm gewütet hatte. Seufzend schaltete das Mädchen das Gerät wieder aus. Sie mochte den Herbst nicht. Im einen Moment schien er so wunderschön mit den bunten Wäldern und der goldenen Sonne und im nächsten Moment hagelte es und man wurde von einer kräftigen Windböe die Straße entlang geschoben. Der Winter war ihr viel lieber. Man hatte zwar einerseits die Schneestürme, die in dieser Gegend nicht sehr schlimm waren, aber andererseits hatte man die Landschaft, die danach friedlich unter einer weißen glitzernden Schneedecke zu schlafen schien. Lilli machte an solchen Tagen oft einen Spaziergang bei den Feldern außerhalb der Stadt. Dort schienen alle Sorgen und Probleme wie weggeblasen und sie lauschte nur dem Knirschen, das der Schnee unter ihren Füßen bei jedem Schritt, den sie tat, von sich gab. Was würde sie jetzt nicht alles tun für einen solchen Spaziergang, um in Ruhe über alles nachzudenken. Doch auf so eine Gelegenheit musste sie mindestens noch einen Monat warten. Wieder seufzte sie, stand auf und brachte ihr Tasse in die Küche. Mit einem Blick auf die Uhr musste sie feststellen, dass es erst halb sieben war. Sie musste mindestens noch eine halbe Stunde warten, bis Elijah sie abholte. Nein, vermutlich eher eine ganze Stunde. Sie fragte sich gerade, was sie solange tun sollte, als es an der Tür klingelte. Überrascht vergewisserte sie sich, dass sie sich nicht verguckt hatte, als sie die Zeit gelesen hatte. Nein. Immer noch halb sieben. Also schnappte sie sich ihren Rucksack und ihre Jacke und ging zur Tür.
„Du bist aber…“, der Satz blieb ihr im Hals stecken, als dort nicht Elijah, sondern Jeremia vor der Tür stand und sie angrinste, sichtlich zufrieden mit seinem Auftritt.
„Na? Überrascht, Prinzesschen?“, er schob sie ins Haus und schloss die Tür hinter sich, „Noch einmal entkommst du mir nicht so leicht. Hier ist diesmal kein Elijah, der für dich den Kopf hinhält. Nur du und ich.“
Immer noch sprachlos ließ Lilli ihre Sachen fallen und wich ein paar Schritte zurück. Er hatte Recht. Sie war ihm hilflos ausgeliefert.
„Für wen hältst du dich eigentlich?“, offensichtlich erwartete er keine Antwort, denn er redete weiter, „Tauchst einfach auf und meinst du bist wie wir. Das bist du aber nicht. Du bist ein Nachkomme Uriels. Du bist Abschaum. Was glaubst du, warum er damals vernichtet wurde? Weil er ein Verräter war. Ein Engel, der in die Hölle gehört. Und du bist nicht besser. Die anderen kannst du vielleicht um den Finger wickeln, aber mich nicht. Ich weiß was du vorhast.“
Er hatte sie inzwischen in eine Ecke des Wohnzimmers gedrängt und baute sich mit wutverzerrtem Gesicht vor ihr auf.
„Ich weiß nicht, was du meinst! Lass mich einfach in Ruhe. Ich hab dir doch nichts getan!“, ihre Stimme klang angsterfüllt.
Das schien ihm nicht zu entgehen, denn sein linker Mundwinkel wanderte kaum merklich nach oben. Er genoss es zu wissen, dass sie sich vor ihm fürchtete und das machte Lilli wütend. Sie fühlte sich so machtlos ihm gegenüber.
„Du weißt sehr wohl was ich meine. Du willst uns doch alle umbringen. Du hast sie verführt. Aber bei mir funktioniert dieses Spielchen nicht, Kleine.“
Kurz sagte er nichts.
„Nicht – mit – mir.“
Um ihnen Nachdruck zu verleihen, stach er bei jedem dieser Worte mit dem Zeigefinger auf ihre Brust ein. Sie wollte ihn wegstoßen, doch er fing ihre Hände blitz schnell ein und hielt ihre Handgelenke mit einem Griff wie ein Schraubstock fest. Dann hatte er plötzlich die eine Hand an ihrer Kehle und drückte sie brutal gegen die Wand. Panisch kratzte sie an seinen Armen, aber er dachte nicht daran locker zulassen. Sie rang nach Luft, doch es schien unmöglich. Vor ihren Augen flimmerte es. Er presste ihre Luftröhre noch fester zu. Er wollte sie wirklich umbringen. Sie starb und niemand konnte ihr helfen. Sie war allein. Sie hörte einen wütenden Schrei und plötzlich war der schmerzhafte Druck von ihrem Hals verschwunden. Hektisch keuchend sank sie auf die Knie. Sie hörte sich selbst laut atmen. Im Hintergrund vernahm sie dumpf Kampfgeräusche, konnte sich aber nicht darauf konzentrieren. Da hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. Sie sah eine breitschultrige Gestalt auf sich zulaufen und presste ihren Rücken in Todeserwartung gegen die Wand, da sie erwartete, dass Jeremia ihr gleich wieder die Kehle zudrücken würde. Doch als er wieder ihren Namen rief und vor in die Hocke ging, erkannte sie ihn.
„Lilli? Ist alles in Ordnung? Lilli!“, Elijah streckte mit sorgenvoller Miene eine Hand aus und packte ihre Schulter, dass sie nicht nach vorne kippte.
Langsam konnte sie wieder klare Bilder erkennen. Ihr Puls raste immer noch und ihr Atem war unregelmäßig. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihr wurde schlecht. Sie würgte. Taumelnd richtete sie sich auf und als ihre Knie nachgaben stützte Elijah sie. Sie torkelte mit seiner Hilfe ins Badezimmer im Untergeschoss, wo sie sich übergab.
„Nicht weglaufen“, er verschwand aus dem Raum und kam wenig später mit einem Glas zurück.
Er füllte es mit Wasser und reichte es Lilli, die sich auf die zugeklappte Kloschüssel gesetzt hatte. Dankbar nahm sie einen großen Schluck. Er lehnte sich an die Wand ihr gegenüber, verschränkte die Arme vor der Brust und kaute schweigend auf seiner Unterlippe.
Als sich ihr Herzschlag halbwegs normalisiert hatte und sie nicht mehr das Gefühl hatte, ihr Magen würde sich überschlagen, sagte sie mit heiserer Stimme: „Wo ist er?“
Dabei konnte sie ihm aus irgendeinem Grund nicht ins Gesicht sehen, deshalb konzentrierte sie sich auf die klare Flüssigkeit in ihrem Glas.
„Er liegt ihm Wohnzimmer.“
Jetzt musste sie ihn doch erstaunt ansehen: „Ist er…“
„Nein. Er lebt. Er ist nur ohnmächtig“, sie erkannte die Bitterkeit in seinen Worten. Da bemerkte sie, dass seine rechte Wange sich rot färbte.
Er bemerkte, wo sie hin blickte und meinte: „Ist nur halb so wild. Hauptsache dir geht es gut. Naja…“
Betroffen betrachtete er ihren Hals.
„Er wollte mich umbringen“, ausgesprochen klangen die Worte so harmlos im Vergleich zu dem, was sie eben gefühlt hatte. Unwillkürlich fasste sie sich an die Stelle, wo seine Hand vor kurzem gelegen hatte und das Bild seines wutverzerrten Gesichts flammte vor ihren Augen auf. Das alles kam ihr so unwirklich vor, als wäre es nur ein böser Traum gewesen. Doch es war Wirklichkeit. Sie rieb sich die Augen und seufzte. Da fiel ihr etwas ein.
Sie sah auf: „Wir kommen zu spät in die Schule.“
Sie schnellte hoch und wollte schon loslaufen, als sie das Gleichgewicht verlor und mit den Armen ruderte, um irgendwo Halt zu finden. Reflexartig sprang Elijah auf sie zu und bekam ihre Hüfte zu fassen. Lilli stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab. Sofort ließ er sie los. Es war ihm eindeutig peinlich, denn er lief rot an und sah zu Boden. Beide fuhren zusammen, als sie hörten wie mit einem lauten Knall die Haustüre zufiel.
„Er ist weg“, Lillis Stimme war monoton, was selbst sie überraschte, denn bei dem Gedanken, dass Jeremia immer noch da draußen war, schnürte sich ihre Kehle vor Angst zu.
Er war jetzt mindestens doppelt so wütend wie vor seinem missglückten Versuch, sie umzubringen. Elijah schien das gleiche gedacht zu haben, denn er schloss kurz die Augen und seufzte. Es klang frustriert, wütend, aber auch traurig. Lilli konnte sich denken warum. Die sechs Jungen waren wie Brüder. Sie hatten sonst keine Familie. Er musste sich fühlen, als wäre er von einem Bruder verraten worden.
Doch seine Stimme klang gefasst, als er sagte: „Du solltest deine Eltern anrufen. Sie sollen dich von der Schule befreien. In diesem Zustand kannst du unmöglich dort aufkreuzen.“
Er hatte vermutlich Recht. Als zog sie ihr Handy aus der Hosentasche und suchte in der Anrufliste nach der Nummer ihrer Mutter. Ihren Vater würde sie ohnehin nicht erreichen.
„Lilli? Was ist los? Bist du nicht in der Schule?“
„Nein. Ich musste mich übergeben und mir ist schwindelig. Kannst du mich bitte abmelden?“
„Um Himmelswillen!“
„Mam, entspann dich. Es ist nur halb so schlimm. Bestimmt nur so eine 24-Stunden-Grippe oder so.“
„Leg dich bitte sofort hin und halte dich warm. Ich kann erst spät am Nachmittag kommen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Leute in letzter Zeit ihre Sachen in die Reinigung bringen! Wenn du etwas brauchst, geh zu Frau Schober, ja? Sie ist bestimmt zu Hause. Gute Besserung!“
„Danke, Mam.“
Schon war das Gespräch beendet. Lilli warf einen Blick auf die Anzeige auf dem Display: 7:40.
„Wenn du jetzt losfährst, solltest du es zur zweiten Stunde schaffen.“ Er blickte sie überrascht an: „Ich geh doch jetzt nicht in die Schule. Was ist, wenn Jeremia wieder auftaucht? Er kann sich denken, dass du nach seinem Angriff nicht zur Schule gehst. Er könnte es wieder versuchen.“
„Bekommst du denn keinen Ärger?“
„Andreas entschuldigt Jeremia und mich bestimmt, sobald er merkt, dass wir nicht kommen.“
Lilli war überrascht, als sie merkte, dass sie erleichtert darüber war, dass Elijah nicht ging.
„Wollen wir ins Wohnzimmer? Dort ist es gemütlicher, als hier.“
Er nickte, regte sich aber nicht. Da fiel ihr auf, dass er darauf wartete, dass sie sich bewegte. Also stieß sie sich vom Türrahmen ab und wankte ins Wohnzimmer. Er ging direkt hinter ihr. Jederzeit bereit sie zu stützten. Doch sie erreichte relativ problemlos das Wohnzimmer und ließ sich auf dem Sofa nieder.






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