Das Erziehungsheim

Autor: Valenzia
veröffentlicht am: 28.06.2012


Hallo!
Wenn ihr meine Geschichte lesen wollt (wofür ich sehr dankbar bin), dann lasst euch vom ersten langweiligen Teil nicht entmutigen. Ich schreibe mich manchmal fest, in Erklärungen und Beschreibungen, weil mir das so Spaß macht. Der zweite Teil wird nicht so trocken.
:o)
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23. November 1959

Das Taxi draußen hupte, es klang beinahe ungeduldig. Ich nahm meine alte Reisetasche vom Bett und sah mich noch einmal im Zimmer um. In dem Zimmer, das ich seit zwei Jahren bewohnte und aus dessen Vertrautheit ich nun vom einen auf den anderen Tag herausgerissen werden sollte. Ich schickte meinem hübschen Spiegelbild einen feurigen Blick zu, ging zum Fenster und öffnete es weit. Sofort schlug mit die kalte, reine Novemberluft entgegen, geschwängert mit vielen kleinen Insekten, die das bevorstehende Gewitter ankündigten, und auf die typische Art elektrisiert.
Das Taxi hupte erneut. Ich klemmte beide Fensterläden fest, damit sie nicht wieder zufielen und schloss die Zimmertür hinter mir. Ich ging die uralte steinerne Treppe in dem uralten Haus hinunter und unten an der Haustür stand sie, das Objekt meines Hasses.
Tante Lisbeth, eigentlich Elisabeth Brunner, hatte mich und meine kleine Schwester Johanna vor zwei Jahren nach dem Tod unserer Eltern zwangsweise bei sich aufgenommen, weil sie der einzige noch lebende Vormund gewesen war. Aber sie kam von Anfang an vor allem mit mir nicht klar; nicht mit meiner Intelligenz, nicht mit meinem Aussehen, überhaupt mit meiner Anwesenheit nicht. Ich hatte vor einem Jahr, als ich fünfzehn war, schon mehr Grips im Kopf als sie, und ich könnte schwören, dass ihr das Angst machte.
Sie wusste, dass ich außer meiner Schwester keinen Menschen besonders leiden konnte, vor allem nicht sie. Ich war als kleines Kind schon nicht an menschlicher Gesellschaft interessiert gewesen. Ich weiß nicht, wieso, aber mich machen die meisten Leute einfach nur aggressiv. Sie werden nicht mit meinem Charakter fertig und nicht mit dem was ich sage. Ich kann gar nicht sagen, wie viele Mädchen und auch Jungen ich früher in der Grundschule zum Weinen gebracht habe. Tante Lisbeth hat mich einmal „bösartig“ genannt, aber ich schätze, dass ich den meisten Leuten (meist in meinem Alter) einfach geistig voraus bin.
Ich umklammerte den Griff der Reisetasche fester. Beim Packen hatte ich improvisieren müssen, da meine Tante keine Koffer besaß. Aber wer hätte gedacht, dass sie mich so unerwartet in ein Erziehungsheim abschieben würde?
Ich streckte meinen freien Arm vom Körper und spreizte die Finger. Sogleich schloss sich eine kleine, weiche Kinderhand darum. Johanna war zwar erst sieben Jahre alt, jedoch verstand sie die Situation sofort. Ich hatte darauf bestanden, dass meine Tante Johanna bei sich behielt. Aber weder Lisbeth noch meine Schwester waren damit einverstanden gewesen. Johanna, weil sie mich liebte, und meine Tante, weil sie uns einfach loswerden wollte, schätze ich.
Ich drückte kurz die Hand, die in meiner lag, und sah dann meiner Tante tief in die Augen. Das hatte sie schon immer nervös gemacht und auch jetzt fühlte sich die kleine Blondine sichtlich unwohl. Wie sehr ich sie für das, was sie uns antat, hasste!
„Claire…“, begann sie mit brüchiger Stimme. Ich fixierte sie immer noch mit meinem Blick.
„Claire, wenn ihr zurück kommt, dann wird bestimmt alles…besser.“ Sie schluckte schwer.
„Wenn wir durch diese Tür gehen“, antwortete ich langsam und eiskalt, „werden wir nicht wieder zurück kommen.“ Erst jetzt löste ich meine Augen aus den ihren und warf ihr noch einen letzten finsteren Blick zu.
Dann öffnete ich die Haustür und stieg mit meiner Schwester in das pechschwarze Taxi. Wir blickten beide nicht zurück.

Nachdem der Taxifahrer- der glücklicherweise nicht viel sagte, darauf hätte ich auch gerne verzichten können- meine Schwester und mich etwa drei Viertelstunden über Landwege und an Feldern vorbei gefahren hatte, fragte ich, wie lange wir noch brauchen würden. Ich sah von der Rückbank aus, wie er fast unmerklich zusammenzuckte. Verständlich, Johanna und ich hatten, seitdem wir im Wagen saßen, kein Wort gesagt.
„Etwa eine halbe Stunde noch, Fräulein“, antwortete er nach kurzem Überlegen.
Wir fuhren gerade an einem der zahlreichen Felder auf unserem Weg vorbei, als die ersten Regentropfen auf das Autodach fielen. Das leise ‚pling’ ‚pling’ der einzelnen Tropfen vervielfältigte sich innerhalb weniger Sekunden, bis schließlich das angekündigte Gewitter losbrach und die Regentropfen am Fenster neben mir in Sturzbächen herunter liefen.
Johanna, die ihren Kopf auf meinen Schoß gelegt hatte, jedoch nicht schlief, schmiegte sich beim Klang des Donners an mich. Ich legte ihr die Hand aufs Haar, schaute nach draußen in das Unwetter und dachte voller Genugtuung an das weit offenstehende Fenster im Haus meiner Tante, durch welches der Regen jetzt freien Zugang ins Zimmer hatte und den Teppich hoffentlich schön einweichte. Ein kleines Andenken an ihre Nichte.

Meine Eltern, Albert und Gisa Winkler, habe ich nur undeutlich in Erinnerung, obwohl sie vor zwei Jahren erst gestorben waren. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie mich nie besonders interessiert haben. Mein Verhältnis zu ihnen war nie dasselbe gewesen, wie bei anderen Kindern oder wie bei meiner Schwester. Vielleicht hat mir von Anfang an einfach das Gen für die Liebe gefehlt, falls es so etwas überhaupt gibt.
Jedenfalls hatte ich nicht viel mit meinen Eltern zu tun gehabt und das hat mich nicht besonders gestört.
In unserem Haus in Hartberg entdeckte ich als Kind jedoch ein ganz anderes Interesse (später eine Vorliebe), welches nichts mit Menschen und sozialen Kontakten zu tun hatte, also ganz nach meinem Geschmack war. In der kleinen Bibliothek meines Vaters las ich vor rund sieben Jahren das erste Mal darüber: Baukunst. Nachdem ich das Buch- das sicher in meiner Reisetasche lag- aus der Hand gelegt hatte, wusste ich sofort, dass mein Hauptinteresse ab jetzt der Architektur galt.
Wie ich so in der ruhigen Taxiatmosphäre saß, erinnerte ich mich an ein besonderes Ereignis. Ich musste beinahe grinsen, als ich vor meinem geistigen Auge eine zehnjährige Claire Winkler sah, die mit einem Küchenmesser den Putz an einer Stelle in der Eingangshalle des Hauses abkratzte, um zu sehen, was sich darunter verbarg. Ich war damals nur etwa drei Zentimeter tief gekommen, als mein Vater mich erwischte und mir die letzte Tracht Prügel meines Lebens erteilte. Er war kein jähzorniger Mensch gewesen, so wie ich ihn in Erinnerung hatte. Aber beim Anblick einer zerstörten Hauswand, vor allem in der Eingangshalle wo sie für jeden sichtbar war, kann selbst der Sanftmütigste aggressiv werden.
Nein, wirkliche Liebe konnte ich nie für meine Eltern empfunden haben. Aber wahrscheinlich war mir ihre Gesellschaft einfach nur nicht so unangenehm gewesen wie die anderer Leute.
Tragisch war es für meine Schwester gewesen, als die beiden vor zwei Jahren bei einem Kletterausflug auf dem Masenberg in der nordöstlichen Steiermark verunglückten. Johanna hatte einen so viel sanfteren Charakter als ich!
Und auch im Aussehen unterschieden wir uns wie Tag und Nacht.
Mit den unschuldigen blauen Augen und den blonden Locken sah sie aus wie ein Engel, wohingegen man mich mit meiner feuerroten Lockenmähne und den stechenden, hellgrünen Augen für den Leibhaftigen halten konnte. Allerdings als eine wesentlich hübscheren Ausgabe. Mir haben schon viele Menschen- ob ich es hören wollte oder nicht- gesagt, ich wäre arrogant. Aber bekanntlich gibt es gegen Schönheit keine Medizin. Oder-
„So, da wären wir“, riss mich die Stimme des Taxifahrers aus den Gedanken. Johanna setzte sich etwas schläfrig auf, ich schaute irritiert aus dem Fenster. Der Regen hatte aufgehört und ermöglichte eine klare Sicht.
„Hier ist nur ein Waldweg“, stellte ich fest und stieg aus. Tatsächlich lagen um mich herum lediglich die altbekannten Felder und Wiesen. Zu meiner Rechten erhoben sich mächtige Eichen, deren dichte Besiedelung auf einen Wald schließen ließ. Mitten hindurch führte ein Weg, der etwas breiter war als ein Trampelpfad.
Ich beugte mich ins Wageninnere, sah den Fahrer fragend an.
Der erklärte, ich müsse einfach dem Weg durch den Wald folgen und an der ersten Gabelung rechts abbiegen. Mit dem Taxi könne er den schmalen Weg nicht entlangfahren.
Ich spürte, schlechte Laune machte sich in mir breit. Damit mir beim Sprechen nicht ein Fluch über die Lippen kam, ließ ich mich nicht zu einer Antwort herab, sondern nahm unsere beiden Reisetaschen, und schlug die Automobiltür zu. Ich hörte den Fahrer noch irgendetwas grummeln, dann fuhr das Taxi an und ließ uns stehen.
Ich hob meine Tasche hoch, Johanna tat es mir nach und griff sofort nach meiner Hand. Sie sah mich mit ihren großen Kinderaugen an und unwillkürlich musste ich lächeln. Meine Schwester hatte wirklich ein grenzenloses Vertrauen zu mir. Ich hätte einen finsteren Wald bei Nacht betreten können und sie wäre mir ohne Umschweife gefolgt.
Nachdem wir etwa zehn Minuten durch den Wald, der allerdings auch eine relativ düstere Stimmung verursachte, gegangen waren, ging es plötzlich steil bergauf.
Ich fluchte leise. Von einer derartigen Steigung hatte der Taxifahrer aber nichts gesagt!
„Claire, ich habe Hunger.“
Na toll!
„Wir brauchen ja nicht mehr lange, Kleines. Da vorne ist ja schon die Abzweigung.“
Auf dem verwitterten Wegweiser musste einmal „Heim für Erziehung Hartberg“ gestanden haben, die Buchstaben waren aber extrem verblichen.
Ich wunderte mich etwas, als wir nach nur etwa dreißig Metern bereits an einem Steintor ankamen, denn ich hatte mich auf einen längeren Marsch eingestellt.
Das Tor bestand aus grob gehauenen, aufeinandergestapelten Steinen, die etwa zwei Meter über dem Boden zu einem Bogen zusammenliefen. Moos- und pflanzenüberwuchert wie es war, hatte man das Gefühl, ins tiefste Mittelalter zurückversetzt zu sein.
Als wir hindurchgingen, bemerkte ich, wie Johanna ehrfürchtig die Finger über den rauen Stein gleiten ließ, was verständlich war. Sie hatte, im Gegensatz zu mir, noch nie solche „Zeugen“ alter Baukunst gesehen.
Auf den Anblick, der sich uns nach einer weiteren Wegbiegung darbot, war ich hingegen nicht vorbereitet gewesen. Mir entfleuchte ein erstickter Laut des Erstaunens und Johannas Augen, die gerade noch so müde dreingeschaut hatten, weiteten sich jetzt ungläubig.






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