Das Erziehungsheim - Teil 7

Autor: Valenzia
veröffentlicht am: 25.08.2012


„Was zum Teufel soll das, du schwachsinniger-“
Meine Worte blieben mir im Hals stecken, denn vor mir stand kein Jugendlicher, sondern einer der Aufseher, ein großer Kerl mittleren Alters, dessen buschige Augenbrauen ihm das Aussehen eines Bären verliehen.
Meine Stimme hatte ich allerdings angesichts der Schmerzen, die sein Schraubstockgriff um meinen Arm verursachte, schnell wieder.
„Au! Sie tun mir weh, loslassen!“ Ich zerrte mit aller Kraft an der mächtigen Bärenklaue, aber er schien völlig unbeeindruckt.
„Aufstehen während des Essens ist verboten“, sagte er mit einer tiefen Bassstimme. „Durch den Saal laufen ist ebenfalls verboten.“
„Verdammte Hacke, was ist denn hier nicht noch alles verboten?“, rief ich, womit ich die Aufmerksamkeit des gesamten Raumes auf mich zog.
„Jetzt lassen Sie mich los, Sie dämlicher Hohlkopf!“
Ich bin mir sicher, er hätte mich nicht losgelassen, hätte ihn nicht Frau Meier angewiesen, es zu tun. Sie war plötzlich hinter mir aufgetaucht und schaute mich jetzt aus ihren strengen, grauen Augen missbilligend an.
Der Bär brummte etwas, ließ mich aber schließlich los, woraufhin sich die Striemen des Handabdrucks auf meinem Oberarm feuerrot abzeichneten, und genau so schmerzhaft brannten.
„Mitkommen!“ Das war an mich gerichtet und ich hatte keine Lust auf noch mehr Aufsehen, also folgte ich der Meier mit einem Knurren. Auf dem Weg zur Tür wurde ich von sämtlichen Kindern und Jugendlichen angestarrt, manche ängstlich, andere anerkennend, die meisten ausdruckslos. Vor allem von der männlichen Sparte meines Alters spürte ich Blicke in meinem Rücken. Respekt vielleicht, oder Belustigung?
Auch Eriks Blick kreuzte sich mit dem meinen, aber bei ihm war es wieder nur der bekannte undurchschaubare Gesichtsausdruck. Konnte dieser Kerl überhaupt Emotionen zeigen? Aber ich, bei meinem Herz aus Stein, konnte ihm da keinen Vorwurf machen.
Frau Meier führte mich in ihr Büro, wies mich an, auf einem Stuhl Platz zu nehmen und setzte sich dann selbst hinter den Schreibtisch. Ich hatte ein furchtbares Theater erwartet, aber sie fing relativ ruhig an, und sah mir dabei in die Augen.
„Weißt du eigentlich, wie lange es diese Einrichtung schon gibt?“
Ich antwortete nicht, starrte sie nur an.
„Nein? Nun, ich will es dir sagen. Seit einhundertsiebenundzwanzig Jahren existiert dieses Heim, in der gesamten Zeit wurden hier über zweitausend Kinder und Jugendliche aufgenommen. Keines- und ich wiederhole, KEINES- der Kinder hat dieses Haus so verlassen, wie es hergekommen ist. Und du, Claire, wirst da keine Ausnahme sein.“
Eine Pause entstand. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen, spürte das schmerzhafte Pochen in meinem Arm und hielt starr den Blickkontakt mit Frau Meier aufrecht. Natürlich waren ihre Worte eine Drohung, sie versuchte erst gar nicht, durch die Blume zu reden.
„Du wirst die Regeln hier noch kennen lernen, mein liebes Mädchen“, sagte sie mit einem leisen Lächeln. „Du wirst den Erwachsenen Respekt entgegenbringen, du wirst lernen, dass es ab jetzt nicht nach deiner Nase geht. Du wirst dieses Haus verlassen als ein Vorbild für alle Leute deines Alters.“
„Sie können meinen Charakter nicht brechen“, entgegnete ich seelenruhig. Die Meier hatte dafür nur ein müdes Lächeln übrig.
„Oh, wir können, Claire- und wir werden. Du wurdest nicht umsonst hierhergeschickt. Für Fälle wie dich haben wir unsere ganz besonderen…Methoden.“
Ihre Stimme nahm bei diesen Worten einen so seltsamen Klang an, dass mir ein Schauer über den gesamten Körper jagte. Was für besondere Methoden meinte sie? Wo, zum Teufel, war ich hier gelandet?
Als ich in die leere Eingangshalle trat, fiel mir die Stille auf. Ich sah auf die Uhr, deren Zeiger gerade auf Sieben sprang. Daniela hatte mir erzählt, dass alle sich um neunzehn Uhr waschen und aufs Schlafengehen vorbereiten mussten. Die Mädchen gemeinsam in einem Waschraum, dasselbe bei den Jungen. Ich wusste nicht, wo die Waschräume waren und in meiner jetzigen Situation hatte ich auch keine Lust, das herauszufinden.
Das erste Mal in meinem Leben machte sich Verzweiflung in mir breit. Ich war gerade einmal einen Tag hier und schon griff sie mit ihren langen kalten Fingern nach mir, schlängelte sich gleich einer Schlange um meine Seele.
Ich ging vier Schritte durch die Halle und ließ mich dann abrupt neben einer der mächtigen Säulen nieder, die das Gebäude stützten.
„Eine Stütze könnte ich jetzt auch gut gebrauchen“, meinte ich zu der Steinsäule.
Tausende Gedanken schwirrten mir im Kopf umher, der an meine Schwester übertönte alle. So viele Fragen hatte ich ihr zu stellen, so viel wollte ich wissen über ihren Zustand. Was hatte sie mit furchtbar gemeint? Wie behandelte man sie? Wie ging es ihr? Angst machte sich in mir breit.
„Wenn Johanna etwas zustößt, könnte ich mir das nie verzeihen“, sagte ich zu mir selbst.
Sie war so ein sanftes, kleines Wesen, so zerbrechlich wie ein junger Baum, so sensibel und empfindsam. Sie hatte nichts von meinem Charakter, sie würde das hier nicht lange durchstehen.
Meine Augen füllten sich mit Tränen, die ich sofort unterdrückte. Stattdessen lehnte ich mich gegen die Säule und ließ meine Finger über die hervorgehobenen Ornamente im Stein gleiten. Verschlungene Linien, Blumen, Verzierungen, all das erfühlten meine Finger wie von selbst. Ich weiß nicht genau, warum mir dieser leblose, kalte Stein in diesem Moment so viel Trost spendete. Jedenfalls fühlte ich, wie mich die Hoffnungslosigkeit, die bis dahin Besitz von mir ergriffen hatte, plötzlich verließ, um neuem Mut Platz zu machen. Ich würde mich nicht einschüchtern lassen, nicht von diesen Bürokraten, die meinten, Ahnung von der menschlichen Psyche zu haben, und nicht von den Drohungen! Ich würde nicht am ersten Tag schon verzweifeln und ich würde meine Schwester nicht im Stich lassen.
„Ich lass mich nicht unterkriegen!“, vereinte meine Stimme diese Gedanken in einem Satz, der laut und deutlich in der leeren Eingangshalle widerhallte.
„Na, hoffentlich hältst du deinen Vorsatz auch.“
Ich schoss wie vom Blitz getroffen in die Höhe und schaute auf. Niemand. Ich fuhr herum und da stand der Besitzer der Stimme, die mir einen Riesenschrecken eingejagt hatte. Das Grinsen auf seinem Gesicht zeigte, dass er irgendetwas an meinem Zustand wohl amüsant fand. Mir fiel auf, dass es ein auffallend nettes Grinsen war, ja fast schon schön. Es nahm den schwarzen Haaren und den schwarzen Augen etwas von ihrer Düsterkeit, wenn dies nicht schon durch die nonchalante Haltung geschehen wäre. Diese Gegensätze aus Äußerlichkeiten und Verhalten raubte mir für einen Moment die Sprache, was mir wirklich nicht oft passierte. Ich öffnete den Mund, schloss ihn wieder und öffnete ihn wieder, nur um ein klägliches Krächzen zu produzieren. Mein Gegenüber zog sichtlich belustigt eine Augenbraue hoch, was mich etwas ärgerlich machte.
„Wie…wie lange stehst du schon da?“, fragte ich schließlich.
Er trat einen Schritt auf mich zu. „Lange genug, um zu wissen, dass du Hilfe brauchst.“
„Ich brauch keine Hilfe!“, keifte ich zurück, ohne zu überlegen. Es kam wie von selbst, wie ein in meinem Kopf gespeicherter Satz, der jederzeit bereit zum Abruf stand.
„Ach nein?“, entgegnete er, legte den Kopf leicht schief und musterte mich. „Hast du nicht vorhin nach einer Stütze verlangt?“
Heiliger Strohsack, das hatte er also auch noch mitbekommen! Ich spürte die Röte in meine Wangen schießen. So gut ich jedes meiner anderen Gefühle verbergen konnte, über den Farbton meines Gesichts hatte ich leider keine Macht. Ich senkte den Blick. So eine Peinlichkeit war mir noch nie zugestoßen!
„Ich könnte deine Stütze sein.“
Das kam so absolut unerwartet, dass ich ihn mit einem Gesichtsausdruck anstarrte, der einem schwachsinnigen Kamel gleichkam.
Er erwiderte den Blick mit einem offenherzigen Lächeln. Er meinte es scheinbar ernst. Aber was ein kleiner Teil meines Gehirns schlussfolgerte, gelangte scheinbar nicht bis zu den anderen Teilen desselbigen, denn ich brachte nur ein unartikuliertes Kauderwelsch zustande. Ich kann euch bei gutem Gewissen schwören, dass mir wirklich noch nie- nie!- jemand entgegengekommen, beziehungsweise seine Hilfe angeboten hat. Weder meine Tante, noch meine Lehrer, noch irgendwer anderes. Da habt ihr bei dieser Situation doch sicherlich Verständnis für mein kleines, nun ja, „Black-out“.
Als ich immer noch nicht antwortete, zeigten sich wieder Humorlachfalten auf seinem Gesicht, die so völlig anders aussahen als die Höflichkeitslachfalten von gerade. Er räusperte sich.
„Ähem… haben dich meine Worte so sehr verwundert, oder warum starrst du mich so an?“
Wie ein Schlag ins Gesicht wurde ich von dieser weiteren Peinlichkeit in die Realität zurückgeholt und antwortete prompt wahrheitsgemäß:
„Ja, überrascht haben sie mich, weil mir noch nie so offensichtlich jemand helfen wollte.“ Nein! Ich hatte eine neue Seite an mir entdeckt, die ehrliche Claire!
Mein Gegenüber lachte. Es klang ein wenig wie das sanfte Plätschern eines Baches, der- ach, Unsinn!
„Das wundert mich nicht. Bei dem Temperament, das du heute im Speisesaal an den Tag gelegt hast, hätte ich Angst, von dir gehäutet zu werden, wenn ich nur ein falsches Wort sage.“
Herrje!
„Bei meinem Aussehen würde ich da doch nur das Klischee einer Hexe vervollständigen“, entgegnete ich bissig im Hinblick auf meine roten Haare. Ha! Die alte Claire war wieder da.
Aber den Wind hatte ich ihm wohl nur in meinem Kopf aus den Segeln genommen, denn er antwortete unverblümt: „Bei deinem Aussehen? Mein liebes, unwissendes Kind, viele Mädchen würden dir deine hübschen grünen Augen auskratzen, um sie selbst zu besitzen, und dir dein feuerrotes Haar ausreißen, wenn sie nur könnten. Aber bilde dir bloß nicht zu viel auf deine Schönheit ein. Eine kluge Frau hat mal gesagt, Charme sei der unsichtbare Teil der Schönheit, ohne den niemand wirklich schön sein kann. In punkto Charme könntest du tatsächlich noch einige Schwierigkeiten haben.“
Er setzte ein anmaßendes Grinsen auf, wohl wissend, dass seine Worte mir schon wieder die Sprache verschlagen hatten.
Mein Herz setzte einige Schläge aus. Seine Sätze bestanden aus Komplimenten, geschickt gepaart mit bissiger Ironie. Da ich in dem Augenblick hingegen nur daran denken konnte, dass sein Zitat von Sophia Lauren stammte, wusste ich nichts Schlagfertiges zu erwidern. Mir wurde nur klar, dass ich hier wegmusste, sonst hätte ich ihm am Ende wirklich noch gehäutet! Also schickte ich ihm meinen vernichtendsten Blick, stieß einen empörten- unbeabsichtigten!- Laut aus, drehte mich auf dem Absatz um und stürmte die Treppe hoch zu meinem Zimmer.






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