Kann Liebe alle Grenzen überwinden? - Teil 5

Autor: zeitvorhang
veröffentlicht am: 03.08.2012


Schicksal

Claire warf noch einmal einen Blick auf ihre neu erstandene Armbanduhr und hastete durch die große Schwingtür von »Paris' Greatest News«. Mal wieder kam sie zu spät zurArbeit, aber diesmal konnte sie nun wirklich etwas dafür - schließlich konnte sie kaum erahnen, dass eine Oma zwanzig Minuten den Verkehr lahmlegte, um die wohl meist befahrenste Straße zu überqueren! Wozu gab es denn Ampeln heutzutage?
Abgehetzt und außer Atem drückte sie die Taste '5' des Aufzugs und fuhr in den fünften Stock. Im Spiegel, der sich im Aufzug befand, besah sie sich noch ein letztes Mal ihre Kleidung - sie trug schwarze Schuhe mit leichtem Absatz, einen weißen Rock und eine luftige, rote Bluse, die sie in den Rock hineinsteckte. Ja, das Outfit schien in Ordnung zu gehen. Im fünften Stock angekommen, öffneten sich die Türen automatisch und sie trat aus dem Fahrstuhl.
Claire war freiberufliche Fotografin und hatte einen guten Ruf, weshalb sie für diverse Zeitungen berufen wurde. Schnellen Schrittes ging sie den Gang entlang und klopfte an einer weißen Tür. Als sie von innen "Herein" hörte, öffnete sie die Türe und trat in den geräumigen, aber vollgestellten Raum ein. Vor einer Zimmerpalme stand ein großer hölzerner Schreibtisch, der vor lauter Unterlagen und Papieren fast durchbrach und dahinter saß eine gestresste Frau mit braunen, kurzen Haaren.
"Hallo Claire", sagte die Frau und lächelte sie an.
"Hallo Mareike", grüßte Claire lächelnd zurück.
Mareike und Claire kannten sich schon ziemlich lange, knapp vier Jahre und waren schon seit einiger Zeit per 'du'. "Frau Reichel wartet drinnen auf dich", erklärte Mareike ihr und zeigte auf eine große Tür rechts von sich. "Geh ruhig schon rein."
Claire nickte und machte die Tür auf, nachdem sie geklopft hatte.
"Ah, Claire Courounne", kam es von der dunkelblonden Frau, die hinter einem riesigen Schreibtisch saß. Claire trat ein und setzte sich auf den ihr angebotenen Stuhl gegenüber von Frau Reichel. Der Raum war groß und geräumig und links von Claire befand sich eine riesige Fensterfront, von der man das rege Treiben der Stadt beobachten konnte. Die Wände waren weiß gestrichen und die wenigen Möbel die darin standen, waren ebenfalls sehr hell, nur der Schreibtisch war glänzend schwarz.
Der Stuhl, auf dem Claire nun saß, war direkt gegenüber von Frau Reichel und so konnte sie der Frau direkt ins Gesicht sehen. Gabrielle Reichel war eine blonde Schönheit wie sie im Buche stand mit einer mächtigen Oberweite - alles Natur, versteht sich. Wie jedes Mal, wenn Claire diese Frau antraf, trug sie eine einfarbige Bluse, die diese betonte.
Das einzig Komische an ihr war, dass niemand ihr Alter zu schätzen wusste. Man munkelte, dass sie sich ungefähr in den Vierzigern befand, doch so sah sie keineswegs aus - eher wie mitte Dreißig.
Claire würde für später wirklich gerne wissen, welche Anti-Aging Creme diese Frau benutzte.

"Guten Tag, Frau Reichel", sagte Claire und reichte ihr die Hand. Die Frau lächelte und ließ sich zurück in ihren ebenfalls schwarzen Chefsessel sinken, schmiss dann Claire eine Mappe hin und verschränkte ihre Finger ineinander. Wie gewohnt nahm Claire die Mappe in die Hände und klappte sie auf. "Ihr nächster Auftrag betrifft die Autoausstellung von »RM«", klärte Frau Reichel sie auf, während Claire in der Mappe blätterte. An dem Blatt, auf dem das Symbol der Autofirma RM abgebildet war, blieb sie hängen. RM war neben Maunier-Vehicles die größte Autofirma der Welt. Und sie sollte von der Ausstellung Fotos machen? Merkwürdig - im Allgemeinen wurde sie nicht für solche Aufträge angesetzt.
"Auf dieser Ausstellung wird der neue RM777 vorgestellt und viele Menschen werden dort sein, um sich das neue Glanzauto anzusehen", fuhr Frau Reichel derweil mit ihren Erklärungen fort. "Deswegen bitte ich SIe, die dort auftauchenden Menschen und den ganzen Rummel zu fotografieren - natürlich auch den Chef von RM. Ach ja, und ein Schnappschuss von dem neuen Auto wöre natürlich auch nicht schlcht." Die Blondine zwinkerte ihr zu und grinste ironisch.
Claire blätterte in der Mappe weiter und fand die Adresse und eine Anfahrtsskizze der Autoausstellung. Sie fand nicht hier in Paris statt, sondern etwas außerhalb, in einer kleineren Stadt. "Nehmen Sie den Auftrag an?", fragte Frau Reichel dann. Claire klappte die Mappe zu und sah auf. "Natürlich."
Zwar war es etwas ungewöhnlich, aber mal etwas anderes. "Alle weiteren Informationen stehen in der Mappe", sagte Frau Reichel noch und erhob sich. Claire stand ebenso auf und schüttelte ihrer Chefin die Hand. "Schönen Tag noch", wünschte Claire ihr und verließ das Büro.
Schnell verabschiedete sie sich noch von Mareike und machte sich dann auf den Weg zu dem Café, in dem sie sich mit Nina verabredet hatte.

In dem vereinbarten Café angekommen, setzte sich Claire an den einzigen freien Tisch am Fenster und stellte ihre Tasche neben ihrem Stuhl ab. Das Café war heute gut besucht und Claire war froh, dass sie noch einen Tisch am Fenster ergattern konnte.
Nina war noch nicht da, denn Claire war ausnahmsweise mal zu früh dran - ganze zehn Minuten! Um sich die verbleibende Zeit zu vertreiben, holte sie die Mappe noch einmal heraus und bestellte sich bei dem Kellner einen Eiskaffee.
Die Autoausstellung würde morgen um 14 Uhr stattfinden und es wurden viele Leute erwartet. Sie wusste zwar nicht genau, was an einem einzigen Auto so toll sein musste, aber vielleicht war es ja der Preis - schweineteuer. RM war schließlich eine der größten Autofirmen Europas, da war ein neues Auto eine riesige Aktion.
Seufzend schlug sie die Mappe wieder zu und fuhr sich durch die Haare. Schon seit Tagen konnte sie sich nicht mehr richtig konzentrieren. Ihre Gedanken schwirrten die ganze Zeit umher, sodass sie manchmal ohne es wirklich zu realisieren, dumm in die Gegend starrte. Gedankenverloren nahm sie den Löffel aus dem gerade angekommenen Eiskaffee und leckte die Sahne langsam ab.
Ja, schon seit der Party konnte sie an nichts anderes mehr denken als an Jean und sie sehnte sich schrecklich nach ihm.
Verdammt, sie verstand sich ja selbst nicht! Sie kannte ihn ja noch nicht einmal richtig!
Ob er sich noch an sie erinnerte? Bestimmt nicht. So einer wie der garantiert nicht.
Und trotzdem tauchte sein lächelndes Gesicht mit den intensiven Augen immer wieder vor ihrem geistigen Auge auf.
Wann würden sie sich denn wiedersehen? Mit einem leichten Lächeln auf dem Lippen erinnerte sich Claire an seine Worte, mit denen er ihr auf ihre Frage geantwortet hatte:
»Natürlich. Wie schnell, entscheidet das Schicksal.«

"Na, Claire, schon wieder in Gedanken?", fragte auf einmal eine weibliche Stimme belustigt. Claire fuhr erschrocken auf und blickte in das breitgrinsende Gesicht von ihrer Freundin Nina. Wie lange saß sie denn schon da?
Nina hatte ihre braunen Haare zu zwei Zöpfen geflochten, trug ein weißes Top und eine einfache, kurze Jeans.
Auf Claires Wangen bildete sich ein leichter Rotschimmer.
Es war schon wieder passiert - sie hatte sie einfach nicht kommen hören! Verdammt, sie musste dringend lernen, dieses Tagträumen abzustellen!
Peinlich berührt strich sie sich eine Haarsträhne ihrer blonden Mähne aus dem Gesicht und steckte sie hinters Ohr.
"Na, sag schon, Claire! Woran hast du gedacht?", fragte Nina sofort neugierig und trank einen Schluck aus Claires Eiskaffee. "Du sahst aus wie ein hypnotisierter Zombie!"
Claire lachte leicht und nahm ihren Kaffee wieder zu sich. Sollte sie es ihr erzählen? Bisher hatte sie noch keinem davon erzählt, doch so langsam drohte sie zu zerplatzen.
"Jetzt sag schon, um wen geht es?", Nina hatte die Situation erkannt und lehnte sich gespannt zurück. Claire strahlte nun übers ganze Gesicht. "Nun ja...", fing sie spannend und etwas zögerlich an. "Es geht um...Jean."
Gespannt wartete sie auf die Reaktion ihrer Freundin und studierte ihre noch nichts aussagenden Gesichtsausdruck, doch dann fing auch Nina an zu grinsen. "Flos bester Freund, ja?", hakte sie nach und Claire nickte bestätigend. "Jetzt wo du's sagst...", meinte Nina nachdenklich. "Ich hab euch ein paar mal auf der Party gesehen - ihr wart ja wie 'n Herz und 'ne Seele!" Sie machte eine kurze Pause. "Und eure Blicke beim Tanzen!!", rief sie begeistert aus. Panisch winkte Claire mit der Hand und zischte ihr ein "Sssshhh, nicht so laut!" entgegen - musste ja nicht jeder mitkriegen. Der Kellner brachte nun einen zweiten Eiskaffee, auf den sich Nina stürzte.
"Jedenfalls...", fuhr Nina etwas leiser fort. "Seid ihr euch da ja zieeeemlich nah gekommen, oder?" Claire nickte etwas verlegen und trank den letzten Schluck aus ihrem Glas.
"Und, was läuft jetzt so?"
"Nichts", seufzte Claire resigniert und stocherte mit ihrem Löffel im leeren Glas herum.
"Wie, nichts?", fragte Nina überrascht nach. "Wieso denn das jetzt?"
"Wir haben uns seitdem weder gesehen, noch mit einander geredet."
"WAS?", platzte es aus Nina geschockt heraus und sie musste einen großen Schluck aus ihrem Glas nehmen.
Claire seufzte erneut. "Wir lassen das Schicksal entscheiden", erklärte Claire die Situation.
"Oooohhh, wie romantisch!", kicherte Nina nun verzückt. "Wenn ihr euch dann also bald wiederseht, wisst ihr, dass ihr füreinander bestimmt seid!"
Claire lachte etwas gekünstelt. "Haha, ich denke, du übertreibst ein wenig. Es war eine ziemlich bescheuerte Idee - wer weiß denn schon, wann wir uns jetzt wieder sehen?!"
Nachdenklich nickte Nina und riet ihr dann: "Wird schon. Immer positiv denken."
"War das nicht auch das, was ich dir bei Alex geraten habe?", fragte Claire. "Genau!", bestätigte Nina grinsend. "Und deshalb wird es auch klappen. Kopf hoch!"
"Na ja, wenn du das sagst."
Kurze Zeit herrschte zwischen den beiden Freundinnen Stille, in der jeder seinen eigenen Gedanken nachging, doch dann meinte Claire leise: "Schade, dass du ihn nicht schon vorher gekannt hast. Dann hättest du mir etwas über ihn erzählen können."

Nina war erst vor zwei Jahren in die Stadt gezogen und hatte Claire über ihren Bruder Felix, der ebenfalls bei » Paris' Greatest News« arbeitete, bei einer Veranstaltung kennengelernt. Die beiden hatten sich auf anhieb verstanden und sind im Kontakt geblieben. Irgendwann hatte Claire beschlossen, Nina ihrer 'Clique' vorzustellen und von da an unternahmen die Freunde so oft es ging etwas miteinander - doch nie war Jean dabei gewesen.
"Ja, das ist echt schade", sagte Nina und lächelte sie aufmunternd an.
"Mhm... und, wie läuft es mit dir und Alex so?", wollte Claire dann wissen. "Ganz gut, aber er ist nach wie vor stinkfaul! Alles muss ich selber machen oder ihn hundertmal in den Arsch treten, bis er sich dann einmal dazu aufrafft, mit mir in die Stadt zu gehen."
Claire lachte. Ja, das war typisch Alex. Er war die Faulheit in Person - und das wohl schon seit seiner Geburt.
"Ich frag mich echt, wie der sein Studium schafft", sagte Claire grinsend. "Er ist zwar hochintelligend, aber fauler als ein Faultier!" Bei der Bemerkung lachten die beiden Frauen laut auf.
"Na ja", sagte Nina am Ende und tupfte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. "Er ist eben mein Faultier." Sie lächelte liebevoll bei den Gedanken an ihren Freund.
"Ja, ist er endlich", erwiderte Claire und zwinkerte ihr zu.
Die beiden Freundinnen tratschten noch über den aktuellsten Klatsch und verabschiedeten sich dann , da Nina wieder zur Arbeit musste. "Wir telefonieren", sagte Nina und drückte Claire nochmal fest. "Klar, bis dann", verabschiedete sich Claire und ging zurück zu ihrem Auto.

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Am nächsten Tag stand Claire nicht wie üblich eine Stunde vor ihrem Ganzkörperspiegel, sondern nur eine halbe - sie war wieder einmal spät dran. Eilig zog sie sich das türkise Top, den beigen Blazer und eine weiße Jeanshose an, begutachtete sich noch einmal im Spiegel und rannte aus der Tür.
Schnell startete sie ihren Polo und fuhr in Richtung der Ausstellung. Zum Glück hatte sie sich zuvor nochmal gründlich die Anfahrtsskizze angeschaut, sonst hätte sie sie keine Ahnung, wo sie hinmusste. Und ehrlich gesagt hatte sie es nicht so mit Kartenlesen...
Auf dem Weg in das kleine Städtchen, drehte Claire das Radio laut auf und kurbelte ihr Fenster herunter, sodass der Fahrtwind ein paar Haarsträhnen aus ihrem hohen Zopf löste.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel und es war keine einzige Wolke zu sehen. Zwar konnte sie sich wahrlich besseres vorstellen, als solch einen wunderschönen Tag in einer Autoausstellung zu verschwenden, aber was soll's - es war nunmal ihr Job.
Und es war bestimmt nicht das Übelste auf dieser Welt, das neue RM-Auto mit als erste ansehen zu dürfen. Und wer weiß, wen sie dort alles treffen würde.
Mal wieder kam ihr Jean in den Sinn - aber der hatte bestimmt besseres zu tun, als sich so ein blödes Auto anzusehen.

Auf dem dortigen Parkplatz angekommen, holte sie ihre Kamera und einen kleinen Notizblock heraus und ging beschwingt auf das große Gebäude zu.
Das Gebäude war aus abgedunkeltem Glas und Stahl gebaut, sodass man von draußen die vielen Menschen schemenhaft erkennen konnte - die Ausstellung hatte wohl schon begonnen. Mit schnellen Schritten überbrückte sie die letzten Meter und trat durch die große Tür.
Claire ließ ihren Blick über die Menschenmasse gleiten - man musste, um in den Hauptbereich zu kommen, ein paar Stufen heruntergehen - und erkannte Menschen in allen Gehaltsklassen, vorwiegend Männer.
Der Großteil trug teure Anzüge in grau und schwarz, die von ihrem Reichtum zeugten, aber ein paar waren ziemlich normal gekleidet - und das beruhigte Claire ungemein. Überall wuselten Journalisten, Fotografen und Reporter vom Fernsehen herum und kurz gesagt war dort ziemlich viel los.
Von der kleinen Erhöhung aus, auf der sie stand, machte sie ein paar Fotos von der ganzen Masse und ging dann in Richtung des Autos - dem Grund, weshalb hier so viel los war.
Dezent quetschte sie sich durch die Leute und kämpfte sich an den Fotografen und Reportern in die erste Reihe vor, um sich das Prachtstück einmal aus der Nähe anzusehen. Das Modell war glänzend schwarz, hatte helle Ledersitze und soweit Claire es sehen konnte, war das mit allen möglichen Hightech-Geräten ausgestattet. Zudem konnte man das Dach ein-und ausfahren und somit war es absolut sommertauglich.
Man konnte es nicht anders sagen: Das Teil sah einfach hammermäßig aus!
Wenn Claire auch nur ansatzweise so viel Geld hätte, wie die meisten Menschen hier, würde sie keine Sekunde zögern und sich das Auto sofort kaufen. Nun ja, es würde ihr schon reichen, wenigstens einmal darin dahren zu dürfen - es musste ein unbeschreibliches Gefühl sein!
Aber sie war ja nicht hier, um zu träumen »Was wäre, wenn...«, sondern wegen ihrem Job! Schnell machte sie ein paar Fotos von dem glänzenden Auto und musste sich gegen die anderen Fotografen behaupten, die dies ebenfalls verschten. Am Ende war sie jedoch voll und ganz zufrieden mit ihrer Arbeit und beschloss, ein paar Leute zu fotografieren. Vielleicht würde sie ja Felix begegnen, er war bestimmt auch hier unterwegs - und dann wäre sie nicht so ganz ohne Gesellschaft.

Im Laufe der nächsten Stunde machte Claire Fotos von den verschiedensten Leuten, beispielsweise dem Bürgermeister oder anderen 'höheren' Personen und auch von 'normalen' Besuchern.
Nachdem sie dies auch erledigt hatte, brauchte sie nurnoch ein Foto von dem Chef von RM und obwohl sie schon tausendmal irgendwelche Firmenchefs fotografiert hatte, hatte sie kein gutes Gefühl bei der Sache, gleich auf diesen Mann zu treffen.
Claire war also auf der Suche nach diesem Typen, da fiel ihr auf, dass sie keine Ahnung hatte, wie er hieß - das war echt mega unproffessionell. Das kam eben davon, wenn man immer an andere Dinge dachte!
Völlig in Gedanken versunken, bemerkte sie nicht, dass sich eine Person ihr in den Weg stellte und sie - wie sollte es auch anders sein - hineinlief.
Überrascht blickte sie auf und sah in das Gesicht ihres ehemaligen Lehrers. "Herr Frey!", rief sie freudig und schüttelte ihm die Hand. "Hallo, Claire. Lange nicht gesehen", sagte Maurice Frey und lächelte. Seine ehemals dunkelbraunen Haare hatten nun deutlich erkennbare graue Strähnen und über seiner linken Augenbraue war immernoch die hässliche Narbe zu sehen. "Wie geht es dir?", fragte Maurice und musterte seine ehemalige Schülerin.
"Sehr gut", antwortete Claire lächelnd. "Und dir?" Nach dem Abschluss hatte er seinen Schülern das "Du" angeboten.
"Mir auch", erwiderte er. "Und du bist also wirklich Fotografin geworden?" Claire nickte und hob als Bestätigung ihre Kamera hoch. "Und du bist immer noch Lehrer?"
"Ja, ich quäle immer noch die Schüler", meinte Maurice und Claire lachte leicht. "Sag mal, suchst du irgendjemanden? Du läufst hier so rum...", sagte Maurice und fuhr sich durchs ergraute Haar. Claire nickte. "Ja, ich suche den Chef von RM", gestand sie.
"Ah, komm! Ich bring dich zu ihm!", meinte Maurice sofort und zog die überrumpelte Claire hinter sich her durch die Leute.
Auf dem Weg zu dem Chef, strich Claire nochmal ihre Kleidung glatt und fuhr sich durch die Haare. Okay, jetzt konnte sie diesem Mann gegenübertreten! Fast wie abgesprochen, sagte Maurice genau in diesem Moment: "Ah, da vorne steht er ja!", und ging zielstrebig auf eine kleinere Gruppe Männer zu.
"Maurice, Moment!", zischte Claire, als sie wenige Meter von den Männern entfernt waren. Er drehte sich überrascht um und schenkte ihr einen fragenden Blick. "Wie heißt der Kerl?", fragte sie etwas unbehaglich. "Baptiste Roi, wie sonst?", erwiderte er und zog sie dirket vor den Chef von RM.
Claire sah entsetzt in das Gesicht des großen Mannes, dessen Haare auch schon langsam von Dunkelbraun ins Graue übergingen. Seine Gesichtszüge waren reserviert und neutral - man konnte keine Gefühlsregung erkennen.
Roi?
Oh nein, oh nein, oh nein...
Nicht nur, dass er den selben Nachnahmen wie Jean hatte, nein! Er sah ihm auch noch verflixt ähnlich!
"Claire Courounne, Fotografin der »Paris' Greatest News«", sagte sie mit belegter Stimme und schüttelte Baptiste Roi wie automatisch die Hand. Dieser nickte.
"Baptiste Roi, schön Sie kennenzulernen", erwiderte er höflich. Dann begrüßte er Maurice etwas wärmer, die beiden schienen sich schon zu kennen. "Ich nehme an, Sie wollen ein Foto?", wandt er sich dann wieder zu ihr. Claire nickte mechanisch, sie bekam kein Wort über die Lippen.
"Vielleicht mit einem meiner Söhne?"
Claire nickte wieder etwas dümmlich. Oh, wie musste sie jetzt bloß aussehen?
Wo war ihr Selbstbewusstsein geblieben?
Baptiste Roi drehte sich um und fasste einem Mann, der ihm den Rücken zugewandt hatte und sich mit einem anderen Mann unterhielt, an die Schulter.
"Komm, Jean, eine Fotografin möchte ein Foto von uns machen.", sagte er kühl und sein Sohn drehte sich langsam zu ihm um. Und in diesem Moment wichen alle Gesichtszüge aus Claires Gesicht. Vor ihr stand wirklich Jean!
Mit seinem kalten Gesichtsausdruck und den dunkelbraunen Haaren ähnelte er seinem Vater wirklich sehr - er sah aus wie die Junior-Ausgabe von ihm.
Unfähig, sich noch zu bewegen, geschweige denn ein einziges Wort rauszubringen, stand Claire vor den beiden Männern und starrte fassungslos in das Gesicht von Jean.
War DAS wirklich der Jean, den sich ein paar Tage zuvor kennengelernt hatte?

Fortsetzung folgt …





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