Gifted - Die Befreiung - Teil 29

Autor: Aven
veröffentlicht am: 10.09.2012


Mohoiin Leude,
neuer Teil, neues Glück. Ich hoffe ihr habt Spaß dabei:D Tausend Dank wie immer an alle Kommentierer (ihr haltet mich bei der Stange, wenn ich Mal 'nen Durchhänger habe ;D)
Ich freue mich auf eure Meinung,
bis bald, Aven


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Pareios‘ fester Griff holte sie zurück in die Wirklichkeit. Er hielt sie auf seinem Schoß fest, ein paar Zentimeter von sich entfernt und schüttelte sie leicht. Seinen hell auf besorgten Blick auf Aurelias Gesicht geheftet.
„Aurelia, komm schon, was ist los? Geht’s dir gut?“ Seine Stimme überschlug sich und seine Hände griffen jetzt ihr Gesicht, fuhren ihr über die mit kaltem Schweiß bedeckte Stirn und die tränennassen Wangen.
„Tief durchatmen, Aurelia! Ist schon gut!“ sagte er besänftigend. Aurelia folgte seinem Befehl benommen, schnappte nach Sauerstoff, um die stechenden Lungen zu erlösen!
Wieder zog sie Pareios in eine liebevolle, sanfte Umarmung und wiegte sie tröstlich hin und her. Seine Wärme umschloss sie wie eine strahlende Decke in der Finsternis, in der sie sich so verloren gefühlt hatte. Es war schrecklich gewesen, ihm all das zu beichten, ihm zu offenbaren, wer sie wirklich war und was sie getan hatte, dass sie mit einer Schuld lebte, die sie nie wieder gut machen konnte. Aber jetzt, da es raus war, fühlte sie sich fast erleichtert. Eine Last, die so lange auf ihrer Seele gelegen hatte, eine langen dunklen Schatten auf ihre Existenz geworfen hatte, schien sich langsam aufzulösen.
„Es tut mir leid, dass du das alles durchmachen musstest! Das muss furchtbar für dich gewesen sein!“ flüsterte er jetzt mit rauer Stimme in ihr Haar. Mechanisch schüttelte sie den Kopf.
„Danach habe ich noch nicht mal die Kraft gefunden, mich von Orcus zu trennen, ich habe alles mitgemacht, was er plante und bin mit ihm zur Hegedunin geworden, ohne es überhaupt zu merken. Erst als ich Viktor traf, kam etwas ins Rollen, ich selbst war nicht stark genug, die Wahrheit zu erkennen. Und, … und ich habe mich so entsetzlich in Orcus getäuscht! Ich fand nur durch Zufall heraus, dass meine Eltern wirklich tot waren, durch seinen Willen! Er hat es noch nicht mal selbst getan.“ Sie hatte sich so unglaublich falsch verhalten, heute bereute sie ihr Handeln bis in die tiefste Faser und schämte sich dafür.
Wieder erfasste sie ein markerschütterndes Beben und sie schluchzte herzzerreißend.
„Mein Gott,… es tut mir alles so schrecklich Leid!“ Ihre Stimme brach, genauso wie ihr Herz in jener Nacht. „Ich habe sie getötet, ich bin schuld, ich ganz allein, weil meine Besessenheit von ihm mich blind gemacht hat. Gott, bitte… ich will es einfach nur rückgängig machen! Ich würde einfach alles dafür geben!“ flehte sie unter weiteren Tränen, die Silben quetschten sich durch ihre zusammengepressten Zähne. Schon so oft hatte sie dieses Gedankenkarussell gefahren, hatte sich darin gedreht und gedreht, bis sie sich in ihrem Selbsthass verloren hatte. Sie heulte eine halbe Ewigkeit, bis ihr Hals wehtat und die Augen brannten, nicht fähig, sich auch nur ansatzweise im Zaum zu halten, oder es zu stoppen.
Pareios schloss die Arme fester um sie, hielt sie so eng an sich gepresst, dass sich der Druck beruhigend auf sie auswirkte. Ihre Schluchzer wurden leiser, kamen mit mehr Abstand und gestatteten ihr, zwischendurch Luft zu holen.
„Ich weiß! Ich weiß doch!“ murmelte er und zeigte ihr damit, dass er alles verstanden hatte, was sie ihm erklären wollte. Er strich ihr immer wieder übers Haar und ein Teil von ihr registrierte plötzlich die Bedeutung seiner Gesten.
Er hatte ihre Geschichte gehört, vielleicht nicht jedes Detail, aber die schlimmsten Episoden kannte er jetzt… und alles was er tat, war sie zu halten, zu trösten, für sie da zu sein!
Er hasste oder verabscheute sie nicht, das konnte sie spüren. Sattdessen vernahm sie sein stilles Bedauern und ein Mitgefühl, das ihr bis tief in die Seele drang, sie heilte und ihr das Gefühl gab, dass er sie annahm, mit all der Schuld und all den Fehlern. Er war ihr so wichtig, wie keiner zuvor und deshalb wollte sie, dass er auch begriff, warum sie war wie sie war, und was am Strand passiert war. Sie zwang einige Nachbeben nieder, um sprechen zu können.
„Seitdem habe ich versucht, Gefühlen aus dem Weg zu gehen. Ich war davon überzeugt, dass sie mich dazu brachten, schreckliche Dinge zu tun und die Menschen, die ich liebte ins Unglück stürzten. Ich hatte Angst, wenn ich mit dir zusammen bin, verliere ich die Kontrolle über diese Seite und löse eine Katastrophe aus. Und ich dachte, wenn du es weißt, würdest du mich verabscheuen.“
„Verdammt! Das erklärt einiges!“ Er schien aus irgendeinem Grund eher erleichtert zu sein, was sie verwirrte.
„Und Viktor denkt das auch!“ fügte sie leise an, gespannt, wie er auf diesen Kommentar reagieren würde. Pareios legte den Kopf leicht schief.
„Anscheinend verbindet dich etwas mit ihm, das ich immer noch nicht so ganz verstehe. Es mag ja sein, dass du Wert drauf legst, was Viktor sagt, aber im Bezug auf dich ist mir das scheißegal! Und das sollte es dir auch sein, wenn du mich fragst!“ Er machte eine kleine Pause und betrachtete sie dabei eindringlich, dann fuhr er fort:
„Wir alle begehen schreckliche Fehler in unserem Leben, die wir hinterher bereuen. Und wir sind auch noch Elevender, blöder Weise haben wir ewig Zeit, Mist zu bauen und dann darüber nach zu grübeln.“ Jetzt fasste er sie bei den Schultern. „Aurelia, du hast das Beste gemacht, was man nach so einem Desaster machen kann. Ok, du hast dich in einem Menschen geirrt und einen ziemlich üblen Fehler gemacht. Aber du warst jung und hattest keine Ahnung, dass es noch so viel mehr in der Welt gab, dass du eine Wahl gehabt hättest, wärst du nur auf den richtigen Mann getroffen. Außerdem hast du dich geändert und seitdem sehr viele Leben gerettet, darunter Row’s, Viktors, Aidens und auch meins, falls du dich erinnerst!“
Was er sagte war merkwürdig trostspendend. Es war, als ob seine Überlegungen ein Hintertürchen in ihrem Verstand schufen, durch das sie aus all dem Selbsthass und der Verdammnis fliehen könnte. Sie konnte es selbst kaum fassen, aber sie begann seinen Worten Glauben zu schenken. Er wirkte so aufrichtig und sie sog diese Akzeptanz nur zu gerne in sich auf wie ein ausgedörrter Schwamm.
„Ach und noch was, das wird dich vielleicht erschrecken: Abscheu zählt nicht zu den Gefühlen, die du in mir weckst, im Gegenteil!“ Der ernste Ton, den er dabei anschlug verdeutlichten die feierlichen Worte. Sie lösten eine wundersame Reaktion bei Aurelia aus.

Die Ketten ihrer Selbstgeißelung sprangen auf und rutschten von ihr ab, zum ersten Mal seit so vielen Hundert Jahren hatte sie das Gefühl, dass sie frei atmen konnte. Sie fühlte sich überhaupt frei, erlöst!
Sie schmiegte sich eng an ihn und als er vorsichtig ihr Kinn hob und sie küsste, konnte sie förmlich spüren, wie ihr Flügel aus dem Rücken schossen. Die kraftvollen Schwingen und Pareios Liebe trugen sie in den Himmel, durchbrachen die flauschige Wolkendecke und endlich, ja endlich konnte sie fliegen, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Flog dem Mond entgegen und nichts auf der Welt würde sie je wieder auf den Boden zurück holen.

Lange saß sie in der Dunkelheit der Nacht und ließ sich von Pareios küssen. Seine Hände und seine Lippen verhießen ihr die Erlösung und die Vergebung die sie sich selbst niemals zugestanden hatte. Es war als ob seine Berührungen eine Schicht von ihr abtrugen und als auch das letzte bisschen verschwunden war, fühlte sie sich wie ein restauriertes Kunstwerk, das immer noch dasselbe war, aber in neuem Glanz erstrahlte. Und Pareios war es, der sie zum Strahlen gebracht hatte. Er war ihr sicherer Hafen, der Ort, wo sie sie selbst sein konnte, und trotzdem akzeptiert und … geliebt wurde.
Heiliger Himmel, er bedeutete ihr so viel, dass ihr Herz beinah überlief vor lauter Liebe. Und sie konnte es nicht zurückhalten, nicht einmal wenn sie gewollt hätte! Die Worte formten sich in ihrem Mund, stammten aus einer Ecke ihrer Seele, wo ihre Willenskraft nicht hinreichte.
Und dann entschlüpften sie, erhoben sich wie kleine zarte Nachtfalter in die Luft und veränderten alles.
„Ich liebe dich!“ flüsterte sie an seinen Lippen und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, nicht vor Unsicherheit, denn noch nie in ihrem Leben war sie sich etwas so sicher gewesen, wie in diesem Moment. Aber diese Worte hatten für sie eine tiefe Bedeutung, sie hatte sie nur zu Orcus gesagt und seitdem befunden, dass es besser war, wenn sie diesen Fluch für sich behielt.
Aber jetzt, als er gebrochen schien, war es ein existentieller Zwang, Pareios zu sagen was sie für ihn empfand.
Er reagierte mit stürmischer Freude, riss mit sich ins Gras und rollte sie in einer fließenden Bewegung unter sich. Sie spürte sein Lächeln als er ihre Lippen weiter mit wilden Küssen bedeckte und sie konnte nicht anders, als sich trotz all dem Schrecklichen, das in den letzten Minuten in ihre Erinnerungen geflossen war, einfach nur glücklich zu fühlen. Und sein Gewicht auf ihr versetzte ihr nicht den erwarteten Panikstoß, sondern einen sinnlichen Kick, der ihren Geist völlig in Besitz nahm, alles wegwusch, all das Grauen und all die Qual.
Sie spürte weiches, feuchtes Gras unter sich, aber es kümmerte sie nicht im Geringsten. Pareios vor dem blinkenden Sternenhimmel fesselte ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie zersprang fast von dem Drang sich in jeglicher erdenklichen Weise mit ihm zu verbinden, ganz die Seine zu werden und ihn nur für sich zu beanspruchen.
Aber er hatte Recht gehabt, ging ihr just in diesem Augenblick auf. Ihr erstes Mal sollte etwas wirklich Besonderes sein. Nicht als Reaktion auf eine solche Geschichte, oder mit halbem Kopf bei Evrill und Jesper, mit leichtem Zeitdruck im Nacken. Und sie hatte sicher eine Weile erzählt, wahrscheinlich war Evrill schon fertig und wartete auf sie. Daher unterbrach sie sich, aber nur äußerst widerstrebend.
„Wir sollten zurück gehen, vielleicht mal nach Evrill sehen!“ brachte sie heraus. Auch Pareios hielt nun inne und musterte sie kurz. Wahrscheinlich suchte er in ihrem Gesicht nach Anzeichen für ein Ablenkungsmanöver ihrerseits. Aber das hatte sie heute Nacht endgültig hinter sich gelassen, sie war frei und sie war bereit für ihn.
„Ich laufe nicht davon!“ kicherte sie amüsiert über seine Gedanken, die sich so offensichtlich in seinem Gesicht widerspiegelten. „Ich denke nur, du hattest Recht. Ich will diesen Moment mit dir richtig genießen, mir Zeit lassen und unser erstes Mal richtig auskosten.“ Die goldenen Sprenkel in seinen grauen Augen leuchteten voller Vorfreude und ihr verheißungsvolles Versprechen hing noch zwischen ihnen in der Luft, als er langsam von ihr abrückte.

Noch nachdem er sich sein Shirt wieder übergezogen hatte und sie Hand in Hand zurück zur Lichtung spazierten, an der sie Evrill, Jesper und das Auto zurück gelassen hatten, konnte sie Pareios‘ Arme um sich spüren. Sie redeten wenig, während sie durch den Dunklen Wald gingen, aber das war auch nicht nötig, gerade jetzt musste nichts weiter zwischen ihnen gesagt werden. Sie waren sich der Gefühle des anderen bewusst, teilten sie durch die leichte Berührung ihrer Hände oder wenn sie sich hin und wieder in die Augen sahen. Aurelia empfand nicht die geringste Reue und auch er ließ keine Anzeichen von Bedauern erkennen. Die drei magischen Worte, die zwischen ihnen gefallen waren, hatten ein Band geschaffen, das sich unsichtbar zwischen ihnen spannte und sie zusammenhielt. Sie genoss einfach nur die Perfektion dieser letzten Minuten, bevor die stürmische und ungewisse Flut, die den Weg entlang rauschte, der vor ihnen lag, sie wieder hatte. Bis zum letzten Augenblick bevor sie die Lichtung betraten, konzentrierte sie sich voll und ganz auf den Mann neben ihr, nahm seinen verlässlichen Herzschlag wahr und beobachtet seine ureigene Art zu gehen, sich zu bewegen.
So wurde sie erst auf Evrill aufmerksam, als sie schon ein paar Schritte aus den Bäumen heraus getan hatten. Vor allem, dass Pareios wie versteinert stehen geblieben war und seine Augen sich vor Erstaunen weiteten, brachte sie dazu, sich schnell auf das Bild vor ihren Füßen zu fokussieren.
Doch der Anblick war gespenstisch, ließ ihr den Atem stocken und jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken.



Mitten auf der vom Mond erleuchteten Lichtung, umringt vom dichten, undurchdringlichen Schwarz der Bäume, lag Jepser Svenssen immer noch auf dem zerschlissenen Teppich, den sie aus seiner Wohnung entwendet und zweckentfremdet hatten. Evrill hatte ihm das weiße Baumwollhemd ausgezogen und es feinsäuberlich gefaltet an den Rand des Persers gelegt, daneben befand sich seine eigenes, ebenfalls penibel zusammengelegt. Aurelia wurde von einer merkwürdig eisigen Stimmung erfasst, während ihre Augen das aufnahmen, was sie da im spärlichen, silbrigen Licht wahrnehmen konnte.
Evirlls nackter Oberkörper lag auf Jesper Svenssens ebenfalls entkleideter Brust. Er hatte sich leicht seitlich auf ihn gelegt, sodass sich ein Großteil ihrer Haut berührte und Evrills Kopf befand sich direkt über Jespers Herzen, als würde er dem ausbleibenden Klopfen lauschen. Die Arme hatte er entlang der Arme des Verstorbenen ausgebreitet und so bildeten sie mit ihrer hellen Haut ein silbrig leuchtendes Kreuz auf dem dunklen Teppich unter ihnen. Der Eindruck verstärkte sich durch den farblichen Kontrast. Es sah einfach nur unheimlich aus, sogar für sie, die schon so viel erlebt hatte.
Während die Augen des Toten blind in den Himmel hinauf stierten, waren Evrills geschlossen. Er war so reglos, dass man ihn ebenso für tot hätte halten können, hätten seinen Augäpfel unter den lavendelfarbenen Lidern nicht hektisch hin und her gezuckt, wie im REM-Schlaf.
„So viel zu Leichenschändung!“ raunte Pareios baff neben ihr und löste sich aus seiner Starre.
Er räusperte sich vernehmlich, um Evrill auf ihre Anwesenheit aufmerksam zu machen, aber dieser reagierte nicht. Sie selbst versuchte es noch ein Mal: „Evrill? Alles klar bei dir?“
Keine Reaktion.
Jetzt erschraken sie heftig und liefen beide schnell auf das Szenario zu. Aurelia hatte Evrill als erstes erreicht und sich neben ihm auf die Knie fallen lassen. Als sie mit den Händen an seinen Schultern rüttelte, spürte sie mit wachsender Besorgnis, wie kalt er sich anfühlte, fast so eisig wie der Körper unter ihm. „Scheiße, er ist ganz ausgekühlt!“ stieß sie ärgerlich hervor und half Pareios, der schon dabei war, Evrills erschlafften Arm an seine Seite zu drücken, damit sie ihn verletzungsfrei von seiner Wirkungsstätte herunter rollen und auf den Rücken legen konnten.
„Das hat er aber nicht erwähnt, als er uns von seiner Gabe erzählt hat!“ grummelte Pareios missmutig, während er mit geübten Fingern Evrills Puls und Atmung kontrollierte. Aurelia lief zum Wagen, kramte nach einer wärmenden Decke, konnte aber nichts finden. Aus dem Erstehilfekasten des Kombis beförderte sie schließlich die silbern und gold beschichtete Rettungsfolie zu Tage. Gemeinsam mit Pareios breiteten sie die laut knisternde Aluschicht über Evrill aus und stopften sie ihm ringsherum unter Rücken und Beine. Jetzt konnten sie nur noch abwarten, bis er wieder zu sich kam.
Er hatte nichts davon gesagt, dass seine Gabe ihn außer Gefecht setzen würde und so war die erste Frage die sich ihr aufdrängte: War das normal? War das eine kontinuierliche Begleiterscheinung oder hatte ihn etwas Spezielles in die Bewusstlosigkeit gebannt, wie sie damals in ihrer Vision? Aber ihre Gaben funktionierten wahrscheinlich auf verschiedene Weisen, also konnte sie diese Ursache eigentlich ausschließen.

Nach einer gefühlten Stunde, die sie beide an seiner Seite Wache gehalten hatten, flatterten Evrills Augenlieder endlich und er begann sich zu regen. Sein Atem vertiefte sich und wurde schneller und schneller. Aurelia und Pareios waren sofort über ihm und sahen besorgt auf sein blasses Gesicht hinunter, als er schließlich wieder vollends zu sich kam. Verwirrt glitt sein Blick über ihre verunsicherten Mienen, dann lächelte er müde, aber doch irgendwie amüsiert.
„Genialer Halloween-Gack, oder?“ flüsterte er erschöpft. Seine Stimme war brüchig und er atmete schwer, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen. Seine blassen, blutleeren Lippen bewegten sich nur langsam, wirkten widerwillig.
„Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Ev!“ sagte Pareios leicht verstimmt, aber vor allem konnte sie seine Erleichterung spüren. „Verdammt, ist das immer so, wenn du deine Gabe einsetzt? Hättest du uns nicht vorwarnen können?“
„Und die schöne Überraschung verderben?“ stöhnte Evrill und setzte sich ächzend auf. Seine Arme zitterten noch unter dem Gewicht seines Körpers, das er gerade in die Höhe stemmte. Pareios griff sofort zu und stützte ihn.
„Ich hoffe, ihr habt nicht die ganze Freak-Show verpasst!?“ Evrill lächelte müde und zog die Beine für ein besseres Gleichgewicht an. Als Aurelia und Pareios einen fragenden Blick tauschten, hob er den Arm und massierte sich den Nacken. „Normalerweise beinhaltet meine Darbietung Geschrei und wildes Gefuchtel!“ Seine Miene markierte Gelassenheit, aber an der Art, wie er den Blick senkte, erkannte sie auch eine Spur von Scham.
„Jede Gabe hat ihre Schattenseite!“ murmelte Aurelia und sie konnte da aus Erfahrung sprechen. Auch Pareios nickte zustimmend, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, was er an seiner Gabe nicht schätzte. Aus ihrer Sicht bedeutete sie keine Gefahr für ihn oder seine Umgebung und er beherrschte sie perfekt.
Pareios unterbrach ihre Gedanken, indem er an Evrill gewandt fragte: „Warum hast du dich eigentlich ausgezogen? Wirkt irgendwie makaber, muss ich ehrlich sagen….“
„Ich sag doch, Freak-Show!“ scherzte dieser daraufhin zuerst, dann wurde er jedoch ernster. „Je mehr ich von der Leiche berühre, desto deutlicher sind die Bilder, die Konturen sind dann irgendwie schärfer und ich kann mehr Details erkennen. Wenn ich anfange, falle ich in eine Art Trance und mein Herzschlag verlangsamt sich bei dem Hautkontakt automatisch. Ich nehme mal an, es passt sich soweit es geht dem toten Herzen des anderen Körpers an, damit der Austausch leichter stattfinden kann. Je länger ich den Kontakt halte, desto mehr sehe ich. Gedanken sind nicht zweidimensional strukturiert. Sie haben meist keinen Anfang und kein Ende, einer zieht den nächsten nach sich, ganz zu schweigen von den vielen Assoziationen und Informationen die in den Denkprozess mit einfließen. Meist ist es wirr, was ich sehe, und schwer zu deuten. So viele Bilder blitzen mit dem Gedanken auf, aber mir fehlt dann die Bedeutung, um es zu verstehen.“
Aurelia und Pareios folgten seinem Erklärungsversuch gespannt und Aurelia selbst konnte sich kaum vorstellen, was es für einen Menschen bedeuten musste, sich auf einen toten, kalten Körper zu legen und seine letzten Sekunden mitzuerleben. Sie stellte es sich aber grauenvoll vor. Jedes mal einen Tod mit zu sterben, war sicher ein schweres Kreuz, das der weißhaarige Elevender da zu tragen hatte. Ihr Herz war erfüllt von Mitgefühl und Respekt und ihr ging auf, dass Evrill ihnen jetzt schon auf mehrere Arten nützlich gewesen war. Sie bereute die Entscheidung, ihn mit genommen zu haben, keine Sekunde und fühlte sich in dem Verdacht bestätigt, dass seine Anwesenheit auf ihrer Mission von großem Wert war, vielleicht noch sein würde.
„Geht’s wieder soweit?“ erkundigte sie sich nach seinem Wohlbefinden, denn sie konnte jetzt kaum mehr erwarten, zu hören, was er gesehen hatte. Nachdem er vorsichtig die langen, muskulösen Glieder gereckt hatte, nickte er schließlich. Grünes Licht für Diskussionen.

„Was hast du gesehen? Hat es irgendeinen Sinn gemacht?“ Sie hoffte innständig, dass Jesper Svenssens Leid und ihre Wiederbelebungsaktion nicht um sonst gewesen waren.
Evrill überlegte lange. Die Sekunden verstrichen im Zeitlupentempo, gefüllt von einer erwartungsvollen Stille. Der Wald um sie herum ließ die typischen Geräusche der Natur verlauten, hin und wieder knackste es irgendwo hinter ihnen leise zwischen den Bäumen. Aber sie und die anderen beiden blieben ruhig, gut ausgebildet, wie sie waren, wussten sie, dass es keine menschlichen Schritte waren, die die Laute verursachten. Hin und wieder raschelte die Rettungsfolie vernehmlich, wenn Evrill sich reflektorisch bewegte.
„Also, es waren unheimlich viele Bilder von einem sterilen Raum dabei. Die haben ihn dort gequält, seine Erinnerung an die Schmerzen, die er dort erlitten hat, waren so lebendig, ich konnte sie fühlen!“ Er schüttelte sich angesichts dieses Erlebnisses. „Da waren viele Pfleger und Ärzte und immer wieder hat sich ein Typ über ihn gebeugt. Sein Gesicht kam oft vor. Ich glaube, er hat ihn öfter untersucht. Da waren Bilder von Trainingsräumen und Ergometern, sah nach einem Belastungs-EKG aus. Vielleicht hat man Leistungstests mit ihm gemacht….“ Das letzte war wohl eine mutmaßliche Schlussfolgerung die Evrill zog, aber der Gedanke schien auch den anderen Beiden plausibel. Aurelia war froh, dass Jespers letzte Gedanken sich im Moment seines Todes überhaupt mit etwas in dieser Richtung beschäftigt hatten. Sie vermutete, dass die meisten Menschen in den letzten Augenblicken wohl eher an andere Dinge dachten, wie vielleicht, ihre Hochzeit, oder die Gesichter ihrer Kinder. Ob Jesper aber auf diese Weise genau auf ihre Fragen geantwortet hatte, war noch unklar.
Evrill stöhnte und griff sich an den Kopf. Als hätte er rasende Migräne, drückte er Zeige- und Mittelfinger zwischen die Augenbrauen und rieb die Stelle eine Weile.
„Warum zum Teufel machen die Leistungstest mit einem Menschen? Und was hat das mit den Steinen zu tun?“ fragte sie sich laut, ganz in ihre Gedanken versunken.
„Da ist noch so viel mehr, aber das kam meist nur ein Mal vor und von den Steinen hab ich bisher auch noch nichts bewusst wahrgenommen.“ jetzt klang er leicht ärgerlich, aber dann fauchte er störrisch und warf den Kopf herum. „Ich brauche ein bisschen Zeit, um das alles noch mal durchzugehen! Und ich brauche Stift und Papier!“
Jetzt warf er die dünne Folie beiseite und stand mit entschlossener Miene auf. Jedoch hatten sich seine Beine dieser Entschlossenheit noch nicht ganz angeschlossen und so kämpfte er schwankend um Haltung. Verbissen drückte er die Knie durch und bevor ihm jemand helfen konnte stapfte er schon steif zum Wagen. Er ließ sich der Länge nach auf den Rücksitz fallen und kramte dann lahm in seiner Tasche im Fußraum.
Aurelia und Pareios folgten ihm und setzten sich auf Fahrer- und Beifahrersitz. Das stumme Einverständnis zwischen ihnen brauchte keine Worte mehr. Die Liebe füllte die Stille zur Gänze.
Evrill zog Bleistift und Papier hervor und setzte sich so hin, dass er bequem hantieren konnte. Mit schnellen, fahrigen Schwüngen flog seine Hand mit dem Stift über das Papier. Aurelia hatte angenommen, dass es sich Notizen machen würde. Stattdessen begann er jetzt mit ein paar gezielten Strichen Bilder zu zeichnen. Immer mehr Gegenstände und Gesichter nahmen Form an, füllten die weiße Fläche zügig. Beide wagten sie nicht, Evrill beim wundersamen Tanz seiner Hand zu unterbrechen, er schien ganz vertieft in Jesper Svenssens Erinnerungen.

„Ich muss die ganze Zeit darüber nachdenken, was sie diesem armen Hund angetan haben.“ sagte Pareios leise in die Stille hinein und strich ihr leicht über die Schulter.
„Hm?“ Ihre Gedanken konzentrierten sich sofort auf die Geschehnisse des letzten Tages.
„Nach allem was Svenssen gesagt und gedacht hat und was in den Dateien aus dem Labor stand, ist die zweite Adresse bestimmt auch ein Labor oder eine Forschungseinrichtung.“
Evrill hatte kaum etwas über den Inhaber des Gebäudes gefunden. Es war eine Briefkastenfirma mit Sitz auf den Cameninseln, keine Kontaktdaten, dafür aber ein Nummernkonto.
„Vielleicht sollten wir heute Nacht Mal vorbei fahren und uns umsehen.“ beendete Pareios seinen Vorschlag und sah sie erwartungsvoll an. Sie spielte kurz ihre Möglichkeiten durch, musste dann aber zugeben, dass es vielleicht keine schlechte Idee war. Aiden zu bitten, sich in das Hegedunensystem zu hacken und dort nach Informationen über die geheimnisvolle Adresse zu suchen, war sehr verlockend, aber diese ganzen Fakten somit quasi vor Markus‘ Haustüre abzuliefern, schreckte sie ab. In letzter Zeit hatten sie sich immer öfter ohne ihre gewohnten Hilfsmittel durchschlagen müssen und wenn sie sich nur kurz umsahen, war es vielleicht gar nicht nötig die anderen mit hineinzuziehen. Sie stimmte zu. Es war ja nicht so, dass sie viele andere Optionen hatten und je zeitnaher sie arbeiteten, desto größer war die Chance, eine noch heiße Spur aufzustöbern.
„Gut!“ stimmte sie schließlich zu. „Aber vorher müssen wir uns noch um Jesper kümmern!“







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