Das Erziehungsheim - Teil 2

Autor: Valenzia
veröffentlicht am: 02.07.2012


Ihr Lieben, hier der zweite Teil. Ich freue mich über feedbacks!
:o)
...

Vor uns erhob sich ein wahnsinnig imposantes und großes Herrenhaus. Mein einigermaßen geschultes Auge tippte in Anbetracht des hervorspringenden Eingansbereiches auf den Barockstil. Angesichts des antiken Aussehens kam mir der Gedanke, dass es tatsächlich noch aus dem siebzehnten Jahrhundert erhalten geblieben sein könnte. Wenn das Steintor, durch welches wir gegangen waren, pflanzenbewachsen war, dann war dieses prächtige Werk der Barockkunst regelrecht überwuchert!
Die Efeupflanzen rankten sich an dem mächtigen Mauerwerk entlang, an gruppierten Fensterreihen vorbei- welche übrigens ebenfalls ein Merkmal der barocken Architektur waren- bis hin zu den vier Schornsteinen auf dem roten Ziegeldach.
Der verwildere Garten davor, in dem ich auf den ersten Blick Stachelbeerbüsche, Ahornbäume und sogar Weinranken entdecken konnte, vervollständigte das meisterhafte Bild eines alten Herrenhauses.
Je näher wir auf den Eingang zugingen, desto klarer wurde mir, in was für einer absolut perfekten, barocktypischen Symmetrie das Haus gebaut war und was für eine Verschwendung es war, dieses hervorragende Ergebnis langer, architektonischer Überlegungen zu so etwas Profanem, Weltlichem wie einem Erziehungsheim zu machen!
„Was meinst du, wie alt das Haus ist?“, fragte Johanna staunend.
„Ich schätze mal, um die dreihundert Jahre.“ Ich ließ meinen Blick noch einmal über die etwas baufällig aussehende Fassade gleiten. „Sieht gar nicht restauriert aus“, murmelte ich.
Als wir dann vor der großen Eichenholztür standen, war der bezaubernde Moment meiner Begeisterung auch wieder vorbei. Ich erinnerte mich wieder daran, dass das hier ein Erziehungsheim war und kein Museum für alte Bauart. Also hielt ich es auch für unsinnig, anzuklopfen, und drückte gleich die schwere, eiserne Klinke runter. Überraschend leicht glitt die Tür auf. Innen sah es aus, wie ich es erwartet hatte- dunkel. Nur einige sehr klägliche Lampen an der Decke spendeten schwaches, gelbes Licht. Ansonsten überließ man hier wohl dem Tageslicht den Rest.
Doch außer dem Licht strömten noch viele andere Eindrücke auf mich ein.
Der Geruch war unverkennbar der eines alten, sehr alten Hauses, das aber keineswegs ungepflegt war. Die mächtigen Säulen in der Eingangshalle und der tiefbraune, durch viele Jahre der Benutzung abgestumpfte Holzboden verströmten den antiken Geruch von Mottenkugeln, Staub und Stein. Johanna schaute sich ebenfalls ehrfurchtsvoll um, sie hatte wohl dieselbe Begeisterung für Gebäude in sich, wie ich. Ich atmete den Duft des Holzes tief ein. Herrlich.
„Ihr beiden müsst Claire und Johanna Winkler sein, habe ich Recht?“
Ich trat einen Schritt vor, schaute hinter eine der reich verzierten Säulen. Dort, in einer Ecke der Eingangshalle, war ein winziges Büro, auf dessen Vorderseite „Rezeption“ geschrieben stand. Hinter einer Glasscheibe mit Öffnung erkannte ich die Frau, zu der die Stimme gehört hatte.
Ich nahm meine Schwester bei der Hand und trat näher, bis ich am Schalter stand.
„Ja, die sind wir“, sagte ich knapp, mit fester Stimme.
Die Frau, die uns dort gegenüber saß, war höchstens dreißig Jahre alt und hatte ein strenges Gesicht. Seltsamerweise waren ihre Haare, die sie zu einem Knoten im Nacken festgebunden hatte, schon vollständig grau. Dieser Kontrast zu ihrer Jugend ließ sie eigenartig aussehen.
Mir fiel erst jetzt auf, dass die Eingangshalle bis auf uns leer war. Ich hatte eigentlich Kinder erwartet, oder wenigstens Stimmenhall. Aber es herrschte Stille.
Na, wenn schon, sollte mir recht sein. Ihr wisst ja, dass mir menschliche Gesellschaft immer unwillkommen ist.
„Ich brauche eure Namen, die Namen eurer Eltern, Alter, Größe, Gewicht…“
Die Frau schob mir über den Tisch zwei Blätter zu, auf denen die genannten Angaben aufgelistet untereinander standen. Ohne uns auch nur einen Blick zuzuwerfen, widmete sie sich daraufhin irgendwelchen anderen Unterlagen. Wohl auch nicht besonders gesellig, dachte ich und musterte kurz das kleine Namensschild auf dem Tisch.
„Wir brauchen was zum Schreiben, Frau… Meier“, sagte ich. Sie beäugte uns kurz genervt, als hätte sie erwartet, dass wir unsere eigenen Stifte mitbringen, gab uns dann aber zwei Bleistifte.
Ich füllte die Tabelle aus- Hunderundzehn Pfund, einen Meter sechsundsiebzig, Blutgruppe B positiv- und gab ihr das Blatt zurück. Johanna tat es mir nach. Die Blätter landeten auf einem Stapel.
„Eure Tante hat euch also geschickt?“
„Ja“, sagte ich. Und dafür soll sie in der Hölle schmoren, dachte ich.
„Weshalb?“
Toll! Auf ein Schwätzchen hatte ich nun wirklich keine Lust.
„Ich schätze mal, aus demselben Grund, weswegen die anderen hier sind“, entgegnete ich schroff und fuhr etwas höflicher fort: „Meine Schwester und ich würden jetzt gerne unser Zimmer sehen, wir haben eine lange Fahrt hinter uns.“
Überraschenderweise lachte die Rezeptionistin, kurz und trocken. Sie stand auf, verließ das Büro und trat bis auf eine Armeslänge an mich heran. Wir begegneten uns auf Augenhöhe.
„Jetzt hör mir mal zu, du kleine Göre“, sagte sie leise, mit zusammengekniffenen Augen. „Ich habe schon Schlimmere als dich gesehen und die haben nach ein paar Monaten auch gelernt, dass sie sich hier nicht alles erlauben können. Das hier ist kein Freizeitlager, das ist ein Erziehungsheim. Du wirst ganz schnell lernen, dass du mit deiner Arroganz bei uns nicht weiterkommst.“
Sie wandte sich um und kramte in einer Schublade des Schreibtisches.
Ich zog nur eine Braue hoch und schickte ihrem Rücken einen vernichtenden Blick zu. Sollte mich diese Rede beeindrucken?
Ich warf meiner Schwester, die zum Glück nichts gehört hatte, einen Seitenblick zu. Sie erwiderte ihn fragend. Aber ich kam nicht dazu, etwas zu sagen, denn Frau Meier wandte sich uns gerade wieder zu, mit einem Schlüssel in der Hand.
„Und ein eigenes Zimmer hast du auch nicht, du bist mit fünf anderen Mädchen zusammen im Westflügel.“
Sie drückte mir den Schlüssel in die Hand. Auf dem Anhänger stand die Nummer des Zimmers, siebenundfünfzig.
„Moment mal! Was ist mit meiner Schwester?“ Ich griff nach Johannas Hand.
„Die Jüngeren werden im Nordflügel untergebracht.“
„Nein, das können Sie nicht machen! Sie ist sieben Jahre alt!“
Ein Blick, der keine Widerrede duldete, wurde mir zugeworfen. Aber solche Blicke hatte ich schon des Öfteren bekommen.
„Wir trennen hier alle Geschwister nach diesem Konzept. Sie wird schon nicht verloren gehen.“
„Verdammt noch mal, ich werde bestimmt nicht-“
Eine kleine Hand legte sich auf meinen Arm. Johannas blaue Augen schauten mich beruhigend an. „Ist schon gut, Claire.“ Sie lächelte mich kurz an, und ich konnte nichts mehr sagen.
Frau Meier runzelte die Stirn. „Im Gegensatz zu dir ist deine Schwester in einem Erziehungsheim wohl fehl untergebracht.“
Ich machte mir nicht die Mühe, zu antworten. Für diese Frau empfand ich jetzt schon eine aufrichtige Antipathie.
Sie deutete auf eine Treppe am linken Ende des Saales.
„Dort rauf und den rechten Gang entlang. Die Mädchen sind gerade alle beim Abendessen, aber das ist gleich vorbei. Am besten wartest du und packst deine Sachen aus.“
Damit schien sie die Sache wohl für erledigt zu halten. Sie nahm meine Schwester bei der Hand. „Komm, ich zeige dir dein Zimmer.“
Johanna warf mir noch einen letzten Blick zu, dann verschwanden sie durch eine Tür zum Nordflügel.
Ich ballte die Hände zu Fäusten. Jetzt wurde mir auch noch das Letzte, was ich hatte, meine Schwester, weggenommen. Mich durchfuhr eine ungeheure Wut; auf Tante Lisbeth, auf dieses Heim. Sogar auf meine Eltern, die mich in diese verdrehte Welt hineingeboren hatten. Aber die Wut brachte mich jetzt auch nicht weiter.
Ich nahm meine Reisetasche, stieg die Treppe hinauf und folgte dem Gang zu meinem Zimmer.








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