Die karierte Decke

Autor: Des Bruders Schwester
veröffentlicht am: 09.07.2012


Unsere Familie lebte in einem großen Haus. Wirklich unsere ganze Familie. Meine Großeltern lebten in dem bewohnbaren Dachgeschoss. Ich mit meinen Eltern und meinem Bruder wohnten im zweiten Stock. Meine Tante und mein Onkel hatten es sich im Erdgeschoss gemütlich gemacht. Vor ca. einem halben Jahr ist das Haus fertig gestellt worden. Natürlich hatte die ganze Familie dabei mitgeholfen. Am Ende war es richtig schön und groß geworden.

Nun kam es, dass meine Oma drei Monate nach der Fertigstellung des Hauses starb. Uns alle hatte das sehr getroffen. Am meisten jedoch meinen Opa, was verständlich war. Er musste nun mutterseelenallein im Dachgeschoss wohnen, was er natürlich nicht so toll fand. Immer wenn ich nach oben ging, um nach ihm zu schauen, sah ich ihn, wie er gekrümmt in seinem Ohrensessel saß und starr nach vorne schaute.

Ich hatte richtig Mitleid mit ihm, doch ich konnte nichts für ihn tun. Eines Tages ging ich von der Schule nach Hause. Mein erster Gedanke war, nach meinem Opa zu sehen, denn sonst hatte er ja niemanden. Als ich in sein Zimmer kam, konnte ich ihn nicht finden. Auch in den anderen beiden Geschossen war er nicht.

„Papa, wo ist Opa?“, fragte ich meinen Vater, der im Wohnzimmer saß.

Eine kurze Zeit schaute er mich einfach nur an, dann stand er auf und sagte: „Komm mit.“

Ich folgte ihm bis zur Kellertür. Seltsamerweise öffnete er diese und ging die Treppe hinunter. Mit einigen Fragezeichen im Kopf folgte ich ihm. Er führte mich in einen Raum, der weit entfernt von der Treppe, in einem dunklen Teil des Kellers, lag. Als er die Tür des Raumes öffnete, knarrte sie und ich lies meinen Blick durch den engen, stickigen Raum wandern.

An der Decke baumelte eine nackte Glühbirne, die den Raum spärlich erhellte. Rechts und linkt standen alte Möbel, die ich irgendwoher kannte. Erst jetzt bemerkte ich auf der anderen Seite des Raumes ein Feldbett, auf dem eine karierte Decke lag. Daneben war ein Sessel aufgestellt, auf dem… mein Opa saß!

Dieses Bild aus dem Keller verfolgte mich sehr lange. Es bescherte mir viele Alpträume und schlaflose Nächte. Ich besuchte meinen Opa nun viel häufiger als sonst und brachte ihm einige Kleinigkeiten, um ihn aufzuheitern. Immer, wenn ich zu ihm kam, freute er sich und ein flüchtiges Lächeln erhellte sein Gesicht. Oft stellte ich meine Eltern zur Rede, doch sie gaben mir immer nur die eine Antwort: Ignoranz.

Nun kam es, wie es kommen musste. Mein Opa starb kurze Zeit später. Ich bin mir sicher, dass ich derjenige war, der am meisten um ihn getrauert hat. Seine Möbel überließen meine Eltern den Holzwürmern. Das Feldbett wurde wieder zusammengefaltet und verstaut. Dieser Tag, an dem er starb, war Schlimmste und Grausamste Tag meines Lebens.

Heute, zwanzig Jahre später, bewohne ich dasselbe Haus mit meiner Frau und meinen Kindern, wie schon vor geraumer Zeit. Meine Tante und mein Onkel wohnen schon längst nicht mehr hier. Sie hatten sich eine Wohnung in der Innenstadt gemietet und wohnten jetzt dort. Mein Vater wohnte allein im Dachgeschoss, da meine Mutter vor Kurzem gestorben ist. Nun wohnten der Bruder meiner Frau und seine Gattin im Erdgeschoss.

Eines Tages kam ich von der Arbeit zurück und ging sofort zu meinem Vater in das Dachgeschoss. Meine Frau war noch arbeiten. Ich bat ihn, mir zu folgen. Er kam schwerfällig und langsam hinter mir her. Im Erdgeschoss angekommen, öffnete ich die Kellertür und ging wieder voraus. Mein Vater folgte mir in den kleinen Raum.
Einen Teil seiner Möbel würde ich ihm noch runter bringen, aber bis dahin muss er sich mit dem Feldbett und der karierten Decke zufriedengeben.








© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz