Das Erziehungsheim - Teil 10

Autor: Valenzia
veröffentlicht am: 10.09.2012


Verzeiht mir, dass dieser Teil etwas langweilig ist, aber ich wusste nicht, wie ich sonst Claires Gefühle gut zur Geltung bringen konnte. :o) Grüzze!
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Alle Heimbewohner waren schulverpflichtet. Das hieß, dass ich nun mit Viktoria allein im Heim war. Daniela hatte mir erzählt, dass während der Schulzeit meist nur zwei bis drei Aufseher oder Erzieher im Heim blieben. Das Schulgebäude lag relativ nah, nur einen kurzen Waldweg entfernt. Da Freitag war, würde es heute nur fünf Stunden Unterricht geben. Und in diesen fünf Stunden war ich mit diesem übellaunigen und absolut unerwünschten Mädchen alleine!
Glücklicherweise sagte sie nichts weiter, als die anderen gegangen waren, sondern ließ sich aufs Bett fallen, nachdem sie mir einen bösen Blick zugeworfen hatte. Mit ihr in einem Raum zu bleiben wollte ich nun wirklich nicht, also verließ ich unser Zimmer. So ein gehässiges Geschöpf!
Zugegeben, meine Laune war momentan auch nicht auf dem Höhepunkt, aber ich hatte auch einen Grund. Finnley. Dieser Name löste augenblicklich Aggressionen in mir aus.
‚Sei nicht so unfair’, flüsterte eine Stimme in mir. ‚Er hat dir doch nur helfen wollen.’
Schönes Helfen war das! Ohne ihn wäre ich gar nicht erst gestolpert.
‚Ist das dein einziges Argument?’
Ja das war es allerdings! Und ich würde nicht weiter wie ein Geistesgestörter mit mir selbst ein Zwiegespräch führen.
Doch plötzlich, als ich völlig willkürlich irgendeinen Flur entlangging, tauchte ein Bild vor meinem geistigen Auge auf: Finn, der seine Jacke auszog und sie mir um die Schultern legte.
Na gut, ein Punkt für ihn.
Dann erinnerte ich mich an das warme Lächeln, welches er mir mehr als einmal geschenkt hatte. Ich blieb auf dem menschenleeren Flur stehen und verlor mich einmal mehr in den wunderschönen Steinmeißelungen auf den Säulen. Ob Finnley in mich verliebt ist?, fragte ich mich völlig nüchtern. Konnte dieses schöne Lächeln, das eindeutig für mich bestimmt gewesen war, ein Zeichen der Zuneigung, der Liebe sein?
Ach, Quatsch! Ich zwang mich, weiterzugehen und den Gedanken beiseite zu schieben. Erstens verliebte sich kein vernünftiger Mensch nach zwei Begegnungen, und zweitens schon mal gar nicht in mich. Ich war nun wirklich kein Liebesmaterial, von meinem Aussehen mal abgesehen. Außer meiner Schwester hatte niemand viel für mich übrig, niemand liebte mich, und VERliebt war man schon mal gar nicht in mich.
Mir fiel die Begegnung mit Erik ein, einem meiner Art. Wo sich bei normalen Menschen das warme, pulsierende Herz befand, war bei Leuten von unserem Schlag nur ein kalter, toter Stein. Eine Tatsache, an der es nichts zu rütteln gab.
Ob er auch so ungeliebt war? Ob es die mangelnde Liebe war, die ihn so werden ließ, wie er ist?
Aber da konnte ich mich beruhigen, ich hatte meine Schwester. Das hieß, dass ich nicht ungeliebt war und dass ich fähig war, zu lieben. Aber das kleine bisschen Liebe, das sich irgendwo in meiner Brust befand, galt ausschließlich Johanna, niemand anderem.
Da fiel mir ein, dass es Erik vielleicht genau so ging wie mir. Vielleicht hatte er auch- wie ich- eine Person, die er liebte, ja vielleicht war auch in ihm irgendwo ein kleiner Rest dieses Gefühls. Es musste ja noch nicht mal auf einen Menschen bezogen sein. Vielleicht liebte er etwas anderes, Materielles oder Geistliches.
Ich schüttelte den Kopf. Das wurde mir jetzt zu philosophisch.
Ich verbannte jegliche Gedanken aus meinem Kopf und schlenderte durch den schummrigen Flur. Draußen musste es taghell sein, jedoch kam hier drin nicht viel davon an. Aber das gefiel mir, es verlieh dem alten Gebäude eine ehrwürdige Atmosphäre.
Der alte Holzboden knarrte unter meinen Füßen, ich blieb kurz stehen um mir meine Schuhe zuzubinden. Die Holzdielen knarrten weiter.
Ich hielt inne. Lauschte. Das Knarren war verstummt. Ich band mir hastig die Schuhe zu, stand auf und ging weiter. Nach zwei, drei Schritten blieb ich abrupt stehen, aber der Boden hörte wieder nicht auf zu Knarren. Das waren doch Schritte! Ich wandte mich um, schaute zu beiden Seiten des Flurs. Nichts, niemand. Es war wieder absolute Stille eingekehrt. Außer meinem Atem und dem Blut, das in meinen Ohren rauschte, hörte ich nichts. Es war eine drückende, unheimliche Stille, und sie machte mich nervös. Ich spürte, wie sich kleine Schweißtropfen auf meiner Stirn bildeten. Plötzlich erfasste mich Panik, ich wusste, dass ich schleunigst hier wegmusste. Doch meine Füße waren festgewachsen, meine Beine wie aus Gummi. Aber als die Stille von einem weiteren Knarren der Dielen durchbrochen wurde, verlor ich endgültig die Nerven, riss mich aus meiner Erstarrung und rannte los. Ich rannte den Rest des Flurs entlang, schaute mich nicht um und riss die Tür auf. Dahinter lag etwas, was mir gar nicht gefiel. Der Waschraum für die Jungen, das hieß, ich saß in der Falle. Hektisch warf ich die Tür zu, stemmte meinen Körper mit aller Kraft dagegen und drehte den Schlüssel. Gottlob, dass überhaupt einer im Schloss steckte!
Ich wusste nicht genau, was ich zu erwarten hatte. Vielleicht das plötzliche Poltern eines wilden Tieres, das versuchte, durch die dünne Tür zu brechen. Vielleicht aber auch das dumpfe Kratzen und Scharren von Fingernägeln. Aber nichts dergleichen geschah. Die unheimliche Stille war wieder eingekehrt. Mein angespannter Körper löste sich langsam aus seiner unnatürlichen Haltung und meine Beine hatten wieder ihre übliche Stärke erlangt. Ich fuhr mir mit der schwitzigen Hand durch die Haare. Dabei merkte ich, wie meine Hände zitterten. Was war das gewesen? Hatte mir meine Fantasie einen Streich gespielt?
Wurde ich langsam verrückt oder hatte mich tatsächlich jemand verfolgt?
Ich hielt inne, weil ich ein Geräusch von der anderen Seite der Tür gehört hatte, und legte ein Ohr an die Tür. Da war es wieder, das durch die Wand gedämpfte Geräusch von Schritten.
Na gut, jetzt reicht’s, dachte ich und setzte meinen entschiedensten Gesichtsausdruck auf. Obwohl ich halb besinnungslos vor Angst war, würde ich mich nicht den ganzen Tag hier drin verstecken.
Kurz entschlossen drehte ich den Schlüssel im Schloss und riss die Tür (halb aus den Angeln) auf. Augenblicklich drängte sich ein Schrei in meiner Kehle auf und mein Herz setzte kurz aus. Aber mein Gegenüber war wohl ebenso schockiert wie ich, denn er sprang mit einem leisen Aufschrei einen Schritt zurück und sah mich an, als wäre ich ein Geist. Es dauerte einen Moment, bis ich registrierte, dass vor mir weder jemand stand, den ich kannte, noch jemand, der wie ein Schüler aussah. Während mein Hals wie zugeschnürt war- teils noch von der Angst, teils vom Schock- erlangte der Mann relativ schnell wieder seine Fassung.
„Was zum Teufel treibst du da drin, Mädchen?“ Er schlug einen strengen Ton an, aber ich sah, dass seine Hände immer noch leicht zitterten. Er war größer als ich, bestimmt einen Meter neunzig, und vielleicht Ende dreißig.
„I- ich…ich habe nur- also ich-“ stammelte ich und merkte, wie zittrig meine Stimme war. Mein Gegenüber zog eine Augenbraue hoch und sah mich an, als wäre ich behindert. Reiß dich zusammen, Claire!, mahnte ich mich selbst, räusperte mich und versuchte es noch einmal.
„Ich… habe Schritte gehört.“
Der Mann erwartete wohl, dass ich mehr sagte. Doch als von meiner Seite nichts mehr kam, verschränkte er die Arme vor der Brust und sagte: „Du hast Schritte gehört? Und das hat dich dazu veranlasst, in den Trakt für die Jungen zu laufen? In den Waschraum?“
Ich merkte, dass das wirklich etwas abwegig klang, also versuchte ich es anders.
„Entschuldigen Sie“, meinte ich demütig. Ich hasste es, mich zu verstellen. Vor allem, wenn ich dabei den Kürzeren zog. „Ich glaube, ich habe mich nur verlaufen.“ Ich setzte eine Unschuldsmine auf und bohrte meinen Blick in den seinen. Tante Lisbeth hatte zu meinen Augen mal „Grünes Gift“ gesagt. Ich fasse es immer noch als Kompliment auf.
„Sehen Sie, ich bin erst einen Tag hier und kenne mich noch gar nicht aus. Und da dachte ich, das hier wäre die Mädchentoilette.“ Ich fixierte ihn immer noch mit meinem Blick und versuchte, möglichst bemitleidenswert auszusehen. So etwas funktionierte (zumindest bei hübschen Personen) eigentlich immer. Aber mein Gegenüber war da wohl nicht so leicht zu beeinflussen. Er sah mich einen Moment skeptisch an, schaute dann an mir vorbei in den Waschraum, um zu gucken, ob ich wirklich allein war, und richtete dann seinen missbilligenden Blick wieder auf mich.
„Das kommt bestimmt nicht noch mal vor“, entschuldigte ich mich und lächelte leicht und schuldbewusst. Das knackte die Nuss wohl, denn seine Gesichtszüge entspannten sich und er deutete auf den Flur zu seiner Linken. „Wenn du da lang gehst, kommst du im Garten wieder raus. Dann läufst du einfach um das Haus zum Haupteingang.“
Das war wohl der Freispruch gewesen. Ich machte gerne von ihm Nutzen, denn ich wollte nicht länger als nötig in diesem unheimlichen Flur mit diesem merkwürdigen Mann bleiben. Also schlich ich, ohne mich noch einmal umzusehen, den Flur entlang, wobei ich allerdings seine Blicke im Rücken spürte. Als der Gang eine Biegung machte, atmete ich erleichtert auf und öffnete die schwere Eichenholztür am Ende. Der „Garten“ war ein kleines, eingezäuntes, pflanzenüberwuchertes Stück Wiese hinter dem Haus, in das man von außen nicht hineinsehen konnte. Hier war wirklich lange kein Rasen mehr gemäht worden und der alte Steinweg, der bis zu dem kleinen Tor am Ausgang führte, war moosbewachsen und kaum noch zu erkennen. Hier wuchsen manche Pflanzenarten nebeneinander und übereinander, die ich noch gar nicht kannte. Die einzige Bank stand relativ gut versteckt unter einem Goldregen und halb eingemauert von einer Hecke. Ich ließ mich darauf nieder, leider hatte ich im Moment für die Schönheit des kleinen Gartens kein Auge.
Ich spürte, wie meine schweißnassen Hände immer noch leicht zitterten. Mein Oberteil klebte mir nass am Rücken und mein Puls ging schnell. Gleichzeitig jagten mir tausende Fragen durch den Kopf.
Wer war dieser Mann gewesen? Hatte er mich verfolgt? Oder war das wirklich nur meiner Fantasie zuzuschreiben gewesen? Aber es war doch sehr merkwürdig, dass er so plötzlich vor der Tür gestanden hatte. Was wollte er in dem menschenleeren Flur? War es ein Lehrer oder ein Erzieher gewesen? Wenn ja, warum hatte er mich dann nicht gefragt, warum ich nicht mit den anderen in der Schule war?
Fragen über Fragen! Ich spürte, wie mein Kinn wieder anfing zu schmerzen und strich kurz mit dem Zeigefinger darüber. Er war Dreck- und Blutverschmiert. Das Wasser hatte also nicht die ganze Erde entfernt. Die Wunde sah wirklich harmloser aus, als sie war. In diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher herbei, als Finn mit seiner Whiskyflasche. Gott, wie alleine ich mich fühlte!






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