Das Erziehungsheim - Teil 6

Autor: Valenzia
veröffentlicht am: 23.08.2012


An dieser Stelle danke ich allen Lesern! :o)
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„Herrje, hier kann man sich aber wirklich schnell verlaufen“, brummte ich, als ich schließlich nach einigen Minuten endlich wieder in der Eingangshalle angekommen war. Von hier aus fand ich mich gut zurecht und nach einigen Treppen und Gängen fand ich mich wieder in unserem Zimmer wieder. Prompt kam mir Daniela entgegen.
„Tut mir leid, dass ich einfach so gegangen bin“, meinte sie zerknirscht. „Ich habe wirklich überreagiert.“
Ich vernahm einen genervten Seufzer von Viktoria, die auf ihrem Bett saß.
Ich ignorierte sie. „Entschuldigung angenommen“, entgegnete ich gnädig.
Jetzt stand Viktoria auf. „Du musst dich auch für alles entschuldigen!“, herrschte sie Daniela an und verließ mit lautem Türknallen den Raum.
Daniela schüttelte kurz den Kopf. „Die beruhigt sich schon wieder.“
Als sie bemerkte, dass keiner außer uns im Raum war, schaute sie auf die Uhr. Sechs Uhr. „Ach, die anderen sind wahrscheinlich schon beim Abendessen. Komm, wir gehen auch.“
Auf dem Weg erklärte sie mir, dass das Auftauchen beim Essen für jeden hier Pflicht war. Ich musste grinsen. Was wollten diese Leute denn schon tun, wenn ich mal nicht aufkreuzen sollte? Mich verprügeln?
Zu meiner Überraschung nickte Daniela ernst. „Ich hab dir ja erzählt, dass die altmodische Methode des Gertenstocks hier noch ganz schön aktuell ist. Nicht nur für kleine, ungezogene Kinder.“
Ich nahm das alles nicht wirklich ernst. Und ich nahm ebenfalls nicht an, dass ich von einem der Erzieher im Laufe meines Aufenthalts irgendwann übers Knie gelegt werden würde. Das sollten die mal versuchen!
Daniela riss weit die Augen auf. „Lehn dich bloß nie gegen die auf!“, beschwor sie mich. „Wer hier Ärger macht, muss bis zu drei Nächte im Keller verbringen.“
Ich war wirklich im tiefsten Mittelalter angekommen!
Die meisten Leute waren schon im Speisesaal und wie ein Schlag ins Gesicht wurde mir der hohe Altersunterschied klar. Zwar saßen die ganz Kleinen in einem separaten Bereich, trotzdem waren sie so nahe bei uns, so ungeschützt, so…allein. Dennoch schien keines von den Kindern an seine Vergangenheit zu denken, alle sahen zufrieden aus. Oder hatten sie sich einfach nur mit ihrem Schicksal abgefunden?
In diesem Augenblick fiel mir ein passender Satz von William Shakespeare ein: Die kranke Seele will ins taube Kissen entladen ihr Geheimnis.
Welch einfacher, und doch tiefgründiger Satz! Und wie recht hatte dieser Poet doch gehabt. In Gesellschaft zeigt man nie offen Gefühle, die spart man sich für sein Kissen auf, welches wahrhaftig taub ist, nichts hört.
Ich seufzte. Solche philosophischen Denkweisen waren mir eigentlich fremd, aber angesichts der Tatsache, dass selbst die Kleinsten hier so wahnsinnig schnell erwachsen werden mussten, kamen diese Gedanken wie von selbst.
Daniela und ich nahmen an unserem Tisch Platz. Lisa-Marie, Heidi, Cataleya und Viktoria saßen bereits. Letztere bedachte mich mit einem vernichtenden Blick, und wandte sich dann wieder dem Essen zu, was wirklich unappetitlich aussah!
Ich fühlte das Brot. Hart. Ich roch an der Wurst und musste ein Würgen unterdrücken. Tja, und mehr gab es dann auch nicht, außer einem Korb mit Äpfeln. Die waren allerdings köstlich!
„Wie schafft ihr es, hier nicht zu verhungern?“, raunte ich Heidi zu, die mir gegenübersaß. Sie grinste. „Du musst einfach die Luft anhalten und schlucken. Das ist der ganze Trick.“
Na wunderbar! Dann bleibe ich doch lieber bei Äpfeln.
„Sag mal, ist das nicht schon alles verdorben?“, wandte ich mich wieder an mein Gegenüber. „Ich meine die Wurst. Die riecht nicht gerade frisch.“
Heidi runzelte die Stirn. „Das weiß man nicht so genau. Ich glaube, die Sachen sind gut. Aber die Küche nimmt wohl das Billigste vom Billigsten. Das heißt, es muss nicht schmecken, nur reichlich sein.“
Ich nickte und beschloss, nicht näher auf die Angelegenheit einzugehen. Stattdessen ließ ich meinen Blick durch den Saal schweifen. Wie konnten alle nur diese ungetrübte Fassade, diese Maske des Zufriedenseins aufrecht erhalten, den ganzen Tag?
„Die meisten hier haben es leichter als du. Sie sind nicht so…so gehässig und unbändig.“
Die Worte aus Viktorias Mund trieften vor Sarkasmus.
Ich wandte mich an Daniela. „Und ich soll verbittert sein?“, fragte ich, natürlich rein rhetorisch. Daniela warf Viktoria pflichtbewusst einen tadelnden Blick zu, aber darauf achtete ich nicht mehr. Meine Augen hatten zwischen dem Lärm und den Leuten auf der anderen Seite des Raumes den Jungen von vorhin, Erik, gefunden. Nicht, dass sie nach ihm gesucht hätten, aber sein Blick nahm mich ebenso gefangen, wie meiner es bei allen anderen tat. Verdammt, da gab es tatsächlich noch einen von meiner Art! Und das verwirrte mich.
Ich ließ meinen Blick bewusst weiterwandern, nachdem ich ihn mit größter Mühe von dem Objekt, dem Danielas Liebe zukam, losgelöst hatte.
Aber mein Schicksal ließ mir keine Ruhe, denn da erblickte ich meine Schwester.
Aus einem Affekt heraus sprang ich auf und lief quer durch den Raum auf sie zu, auf den einzigen Menschen den ich liebte.
Sie erblickte mich erst, als meine Hand auf ihrer Schulter lag und ich sie stürmisch umarmte. „Johanna, mein kleiner Schatz, wie geht es dir?“
„Claire!“, rief sie in kindlicher Begeisterung. Sie drückte ihr kleines Gesicht gegen meins. „Oh Claire, es ist…es ist ja so furchtbar, aber- aber es geht. Wenn du nur bei mir bist, geht es-“ Ich spürte salzige Tränen an meinen Wangen, von meiner Schwester wie von mir. Was sagte sie da? Furchtbar?
„Wie- wie behandelt man dich, Johanna?“, stieß ich zwischen zwei Schluchzern hervor. Aber zu einer Antwort kam sie nicht, denn eine grobe Hand packte mich am Arm und zerrte mich brutal von meiner Schwester weg.








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