Schatten der Vergangenheit

Autor: Tascha
veröffentlicht am: 09.07.2012


Kapitel 1

Rose stolperte beinahe über ihre Füße, als sie überrascht auf die Uhr blickte. Sie war mehr als zu spät dran, wurde ihr bewusst. Mit raschen Bewegungen eilte sie ins Bad und machte sich fertig. Fluchend vor Schmerz zog sie mit der Haarbürste über ihre rotbraunen Locken, bis ihre Haare knisterten. Sie zog sich eine schwarze Jeans an und streifte sich einen Pullover über, der dasselbe Apfelgrün ihrer Augen besaß. Ihre Socken zog sie Hüpfend auf dem Rückweg in ihr Zimmer an und fiel beinahe auf das geschwungene Eisenbett, das mitten im Zimmer stand.
Fast schon geübt im Zuspätkommen schmiss sie alle Schulbücher, die ihr vor die Augen kamen, in ihre Tasche und eilte dann zum Frühstücken in die Küche. Ihr Vater saß schon an dem neu gekauften Glastisch, der in die moderne Küche ihrer Mutter ausnahmslos passte. Wie erwartet stand sie vor dem Herd und bereitete Bacon mit Eiern zu – ihre Haare zu einem dunkelbraunen Knoten frisiert und eine Schürze um den marineblauen Anzug geschnürt. Sie war auf ihre eigene Art so perfekt und penibel, dass es manchmal sogar Rose erschreckte.
Roses Vater blickte zu seiner Tochter und trank seinen morgendlichen Kaffee. „Die Pünktlichkeit in Person, meine Damen und Herren.“, erwiderte David Brooks ein wenig ironisch.
„Wieso hat mich keiner geweckt?“, wollte Rose wissen und griff nach dem Brötchen. Sie puhlte das weiche Brotfleisch aus dem Inneren heraus und kaute daran.
„Helen, Schatz, gib dem Kind etwas zu essen!“, erwiderte ihr Vater. Rose griff nach einem Apfel und steckte ihn in ihre Tasche. „Keine Zeit“, erwiderte sie. „Ich muss los. Wir sehen uns heute Abend.“ Sie eilte zur Garderobe, die in dem breiten, in warmen Tönen eingerichteten Flur stand und streifte sich dort eine schwarze Jacke über. Noch während sie zur Haustür ging, zog sie sich ihre weichen Stiefel über und griff nach dem Hausschlüssel.
Auf der Straße lag noch der frische Schnee, der heute Nacht gefallen war. Es roch nach Winter, stellte Rose fest – nach ihrer Lieblingsjahreszeit. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn zu und steckte ihre Finger in die Seitentaschen der Jacke. Während ihre Stiefel über den Schnee traten, gab das weiche Weiß Geräusche wieder, die Rose über den Sommer vermisst hatte.
Über zehn Minuten musste sie durch die Kleinstadt laufen, ehe sie das Schulgebäude vor sich erblickte. Kein einziger Schüler war noch draußen zu sehen und auch die Flure blieben Schülerlos. Rose hetzte durch den Flur im ersten Geschoss, auch wenn sie genau wusste, dass es längst zu spät war um sich zu beeilen. Sie blieb vor dem Physikraum stehen und blickte durch das Fenster der Klassentür. Mr. Stuart stand vor der Tafel und teilte dem Kurs etwas mit. Als wolle er es noch verdeutlichen, wandte er sich zur Tafel und umkreiste mehrmals mit der Kreide eine Formel auf der schwarzen Fläche. Sein Blick fiel auf die Eingangstür und eine seiner buschigen Augenbrauen zog sich in die Höhe, als er Rose vor dem Fenster entdeckte. Mit einem Kopfnicken gab er ihr zu verstehen, sie solle hereinkommen. Nur mit Widerwillen griff Rose nach der Türklinke und öffnete die Tür in den Physikraum. „Wunderbar, dass sie gerade zur rechten Zeit erscheinen, Miss Brooks. Wir berechnen gerade die Hausaufgaben, könnten sie die Ehre erweisen, mir auch Ihre vorzuzeigen?“
Verdammter Mist, dachte sie sich und holte tief Luft. „Mr. Stuart…“
„Miss Brooks, Sie werden doch nicht wieder eine Ihrer Ausreden an uns verschwenden? Welche vierjährige Cousine hat diesmal über Ihre Hausaufgaben einen Milchshake verschüttet?“
Rose hob ihre Hand, als wolle sie etwas einwenden. „Tatsächlich war es mein fünfjähriger Cousin… Lonny und es war kein Milchshake sondern eindeutig Vanilleeis.“
„Setzen Sie sich hin, Miss Brooks!“, donnerte der Physiklehrer, „Sie hätten wahrlich einen Literaturkurs besuchen müssen, anstatt den meinen. In Physik gibt es keinen Platz für Fantastereien.“
Rose biss sich auf die Lippe und lief durch die Gänge zwischen den Tischen, bis sie neben Anna, ihrer besten Freundin Platz nahm. Sie hatte ein schönes Gesicht und ihr Blick wirkte trotz aller Freundlichkeit zu Erwachsen für eine Siebzehnjährige. Glattes schwarzes Haar umrahmte ihre eckigen Gesichtszücke und berührte den weißen Kragen ihres Rollkragenpullovers. Annas freundliche blaue Augen blinzelten Rose an. „Wirst du es jemals schaffen, pünktlich zu kommen?“, wollte sie amüsiert wissen.
„Spätestens dann, wenn ich diese Schule nie wiedersehe.“, erwiderte Rose im Flüsterton und grinste zurück. Noch sechs Monate und sie würde ihren Abschluss machen und aus der Kleinstadt verschwinden.
„Hast du schon das schwarze Brett angeschaut? Mrs. Dickens sollte heute die Rollenverteilung aufhängen.“, erinnerte Anna sie, „Alexis erzählt schon jedem, dass sie die Julia sein wird.“
Rose seufzte. Sie wäre zu gerne Julia geworden. Ein einziges Mal Shakespeare‘s Julia sein, war für sie ein Wunsch, den sie sich bis zur Ende der High School erfüllen wollte. Schließlich trat Jahr für Jahr zum Winterende ein Mädchen in einem von Shakespeare‘s Stücken auf, da Mrs. Dickens, die Leiterin des Theaterkurses, eine begnadete Liebhaberin seiner Werke war. Doch wie es aussah, würde Alexis Pocock die Rolle erhalten. Das Glück hatte Rose schon vor mehr als einem Jahr verlassen. Wie konnte sie auch erwarten, dass es zu ihr wiederkehren würde?
Selbst wenn Rose mit einem Formel1Wagen gerast wäre, wäre Alexis Pocock immer noch die erste, die auf die Rollenverteilung blicken durfte. Anna und Rose erkannten den Kopf der Blondine vor dem Schwarzen Brett. Um sie waren einige ihrer Anhänger – von Rose und Anna auch gerne „Sklaven“ genannt. „Mrs. Dickens muss etwas verwechselt haben.“, flüsterte eine der Sklavinnen. „Da muss eindeutig etwas falsch sein.“, murmelte eine andere, doch keine wagte es, ihre Worte falsch auszusprechen. Als Rose und Anna näher kamen, entdeckten sie die orange Liste, die über einigen anderen Listen hing. Die Sklaven sahen Rose mit einem so unmissverständlichen Blick an, dass Rose sich verhasst und unwohl fühlte. Sie trat trotzdem zwischen die Sklaven und stellte sich neben Alexis, die immer noch, wie benommen auf die Liste starrte. Rose suchte ihren Namen auf der Liste, doch Alexis unterbrach sie. „Denk bloß nicht, dass du die Rolle behältst.“, zischte sie und verschwand mit ihren Sklaven. Rose runzelte die Stirn und blickte noch einmal auf die Liste. „Du bist Julia.“, hörte sie Annas Stimme hinter ihr. Stumm nickte Rose und blickte weiterhin auf ihren Namen. Sie war Julia. Vielleicht war ihr Glück doch wieder auf ihrer Seite? Sie konnte es nahezu sehen, wie sie auf einem aufgebauten Balkon auf der Bühne stand, in einem weichen Musselinkleid und weißen Blüten im Haar. Sie sah sich selbst nach Romeo greifen.
Noch einmal sah Rose auf die Liste, doch diesmal suchte sie nicht ihren Namen. Sie suchte Romeo. Aus wem würde Mrs. Dickens ihren Romeo machen?
„Ich glaube nicht, dass du das wissen willst.“, erwiderte Anna und wollte Rose wegziehen, doch da entdeckte Rose es schon. „Dylan Anderson.”, murmelte Rose leise, „Wie kann das sein?”, wollte sie wissen. Den Namen hatte sie seit einem Jahr nicht mehr gehört, auch wenn es noch oft genug ihre Gedanken durchstreifte.
„Das wird sich mit Sicherheit aufklären… Ich meine, Dylan Anderson, er….”, meinte Anna.
„Er ist wieder zurück.“ Es war nicht überraschend, dass Roses Stimme dabei bitter klang. „ Was hat er hier zu suchen?”, Rose konnte sich das nicht erklären. Schließlich hatte Dylan vor einem Jahr diese Schule, diese Stadt verlassen. Rose hatte gedacht er sei seit dem einen Tag für immer gegangen. Welches Recht hatte dieser Mistkerl, hierher wieder zurückzukehren? „Er hat sich mit Absicht als Romeo einschreiben lassen.“, zischte Rose, „Er wollte, dass ich es sehe.“
„Wenn du Mrs. Dickens erklärst, was es auf sich hat, dann wird sie dir sicher einen anderen Romeo zur Verfügung stellen?“, beschwichtigte Anna sie.
„Machst du Witze?“, wollte Rose wissen, „Die anderen Romeos wären nicht halb so gut, wie Dylan. Er war schon immer im Theaterkurs. Mrs. Dickens wird ihn nicht von der Bühne schmeißen und ich will verdammt sein, wenn ich mich von dort vertreiben lasse. Ich werde Julia bleiben, mit oder ohne ihn.“, meinte Rose wütend. In ihr kochte eine Wut, die sich seit einer langen Zeit gesammelt hatte. Fragen, von denen sie nie geglaubt hatte, dass sie noch in ihr spuckten, begannen, in ihrem Innern zu brennen, doch sie würde ihnen nicht nachgeben.
„Wir kümmern uns selbst darum, dass Dylan verschwindet. Soll er doch dahin zurückkehren, woher er gekommen ist.“
Anna blickte Rose mit einem etwas unsicheren Blick an. „Findest du das nicht ein wenig hart?“, wollte sie wissen.
„Anna, ich konnte dank ihm über ein halbes Jahr kaum laufen.“, sie spürte noch immer das dumpfe Gefühl in den Beinen und jedes Mal wenn sie leicht einschliefen befürchtete sie, sie müsse wieder in einen Rollstuhl. Allein schon die Erinnerung daran konnte schmerzen. „Ich hatte fast ein Jahr gebraucht um wieder laufen zu können. Findest du das nicht ein wenig hart?“, wiederholte sie die Worte ihrer Freundin. Tag für Tag besuchte sie das Rehabilitationscenter und hatte Tag für Tag Dylan dafür verflucht. Jedes Mal wenn es besser wurde, hatte sie Hoffnung geschöpft, die wieder zerstört wurde, wenn sie auf die Beine kam und fiel.
Es war keine leichte Zeit für sie und ihre Eltern gewesen. Manchmal sah sie in den Augen ihrer Eltern noch immer die Sorge, die die beiden zu verbergen versuchen.
„Ich will ihn einfach nicht hier haben.“, erklärte sie Anna mit ruhiger aber entschlossener Stimme.

Jetzt ist es so weit, dachte Rose, gleich wirst du ihn sehen. Ihr Herz hämmerte stark in ihrem Brustkorb, doch es überschlug sich nicht. Rose trat in das Schultheater, in dem sich schon einige der Schüler befanden, die im Theaterkurs waren. Da war Kate, die Julias Amme spielen musste und Peter, der die Rolle des Merkuzio bekommen hatte. Da waren Alexis, die Romeos Mutter spielen musste und eine ihrer Sklavinnen, die Julias Mutter spielte. Einige der Kursmitglieder waren in der Unterstufe. Zuerst sah sie Dylan nicht, doch als sich ein Dunkelhaariger aus einem der Theatersitze erhob, erkannte sie ihn. Er hatte immer noch die länglichen Dunklen Haare, die sich an seinem T-Shirt-Kragen kräuselten. Ein wenig männlicher war er geworden. Sein Gesicht war nun kantiger, erwachsener, genauso wie sein hochgewachsener Körper. Konnte ein einziges Jahr einen Menschen so erwachsen machen? Er hatte müde Augenringe, bemerkte sie, und seine grauen Augen leuchteten fahl im Licht des Theaters, aber das hinderte ihn nicht attraktiv auf sie zu wirken. Sogar Alexis bemerkte, wie anziehend er wirkte. Seine dunkle Kleidung schenkte ihm eine düstere Atmosphäre, als er sich zu Rose wandte. Sein Blick glitt über sie, als wäre sie eine Schaufensterpuppe in einem Kleiderladen. Er lächelte nicht, doch sein Blick verriet ihr, dass er überrascht war. Vielleicht hatte er nicht erwartet, dass auch sie noch ein paar Zentimeter gewachsen war. Doch nun war sie nicht mehr das schlaksige Mädchen mit den weißen Schlittschuhen in ihren viel zu plumpen Händen. Sie hatte Kurven bekommen, Kurven von denen sie nicht einmal im Traum dachte, sie nicht zu zeigen.
Ihre Augen trafen sich, so dass sich Roses Blick nur noch stärker versteinerte. Sie presste ihre Lippen gegeneinander, bis sie nur noch zu einer weißen Linie wurden. Der Hass war noch da, dachte sie bitter. Ein Jahr Trennung hatte an dieser Feststellung nichts geändert.
„Ey, Rose!“, rief Peter und winkte sie zu sich. Wie aus einem Traum erwacht, sah Rose zu dem blonden Lockenkopf. Sie zwang sich im Vorbeigehen nicht auf Dylan zu schauen. Sie ließ sich neben Peter auf einem der Theatersitze nieder und starrte auf die Bühne. „Sieht aus, als ob du den neuen kennst?“, meinte Peter. Noch vor wenigen Monaten war Peter selbst der neue. Wie schnell sich alles ändern konnte, dachte Rose. „Er war früher einmal in unserer Stufe… Vor einem Jahr.“, erwiderte sie bitter, „Ich habe dir einmal von meinem…Unfall erzählt…“
„Das ist der Kerl?“, Peter konnte sich nicht davon abhalten lassen, noch einmal auf den düsteren Kerl zu schauen.
Sie nickte nur.
„Schon seltsam… Ich meine, dass er jetzt der Romeo sein wird. Habt ihr schon geredet?“, wollte Peter wissen.
„Ich überlege noch, welchen Gegenstand Mrs. Dickens im Theater nicht vermissen wird. Bevor wir reden, würde ich ihm zu gerne etwas über seinen Schädel braten.“
Peter hätte gelacht, wenn er nicht wüsste, dass Rose es ernst meinte. Er legte beruhigend eine Hand auf Roses. „Es wird schon gut gehen, Rose.“, beschwichtigte er sie.
Mrs. Dickens betrat den Raum. Wie immer trug sie eines ihrer bunt geblümten Kleider, die einen an eine Zigeunerin erinnern konnten. Ihre Haare waren zu einem blonden, wilden etwas zusammengeknotet, doch ihre Locken waren nicht zu bändigen und hingen ihr um die Schläfen. Sie selber war fast dreißig, doch noch immer im Verhalten jugendlich und viel zu verrückt. „Auf die Bühne, Leute.“, scheuchte sie alle, „Darf ich euch unseren Romeo und unsere Julia vorstellen? Dylan Anderson und Rose Brooks. Das Skript werden alle morgen in ihren Schließfächern vorfinden. Heute werden wir einige unserer Theaterübungen wiederholen, die wir in den letzten Monaten zur Auflockerung benutzten. Bildet bitte Paare.“ Rose war im Begriff zu Peter zu eilen, doch Mrs. Dickens gebot ihr Einhalt. „Romeo und Julia gehören zusammen.“, meinte sie und zwang Rose mit Dylan zusammen zu arbeiten. „Stellt euch gegenüber.“, ordnete sie an, „Ich möchte, dass ihr euch entspannt und euren Partner anschaut.“
Roses Blick wanderte zu Dylans Augen. „Greift euch bei den Händen.“
Es dauerte einen Moment, ehe Rose Dylans, ihr angebotene Hände annahm. Sie fühlten sich warm und verschwitzt an, männlich, stark.
„Versucht mit eurem Gesicht eine Laune darzustellen. Euer Partner wird den Begriff erraten müssen.“, schlug Mrs. Dickens vor.
Rose sah Dylans Gesicht an. Lächelte er oder sah er sie mürrisch aus? Das konnte sie nicht so genau sagen. Langsam wanderten seine Mundwinkel hämisch nach oben. „Spott.“, gab Rose von sich und blickte ihn ausdruckslos an. „Hass.“, sagte Dylan. Seine Stimme hatte wie immer den weichen vertrauten Baritonklang, den er vor einem Jahr hatte. Das war sein erstes Wort, das er zu ihr sagte. „Wie recht du hast.“, zischte Rose. Sie wollte seinen Händen entrinnen, doch Dylan merkte es und hielt ihre Hände noch fester.
„Verwirrt.“, riet Dylan weiter, als würde es immer noch um die bescheuerte Übung gehen. „Wütend.“, meinte er amüsiert, als sich Roses Gesichtsausdruck änderte.
„Hör damit auf.“, zischte Rose. Er reizte sie mit Absicht, sagte sie sich, doch genau das machte sie so wütend.
„Rose, wir müssen reden.“, erklärte Dylan ernst.
„Mit Sicherheit nicht. Das einzige, was ich dir zu sagen habe ist, dass ich möchte, dass du verschwindest. Alles andere braucht dich nicht zu interessieren.“
„Was zur Hölle ist dein Problem?“
„Mein Problem bist du!“, sagte sie ohne Zögern.
„Hört auf zu streiten. Ihr sollt ein Liebespaar und keine zankenden Weiber spielen.“, erwiderte Mrs. Dickens.
Rose blickte verstört in Mrs. Dickens freundliches Gesicht. „Zankend“ war ein viel zu untertriebener Ausdruck dafür, was aus Rose und Dylan geworden ist. Sie schloss für einen Moment die Augen um sich zu fassen. Erst als sie sich sicher war, dass sie nicht anfangen würde, wieder zu schreien, öffnete sie die Augen und lächelte viel zu freundlich. Dafür würde Dylan ihr schon noch büßen, versprach sie sich und zwang sich die Stunde zu ertragen.

Als der Glockenschlag des Unterrichtsendes erklang, wandte Rose sich von der Bühne ab und verließ ohne einen letzten Blick auf die anderen zu werfen, den Raum. Zu lange hatte sie Dylans Anwesenheit ertragen müssen. Als sie ihre Sachen aus dem Spint nahm, lagen ihr mehrere Flüche auf der Zunge, die sie Dank ihrer Erziehung noch nicht über die Lippen gebracht hatte. Immer noch wütend bahnte sie den Schulausgang an. In ihrem Kopf brodelte die hitzige Wut, die sie immer noch auf Dylan hatte. Vielleicht hat sich sein Aussehen verändert, aber sein Charakter war immer noch der eines Mistkerls, mit dem sie einem Jahr im Eiskunstlauf aufgetreten war. Er war schon immer der Rebell gewesen, ließ sich von niemandem etwas sagen. Für ihn war es so einfach, ein Jugendlicher zu sein, dachte sie bitter. Er stand nicht unter dem Druck, den man als Eiskunstläufer hatte. Er musste sich nicht darüber Gedanken machen, was er machen würde, wenn seine Karriere schief ging. Schließlich war er der unglaubliche Dylan: Jemand, dem alles gleichgültig war. Er hatte nicht im Rollstuhl gesessen, verdammt. Wut wechselte zu Trauer und sie musste sich eingestehen, dass sie diesen Teil ihres Lebens noch nicht überwunden hatte.
„Rose.“, hörte hinter sich eine Stimme rufen. Anstatt sich umzudrehen beschleunigte sie ihr Tempo. Nur noch den Schulhof überqueren, dachte sie. Sie wollte einfach nur weg. Nicht heute, erklang es müde in ihrem Kopf, nicht mehr heute. Sie erschrak als eine kräftige Hand ihren Oberarm packte und sie umdrehte. Graue Augen starrten sie mit einer unglaublichen Festigkeit im Blick an. Augen, die sie öfters in ihren Träumen verfolgt hatten, als sie zugeben mochte. „Lass uns reden, Rose“, schlug Dylan vor. Seine Finger gruben sich noch immer in ihre Haut.
„Lass mich los, Dylan.“, bat Rose.
„Erst, wenn wir geredet haben.“, sagte er ohne Widerrede, „Wie Mrs. Dickens schon erwähnt hatte, sollten wir ein verdammtes Paar spielen. Solange wir das zwischen uns nicht geklärt haben, werden wir ewig herumstreiten.“ Er atmete einmal tief durch, ehe er weitersprach. „Ich will mein Leben wieder zurück. Ich will im Schauspielkurs weitermachen, ich will Eiskunstlaufen. Mit dir, Rose.“
Rose wehrte sich wütend. „Weißt du, was du da eigentlich sagst? Herrgott nochmal, dein Leben? Wer gibt mir mein Leben zurück? Hat dir niemand gesagt, dass ich nie wieder Eiskunstlaufen kann? Wegen dir, Dylan.“, sie schubste ihn, „Ich kann nicht mehr aufs Eis, du Idiot.“
Dylan wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. In ihren Augen sah Dylan blanken Hass, doch aus ihrer Stimme klang Verzweiflung und Tränen, die sie sich zu weinen verbot.
„Es war ein Fehler, Rose, das weiß ich. Aber damals ging es darum zu gewinnen.“
Rose schnaubte wütend. „Darum ging es dir doch schon immer: Ums Gewinnen. Oder irre ich mich?“ Rose befreite sich aus seinem Griff. „Du bist schließlich der fabelhafte Dylan Anderson, der auf nichts und niemanden zu hören braucht. Nicht wahr? Hättest du am Abend der Meisterschaft auf mich gehört, wäre nichts von all dem passiert. Ich wäre nie gestürzt. Aber nein, du musstest dich wieder aufspielen. Du wolltest wieder der Beste sein. Reicht es nicht, dass du damals schon mein Leben zerstört hast? Musst du wieder zurückkommen um es noch einmal zu tun?“
„Ich… Rose,…wenn ich es rückgängig machen könnte, den Tag, ich würde es auf der Stelle tun…“
„Du müsstest schon das ganze Jahr rückgängig machen.“, unterbrach Rose ihn scharf, „Nur leider sind wir hier in keinem Märchen, Dylan, und das einzige, was du tun kannst, ist wieder dahin zu verschwinden, woher du gekommen bist.“ Sie wandte sich zum Gehen, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.
„Ich werde nicht wieder verschwinden!“, rief er ihr wütend hinterher. „Du wirst mich nicht dazu zwingen können!“
Rose drehte sich ein letztes Mal zu ihm um, ehe sie davonging. „Glaub mir Dylan, du wirst noch freiwillig gehen wollen.“





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