Das Erziehungsheim - Teil 8

Autor: Valenzia
veröffentlicht am: 03.09.2012


Es war leer, da die anderen gerade alle in den Waschräumen waren.
Ich setzte mich auf mein Bett und versuchte nachzudenken. Dafür war ich hingegen zu aufgewühlt, also stand ich auf und lief unruhig im Zimmer umher, während die Gedanken meinem armen Kopf keine Ruhe ließen. Was zum Geier war das da eben gewesen? Und vor allem, WER war das da gerade gewesen? Er hatte nicht wie das typische Problemkind ausgesehen, mit dessen Erziehung man nicht fertig wurde. Also Waise.
„Meine Güte“, entfuhr es mir, als ich an seine letzten Sätze dachte. Ich musterte mich im Spiegel und gab ihm Recht, was meine Eitelkeit wachsen ließ. Wenn sich die Sonne in meinen roten Locken verfing, sahen sie wirklich aus wie loderndes Feuer. Und meine Augen, die unter den dichten, langen Wimpern wie Smaragde glühten, hätten mir viele Mädchen liebendgern ausgekratzt. Gerade kam mir der Gedanke, dass man auf mich wirklich neidisch sein konnte, als dieser von dem Zitat von Sophia Lauren durchkreuzt wurde, welches der Junge mir so ungalant ans Herz gelegt hatte.
„Bin ich uncharmant?“, fragte ich mein Spiegelbild ernst, als erwartete ich eine Antwort. Die kam natürlich nicht, dafür aber meine fünf Zimmergenossinen.
„Da ist ja unser Claaairchen“, kam es von Viktoria, wobei sie das „a“ spöttisch in die Länge zog.
Ich schaute sie abfällig an. „Was hast du eigentlich für ein Problem?“
Sie erwiderte den Blick ebenso geringschätzig. „Du“, sagte sie „bist mein Problem.“ Sie legte sich ins Bett und drehte sich mit dem Rücken zu uns.
Weder Heidi, noch Lisa- Marie, noch Cataleya, noch Daniela sagten dazu etwas. Sie taten es Viktoria nach und legten sich schlafen. An mir blieb es also hängen, das Licht auszumachen. Mit einem wütenden Schnauben legte ich den Schalter um und stampfte zu meinem Bett.
Ich wollte gerade die Augen schließen, um in mein Land der Träume- in dem immer alles perfekt war- zu flüchten, als sich eine warme Hand auf meine Schulter legte. Ich blickte auf, und sah Cataleyas schemenhaftes Gesicht. Das Mädchen, das über mir schlief, schaute mich mit großen Augen an.
„Mach dir wegen Viktoria keine Sorgen“, flüsterte sie kaum hörbar „sie ist bloß neidisch auf dich.“
„Neidisch?“, entschlüpfte es mir eine Spur zu laut. Leya nickte. „Ja, weil sie nicht so hübsch ist, wie du. Das macht sie wütend.“
Ich runzelte die Stirn. Viktoria neidisch auf mich? Zugegeben, nach der flammenden Lobrede des Fremden auf mein Aussehen nahm ich sowieso an, dass es kein Mädchen unter der Sonne mit mir aufnehmen konnte. Aber wenn ich so an Viktorias schwarze Lockenpracht und ihre glänzenden braunen Augen dachte, konnte ich wirklich nicht glauben, was Cataleya mir da erzählte. Ob das wirklich der Grund für ihre Abneigung war?
Ich schob den Gedanken beiseite. Das konnte mir sowieso egal sein, ich hatte ja wie gesagt nicht vor, mir Freunde zu machen.
Ich versuchte gerade, noch etwas schläfrig, die Augen aufzuschlagen, da gab es einen lauten Knall, gleißendes Licht fuhr durch meine halbgeöffneten Lider und eine raue Kommandantenstimm bellte: „Aufstehen!“
„Himmelarschundzwirn!“, kam es angesichts dieser erschreckend rabiaten morgendlichen Begrüßung prompt aus meinem Mund.
Der Kommandant in der Tür- der sich nach genauerem Hinsehen übrigens als altjüngferliche Hexe mit grauem Haar, das zu einem strengen Knoten im Nacken festgebunden war, entpuppte- schaute mich nach dieser unwirschen, aber unbeabsichtigten Antwort einen Moment konsterniert an, knallte dann die Tür hinter sich zu und verschwand auf dem Korridor, wahrscheinlich, um dem nächsten Zimmer einen Herzinfarkt zu bescheren.
„Wer- wer war das denn?“, keuchte ich und rieb mir die Augen. Das Licht, das von zwei Lampen ausgestrahlt wurde, war morgens wohl so stark eingestellt, damit auch bloß keiner aus Versehen wieder einschlief.
Ich stieg aus dem Bett, torkelte auf den Regulierer zu und dämmte das Licht etwas. Aus der Ecke, wo Daniela schlief, kam es verschlafen: „Das war Fräulein Gerlach. Man beachte das ‚Fräulein’.“
„Was? Die Frau war doch mindestens sechsundfünfzig Jahre alt und so dünn und knochig wie ein Besenstiel!“
Daniela lachte und schwang die Beine aus dem Bett. „Und die beiden letzten Punkte sind auch die Gründe, warum sie nie jemand heiraten wollte. Ich schwöre dir, dass ich noch nie eine derart verbitterte und übellaunige Person gesehen habe.“
Viktoria, die auch gerade in den Wachzustand hinüberglitt, lachte trocken. „Du redest doch gerade mit einer, Dani.“
Eigentlich wollte ich diese bissige Bemerkung übergehen, aber dann fiel mir etwas Besseres ein. Ich wandte mich Viktoria zu und lachte sie an, ein breites, herzliches Lachen, woraufhin sie mich ansah, als wäre ich ein Geist.
„Allerdings“, redete Daniela geistesabwesend weiter „ist die alte Jungfer seid einer Ewigkeit vernarrt in den Herrn Raaseder.“
„Wer ist das?“
Danielas Blick heftete sich auf mich. „Oh, das wirst du noch früh genug erfahren!“

Innerhalb von zehn Minuten mussten wir alle fertig angezogen und gewaschen vor dem Haus stehen, was wir dann auch taten.
„Zehn Minuten!“, brummte ich, als wir in der Kälte standen. Mein Atem stieg in der Luft als weiße Wolke auf. „Und dann noch mitten im Winter!“
„Stell dir vor, das müssen wir jeden Tag machen“, bemerkte Lisa- Marie, die die Kälte scheinbar ganz gelassen hinnahm. Kein Wunder, dachte ich bösartig, bei den Fettschichten dringt natürlich keine Kälte durch.
Was genau wir machen mussten? Morgensport. Zum Anregen der Gehirnzellen, für besseres Denken. Daniela hatte mir erklärt, dass der Morgensport ebenfalls in Klassenverbänden stattfinden würde. Sprich, wir- die Ältesten- mussten eine halbe Stunde ab viertel nach sechs joggen gehen, die Klassen unter uns danach, und so weiter.
Also standen wir an diesem Morgen zu dreiundzwanzig Leuten auf dem Hof und warteten und froren. Ich ließ meinen Blick schweifen, vielleicht würde mich das von der Kälte ablenken. Die meisten Leute sahen so aus, als wären sie den Morgensport gewohnt. Zumindest fanden sich alle auf dem Hof besser damit ab als ich. Ihnen blieb ja auch nichts anderes übrig.
„Ah, da ist Herr Raaseder“, riss mich Cataleyas Stimme aus den Gedanken. Der erste Gedanke, der mich durchfuhr, war: Verständlich, dass keine andere sich in den verliebte, außer der alten Jungfer Gerlach.
Groß, hager, schütteres, spärliches Haar, große wimpernlose Kaninnchenaugen und ein hässliches Drahtgestell auf der knochigen Nase.
„Die beiden würden perfekt zusammenpassen oder?“, grinste Cataleya.
Ich nickte, das stimmte tatsächlich!
Herr Raaseder war ausschließlich für den Morgensport zuständig, und auch wenn er fast genauso lang wie Fräulein Gerlach in dem Heim arbeitete- nämlich fünfzehn Jahre- war er dennoch nicht so verbittert geworden wie sie.
Daniela hatte mir erzählt, dass Herr Raaseder ein wenig zerstreut, vollkommen taktlos und im Bereich Gefühle zeigen oder verstehen absolut unbegabt war. Kein Wunder, dass er und die alte Jungfer seit fünfzehn Jahren nicht weiter kamen.
„Ihr kennt alle das übliche Spiel“, sagte er in die Runde. „Für die neuen, die es noch nicht kennen: Keiner bleibt zurück, alle müssen bis zum Ende durchhalten. Ich will hier keine Jammerlappen, die mitten auf dem Weg zusammenbrechen.“
Angesichts der Tatsache, dass wir alle noch nicht gefrühstückt hatten, könnte das für die weniger sportlichen unter uns schwierig werden.
Wir fingen an zu laufen, er ganz vorne, wir hinterher. Der Wald lag noch in der morgendlichen Stille, der Tau auf den Blättern und im Gras glitzerte und die kalte Luft war von ganz leichten Nebelschwaden durchzogen. Bald würde es schneien. Ich hielt mich in der hinteren Mitte. Viel Übung hatte ich im Laufen nicht. Damit gehörte ich zu der Minderheit, denn die meisten von den Jugendlichen in der Gruppe waren schon so lange hier, dass sie etwas besser trainiert waren.
Nach bereits zehn Minuten bekam ich Seitenstechen, keuchte und hechelte. Ich wurde langsamer und wollte stehenbleiben, als eine Stimme neben mir sagte: „Nicht stoppen! Dann hast du verloren.“
Ich wandte mich der Person zu und erkannte den fremden Schönling von gestern.

Kritik und Kommis immer erwünscht :o)





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