What we used to be - Teil 27

Autor: Ai
veröffentlicht am: 24.09.2012


Oliver:
Es war halb zehn, als er sich auf den Weg machte. Seine Mutter gab ihm sogar einen Kuss auf die Stirn. Er war nervös, aber das beruhigte ihn etwas. Es würde Alles gut werden, wenn er jetzt nicht einknickte und das würde er sicher nicht. Er würde stark sein. Wirklich stark. Für sich und seine Familie.
Es war eine schöne Strecke bis zum Gericht. Er musste mit dem Bus fahren und zwei Mal umsteigen. Er kam sogar an einer ihm sehr gut bekannten Stelle vorbei. In der dunklen Seitengasse rechts neben der Bushaltestelle hatte er sich immer sein Gras gekauft. Als er nun dort an der Haltestelle stand und auf den Bus wartete, spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Erschrocken drehte er sich um.
„Oh, du bist es“, sagte er erleichtert. Es war Gabriel, sein alter Dealer.
„Hey Oli, du siehst ja heute schick aus“, sagte er und deutet ihm, dass er mit in die Seitengasse kommen sollte. Als sie in der dunklen Gasse verschwunden waren, stellte Gabriel sich vor ihn und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du schuldest mir noch etwas.“
Oh ja, natürlich. Er hatte bei seinem letzten Besuch vor zwei Monaten kein Geld dabei gehabt. Aber weil er ein guter Kunde war, sagte Gabriel, er konnte ruhig später zahlen. Schon öfter hatte er ihn seitdem darauf angesprochen, doch er hatte nie genug Kohle dabei gehabt.
„Tut mir leid, Gab. Ich hab wieder nicht genug dabei.“
„Dann gib mir, was du hast. Ich brauch die Kohle! Mein Boss reist mir den Arsch auf, wenn ich sie nicht bald besorge!“ Er baute sich immer mehr vor ihm auf.
„Ich hab nicht so viel dabei. Ich brauch die Kohle für den Bus.“
„Scheiß auf den verdammten Bus! Ich brauch die Kohle! Jetzt!“ Er wurde richtig wütend. Oliver hatte die Situation unterschätzt. Gabriel war immer nett und freundlich zu ihm gewesen. Solange er ihm etwas abkaufte. Aber die Tatsache, dass er seit zwei Monaten nichts mehr gekauft hatte und dass er ihm ebenso lange Geld schuldete, machten die Sache nicht besser. Er hätte es ohnehin nicht mehr verhindern können.
Eigentlich hätte er gar nicht erst mit in die Gasse kommen sollen. Aber er dachte sich nichts dabei. Gabriel war quasi schon einer seiner Freunde. Er hatte nur vergessen, dass all seine Freunde keine richtigen Freunde waren. Solang er Geld hatte und Drogen nahm, waren sie seine Freunde, aber so hatte er ein Problem.
Es war ein stechender Schmerz in seiner Brust. Er wollte einatmen, doch es tat so weh. Er spürte, wie seine Lunge in sich zusammen fiel. Langsam sank er zu Boden und schnappte nach Luft. Wie ein Fisch auf dem Trockenen lag er jetzt da. Gabriel drehte ihn auf den Rücken und durchsuchte seine Jackentaschen. Als er gefunden hatte, was er gesucht hat, verschwand er und ließ Oliver da liegen. Sterbend. Wegen 10 Euro. Mehr waren nicht in seiner Brieftasche gewesen.
Nein, es waren nicht die 10 Euro, die Schuld an dieser Miesere waren. Er selbst war dafür verantwortlich gewesen. Er hatte sich das Gras gekauft, obwohl er kein Geld dafür hatte. Er hatte immer wieder vergessen, dass er Gabriel noch etwas schuldig war und er hatte vergessen, dass die Drogenszene kein Kindergarten war.
Er wurde müde. Die Luft wurde immer knapper und aus seiner Brust floss immer mehr Blut. Es war vorbei. Sein Leben war zu Ende. Keine Verhandlung, kein Knast, keine Entziehungskur. Das Alles würde er nicht mehr erleben. Wie lang es wohl dauern würde, bis ihn jemand fand? Seine Familie glaubte sicher, er wäre feige abgehauen. Ein schrecklicher letzter Gedanke.

Richard:
Mir fliesen die Tränen die Wangen hinunter. Es hört gar nicht mehr auf. Ich höre schon gar nicht mehr, was der Hauptkommissar sagt. Nach „Ihr Bruder wurde ermordet“, bin ich ausgestiegen. Sophie saß entsetzt neben mir. Sie hatte Alles gehört.
Ich fühle mich wie in einem Traum. In einem furchtbaren, schrecklichen Albtraum. Das kann Alles nicht wahr sein. Oliver ist rückfällig geworden. Er ist zu Viktor gegangen und hat sich dort versteckt. Er hat getan, was Alle von ihm erwartet hatte. Er ist davongelaufen. Weiter nichts. Er lebt und ist einfach nur ein kleiner Feigling.
Noch nie in meinem Leben habe ich mir so sehr gewünscht, dass Oliver bei seinen drogensüchtigen Freunden sitzt und einen Joint raucht. Es ist mein einziger Wunsch. Ich habe mich nur verhört. Der Hauptkommissar hat etwas ganz anderes gesagt.
Es ist Alles nicht war. Nur ein Traum. Eine Einbildung. Mein Gehör spielt mir einen Streich.
Sophie packt mich am Arm. Ich sehe ihr ins Gesicht. Sie weint. Also ist es do wahr? Kein Traum. Keine Einbildung. Die Wahrheit. Oliver ist tot. Das ist der Grund, warum er nicht gekommen ist. Warum er nicht da war, obwohl Alle darauf vertraut hatten. Er hat sich nicht bei Viktor versteckt, wie ein kleiner Feigling. Er sitzt nicht zugedröhnt irgendwo herum. Nein. Er ist tot. Mein kleiner Bruder ist tot und ich konnte ihn nicht retten. Ich habe Alles versucht. Ich habe versucht, sein Leben zu retten, aber ich habe es nicht geschafft. Ich habe versagt. Mein kleiner Bruder ist im Alter von siebzehn Jahren gestorben. Ermordet. Gerade als er auf dem Weg war, sein Leben zu ändern. Sein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Gerade, als er endlich begonnen hat erwachsen zu werden.
Das Leben ist nicht fair. Ich sacke in mir zusammen. Ich kann nichts mehr tun. Es ist vorbei. Zu spät um etwas zu tun. Zu spät um Olivers Leben zu retten.





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