Engelstochter - Teil 4

Autor: Nici
veröffentlicht am: 13.08.2012


3. Kapitel
Er führte sie durch den Keller nach draußen zu einem schwarzen Motorrad. Er klappte den Sitz hoch, holte einen Helm heraus und reichte ihn ihr.
Als sie ihn nahm, fragte sie: „Und du? Jetzt hast du doch keinen, oder?“
Er schwang sich auf das Motorrad: „Mir passiert schon nichts. Keine Angst.“
Da sie nur unentschlossen mit dem Helm in der Hand dastand, meinte er: „Setz ihn doch auf. Ich fahr vorsichtig.“
Zögernd hockte sie ihn auf. Er klopfte auf den freien Platz hinter sich und sie setzte sich hin.
„Halt dich an mir fest. Ich will nicht, dass du runterfällst.“
Sie tat, was er sagte, obwohl es ihr unangenehm war, so nah bei einem fremden Jungen zu sein und auch noch die Arme um seine Brust zu schlingen. Doch als er losfuhr, war sie dankbar dafür, dass er das gesagt hatte, denn sie hätte sich sonst niemals halten können. Sie verließen die Stadt und fuhren eine Landstraße entlang. Etwa eine viertel Stunde später bog er auf einen Schotterweg ab und hielt bei einem kleinen Haus. Er stellte den Motor ab und ließ sich von Lilli den Helm geben. Danach folgte sie ihm zum Eingang.
Er sperrte die Tür auf, trat ein und rief: „Ich habe einen Gast dabei!“
„Wer ist es?“, neugierig schaute Lukas um die Ecke und riss erstaunt die Augen auf, als er Lilli erblickte, „Hast du sie…“
„Nein“, Lilli zuckte zusammen, weil sie die kalte Stimme sofort erkannt hatte, „Es ist unmöglich.“ Jeremia trat neben Lukas.
Dieser drehte sich verwirrt zu ihm um: „Wieso ist es unmöglich?“
Jeremia starrte Lilli immer noch an: „Weil sie gezeichnet ist.“
Elijah baute sich drohend vor Jeremia auf.
„Ich sage doch gar nichts!“, unschuldig hob er die Hände.
Lukas sah durcheinander von einem zum anderen.
„Lasst sie doch erst einmal eintreten“, diesmal erschien Andreas und schob Jeremia zur Seite, um zwischen ihm und Elijah zu stehen. „Ich … sollte ich vielleicht zu einer anderen Zeit wieder kommen?“, Lilli trat leise einen Schritt zurück.
„Nein“, Elijah fuhr herum und hielt sie an einem Arm fest, „Zeig Andreas bitte deine linke Schulter und erzähl, was Jeremia dir angetan hat. Bitte.“
Er sah sie flehend an. Lilli presste die Lippen aufeinander und starrte zu Boden, bevor sie wieder aufsah und Andreas ins Gesicht blickte. Er stand ungerührt da. Sie konnte keinerlei Emotionen erkennen. Seufzend zog sie ihre Jacke von der linken Schulter, sodass er ihr Mal sehen konnte. Schweigend kniff er die Augen zusammen. Dann begann sie zu erzählen, was passiert war. Inzwischen waren die anderen zwei Jungs auch erschienen und lauschten ungläubig.
„Du hast was?“, Daniel starrte Jeremia entsetzt an, „Wie kannst du?“ „Hätte ich es nicht getan, hätte Elijah es getan!“, wütend funkelte Jeremia Elijah an.
„Niemals!“, er stürzte sich zum zweiten Mal an diesem Tag auf seinen Freund.
Schnell trat Andreas dazwischen und stoppte Elijah: „Hört auf! So kommen wir nicht weiter! Was Jeremia getan hat, ist unverzeihlich. Noch dazu war das nicht das erste Mal. Aber darum müssen wir uns später kümmern. Im Moment ist die Frage, warum es ihr nichts ausgemacht hat und warum sie gezeichnet ist. Noch dazu trägt sie das Zeichen eines Heeres, das schon seit Jahrhunderten nicht mehr existiert. Also behaltet die Beherrschung oder verlasst das Haus! Ist das jetzt klar? Elijah? Jeremia?“
Betroffen sahen die Angesprochenen zu Boden.
„Elijah, willst du es übernehmen, oder soll ich?“
„Bitte lass es mich versuchen.“
Andreas trat zur Seite und Elijah nahm vorsichtig Lillis Hand. Sie hatte keine Ahnung was hier vor sich ging, aber sie musste weg von Jeremia und deswegen ließ sie sich widerstandslos die Treppe nach oben in ein Zimmer mit zwei Betten führen. Dort angekommen bedeutete er ihr, sich zu setzen. Schweigend ließ sie sich auf einem der Betten nieder. Er hockte sich auf das andere, stützte die Ellenbogen auf die Knie und vergrub seufzend das Gesicht in den Händen.
Schließlich blickte er wieder auf und fragte: „Was weißt du über das Mal auf deiner Schulter?“
„Nichts. Außer, dass ich es habe seit ich denken kann.“
„Hast du beide Elternteile?“
In ihrem Herzen gab es einen Stich, als ihr die Erinnerung wieder kam: „Nein. Ich bin Vollweise. Meine leiblichen Eltern habe ich nie kennengelernt. Ich wurde als Baby auf die Türschwelle meiner Zieheltern gelegt.“
Sie spürte seinen Blick in ihrem Gesicht: „Das tut mir leid. Aber du musst verstehen, dass es wichtig ist, dass wir das wissen.“
Kurze Zeit schwieg er. Dann erhob er sich. Fragend blickte sie ihn an. Er begann sein Hemd aufzuknöpfen: „Hab keine Angst. Dir wird nichts passieren. Das verspreche ich dir.“
Ängstlich klammerte Lilli sich an die Bettkante. Was hatte er vor? Sein Hemd fiel zu Boden. Da sah er ihr tief in die Augen. Plötzlich bemerkte sie, dass sich auf seinem Rücken etwas tat.
Ungläubig starrte sie auf die großen weißen Schwingen, die sich jetzt hinter ihm entfalteten: „Was…“
„Das sind Engelsflügel. Ich bin ein Engel, Lilli.“
Sie wusste nicht ob sie lachen oder schreien sollte, also tat sie nichts. Auch er rührte sich nicht von der Stelle. In seinem Gesicht lag ein unsicherer Ausdruck. In ihrem Kopf sausten tausende Gedanken durcheinander.
Als sie immer noch nichts tat, trat er einen Schritt auf sie zu: „Lilli…“ „Bleib weg!“, schnell krabbelte sie ans andere Ende des Bettes und presste ihren Rücken gegen die Holzwand des Zimmers.
Er … er war ein Monster. Was wollte er von ihr? Sie erkannte den Schmerz, der seine Augen durchzuckte und fühlte sich schlecht, weil sie so über ihn gedacht hatte.
Also schloss sie ihre Augen und atmete tief durch: „Was hat das mit mir zu tun?“
Ihre Stimme zitterte. Sie sah ihn wieder an. Langsam verschwanden die Flügel wieder in seinem Rücken. Er bückte sich, hob sein Hemd auf und zog es wieder an.
Er schien nach den passenden Worten zu suchen: „Du … als …“ Er holte tief Luft und setzte sich: „Engel haben besondere Fähigkeiten. Engel können beispielsweise durch lächeln Mädchen verführen. Ich habe gemerkt, wie Jeremia dich angesehen hat. Also bin ich in deiner Nähe geblieben, um sicher zu sein, dass er keinen Unsinn anstellt. Du musst wissen, dass wir einen Eid geleistet haben. Wir haben geschworen, nie unsere Fähigkeiten zu nutzen, um jemanden zu verführen. Jeremia hatte den Eid bereits zuvor gebrochen, doch er wurde nicht bestraft, da damals die Menschheit nicht auf uns aufmerksam wurde. Ich fand die Entscheidung von Anfang an falsch, denn auch wenn niemand misstrauisch geworden war, hatte er dennoch die Seele eines unschuldigen Mädchens für immer zerstört. Und dann wollte er das gleiche bei dir tun. Als er dich anlächelte, wurde ich wütend. Ich …“
Er presste die Lippen aufeinander.
„Schließlich habe ich begriffen, dass dir ein Engelslächeln nichts anhaben kann.“
„Deswegen hast du mich gefragt, was ich fühle, wenn du mich anlächelst.“
„Genau. Aber Jeremia schien auch zu wissen, dass etwas nicht normal war. Deswegen hat er dich im Fahrradkeller angegriffen. Er wollte dich zum Gestehen bringen. Er wusste nicht, dass du keine Ahnung davon hast. Dann schien ihm bewusst zu werden, dass es nur eine Möglichkeit gibt, warum du nicht auf seine Verführung reagierst. Du bist ein Halbengel, Lilli“, er blickte ihr fest in die Augen.
„Nein. Ich … ich bin nur ein normales Mädchen.“
Elijah schüttelte den Kopf: „Du musst wissen, dass Engel in verschiedene Heere unterteilt werden. Diese basieren auf den vier Erzengeln. Gabriel, Michael, Raphael und Uriel. Du hast bestimmt schon von ihnen gehört. Sie sind die höchsten Engel. Aus ihnen gehen alle anderen hervor. Jeder von ihnen hat eine bestimmte Aufgabe. Michael ist der Engel des Weltgerichtes, also der Apokalypse, Gabriel ist der Botschafterengel, Raphael ist der Engel der Heilung und Uriel ist der Engel der Erde, er geleitet die Menschen zum Jüngsten Gericht. Michael entscheidet, ob Menschen nach dem Tod in den Himmel dürfen oder nicht. Er hat gegen den Teufel gekämpft und ihn zurück in die Hölle geschickt. Doch Uriel wurde eifersüchtig auf ihn und behauptete er nutzte seine Macht aus. Also formte er ein Heer aus Engeln und kämpfte gegen Micheal. Raphael und Gabriel schlossen sich mit Michael zusammen, um Uriel zu besiegen. Uriel hatte in seinem Heer ein paar sehr mächtige Engel. Jehudiel, Barachiel und Sealtiel. Dank ihnen hatte Uriel eine Chance gegen die anderen drei. Nach langem Kämpfen schlossen sie Waffenstillstand. Im 16. Jahrhundert wird deswegen oft von sieben Erzengeln gesprochen. Doch der Frieden hielt nicht ewig. Denn Michael, Raphael und Gabriel starteten einen Gegenangriff. Uriel und seine Gehilfen hatten nicht die geringste Aussicht auf Erfolg und wurden schließlich alle vernichtet. Die Engel aller Heere haben ein Mal. Michaels Zeichen ist ein Stern, Raphaels ein Feigenblatt, Gabriels eine Krone. Und Uriels ein Pfeil.“ Er legte eine Pause ein und sah Lilli eindringlich an.
Sie fasste an ihre Schulter: „Also dürfte ich eigentlich gar nicht existieren.“
„Aber du tust es, also gibt es noch Nachkommen von Uriel. Das kann entweder bedeuten, dass Uriel nicht vernichtet ist und damit sind alle Heere gefährdet, oder es bedeutet, dass damals einzelne Engel aus Uriels Heer überlebt haben und sich Jahrhunderte lang versteckt haben. Aber einer muss sich an die Menschen herangewagt haben. Denn sonst würdest du jetzt nicht hier sitzen.“
Lillis Kopf schwirrte, aber eine Frage brannte ihr auf der Zunge: „Zu welchem Heer gehört ihr?“
Elijah schob den Ärmel von seiner linken Schulter und zeigte ihr sein Mal. Es war ein Blatt, das ein bisschen an ein Ahornblatt erinnerte. „Raphael.“
Er nickte.
„Seid nur ihr von Raphaels Heer übrig?“
„Nein. Wir sind nur ein kleiner Teil seines Heers.“
„Gibt es keine weiblichen Engel?“
„Bis jetzt eigentlich nicht. Du bist die erste. Engeln ist es nämlich verboten, ein Kind mit Sterblichen zu haben, da die Frauen die Geburt unmöglich überleben.“
Lilli biss sich auf die Lippe. Sie war also halb Mensch, halb Engel. Und zwar ein Nachkomme Uriels, der seit hunderten von Jahren als vernichtet gilt.
„Der 29. September ist der Tag der Erzengel. Der drei Erzengel. Uriel wird an diesem Tag mit keinem Wort erwähnt. Der Tag der Erzengel ist wie Weihnachten oder Ostern für christliche Menschen. Der 8. November war der Tag des Uriel. Doch er wurde abgeschafft, als Uriel zerstört wurde.“
„Und warum sind eure Flügel nicht immer zu sehen?“
„Vermutlich weil wir Engel zu unserem eigenen Schutz lernen mussten, uns anzupassen. Wir lernen früh zu kontrollieren, wann unsere Flügel außen sind und wann nicht.“
Lilli überlegte, wie sie die Frage stellen sollte, die sie so verwirrte: „Wie … also … wie entstehen neue Engel, wenn es doch keine weiblichen gibt?“
Sie war erleichtert, als Elijah ihre Frage ernst beantwortete und nicht laut los lachte: „Jedes Mal, wenn irgendwo ein Engel stirbt, kommt in demselben Heer ein neuer hervor. Die ersten Engel wurden von einem der vier Erzengel geschaffen. Engel verschwinden aber für immer, wenn sie von einem Engel aus einem anderen Heer getötet werden.“ Eine Weile schwiegen beide. Jeder ging seinen Gedanken nach.
Schließlich fragte das Mädchen: „Warum habe ich keine Flügel?“
Er zuckte mit den Schultern: „Vielleicht, weil du nur halb Engel bist. Menschen bekommen ja auch nicht alles von ihrer Mutter und alles von ihrem Vater, sondern zum Beispiel die Augen ihres Vaters und die Haarfarbe ihrer Mutter. Anscheinend ist das bei Kindern, die halb Engel halb Mensch sind genauso.“
Das klang plausibel.
„Und jetzt? Ich meine, was soll ich jetzt tun?“
Er seufzte und blickte ihr wieder tief in die Augen: „Ich weiß es nicht. Wir sollten zu Andreas gehen. Er ist der Älteste und Erfahrenste von uns.“
Er stand auf und ging zur Tür. Im Türrahmen drehte er sich um und lächelte sie zum ersten Mal richtig an: „Na komm. Dir kann nichts passieren.“
Da wurde ihr richtig warm ums Herz und sie erwiderte sein Lächeln dankbar.






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