Gifted - Die Befreiung - Teil 19

Autor: Aven
veröffentlicht am: 08.08.2012


Hey Leute,
hier kommt der nächste Teil. Vielen, vielen Dank für euere Kommentare, die sind wirklich ein riesen Ansporn für mich ;D
Also viel Spaß beim Lesen und lasst mich wissen, was ihr davon haltet :D
LG Aven

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Sie legten sich in den trockenen Sand zwischen zwei Dünen und ließen sich von den Sonnenstrahlen wärmen. Sie sahen in den Himmel, die Hände hatten sie verschränkt, damit die zarte Verbindung zwischen ihnen nicht unterbrochen wurde. Nach einer Weile wandte sie den Kopf, betrachtete wieder den mächtigen Körper und das klar geschnittene Gesicht ihres Begleiters.
„Was wollten sie von dir?“ fragte sie dann schließlich, wohlwissend, dass diese Umstände ihn sonst irgendwann auffressen würden, wenn er nicht darüber sprach. Sie kannte die eisernen Klauen, die solche Ereignisse in die Seele schlugen und drohten, sie in einen finsteren Abgrund zu ziehen. Aus diesem Grund kannte Viktor jedes noch so schreckliche Detail ihrer Vergangenheit, einiges davon hatte er ja selbst miterlebt, deshalb war es naheliegend gewesen, sich ihm anzuvertrauen.
Pareios sah sie nicht an, verzog keine Miene, als er zu sprechen begann: „Ich weiß es nicht. Sie haben keine einzige Frage gestellt.“ Verblüfft richtete sie sich auf und die roten Striemen über seiner Brust, waren jetzt wie Messerschnitte in ihrem eigenen Herzen. Sie hatten nichts von ihm erfahren wollen, sie hatten ihn aus reiner Boshaftigkeit gefoltert? Wie konnte man einem anderen Menschen so etwas nur antun? Nun sie wusste es, sie hatte es oft genug miterlebt. Es diente dazu, den Willen zu brechen, jegliche Hoffnung auszulöschen und die absolute Ausgeliefertheit zu demonstrieren. Sie erinnerte sich an den heißbrennenden Hass auf Viktor und schwor sich, dass sie ihm diese Nachlässigkeit niemals vergeben würde. Sie fragte sich, ob die charmante, weibliche Row ebenso dieser Tortur ausgesetzt gewesen war. „Row…?“ flüsterte sie knapp und Pareios schüttelte langsam den Kopf, aber es sah so aus, als wollte er die Aussage einschränken. Dann begann er zu erzählen.
„Ich bin in einem dunklen Raum aufgewacht. Zuerst dachte ich, ich wäre allein, aber sie haben noch so eine arme Sau zu mir gesperrt. Zu unserer ersten Folterrunde wurden wir gemeinsam ‚gebeten‘….“ Das letzte Wort triefte nur so vor bitterem Sarkasmus. „Sie fesselten uns gegenüber, damit jeder von uns am anderen sehen konnte, was gleich mit uns selbst passieren würde…. Er war noch ein junger Elevender, ich glaube wesentlich jünger als wir beide. Verfluchte Scheiße, sein bleiches Gesicht hat sich mir in den Kopf eingebrannt, ich sehe es jedes Mal wenn ich die Augen schließe…“ Er stöhnte und riss die Augen weit auf, als wolle er mit aller Macht verhindern, dass sie sich schlossen. „Aber er war so… stoisch, hat nicht mal die Miene verzogen, hat mich mit diesem verbissenen Blick angeschaut und keinen Mucks gemacht, nicht mal, als sie ihm den glühenden Stahl auf die Haut gedrückt haben.“ Er stockte und kniff die Lippen zusammen. „Fast so, als wollte er mir ersparen, auch noch sein Leid zu erfahren.“ Seine Stimme war erfüllt von einer tiefen Bewunderung für seinen Leidensgenossen in diesen todbringenden Kerkern, während sie ihr Schicksal und ihre Qual teilten. „Ich habe ihm den selben Gefallen getan.“
„Was ist aus ihm geworden?“ fragte sie vorsichtig, da sie sich sicher war, dass er und Row die einzigen Insassen der Zelle gewesen war, aus der sie sie befreit hatte. Er zuckte nur mit den Schultern. „Vielleicht tot…, bin irgendwann ohnmächtig geworden… und dann in der Zelle mit Row wieder aufgewacht. Ich weiß noch nicht mal wie er hieß, oder warum er dort war. Es schien fast, als wollten sie ein Exempel an uns statuieren. Vielleicht wollten sie unsere Leichen später zu Schau stellen.“ Er lächelte bitter. „Aber im Grunde kann ich froh sein, dass ich ein Mann bin. Sie haben Row zwar nicht so hart gefoltert wie mich, aber ich möchte trotzdem nicht tauschen…“ Ganz leise und ausdruckslos formulierte er die Sätze, aber Aurelia begriff sofort, was er damit sagen wollte. Ein eisiger Griff umschloss ihr Herz und es weinte, trauerte mit ihr, um die verlorene Reinheit ihres Körpers und ihrer Seele. Aber Row war genau wie sie eine Kriegerin, sie hatten gelernt, unter widrigsten Umständen zu überleben und Aurelia wusste, dass das Erlebte sie nicht zerstören würde. Sie waren als Frauen in ihrer Ausbildung darauf vorbereitet worden, dass so etwas passieren konnte. Es noch nicht einmal eine Seltenheit war. Vielleicht gab es deswegen unter den Jägern nur wenige weibliche Mitglieder. Die ganze Geschichte würde Row‘s Zorn und ihre Verbissenheit, gegen die Hegedunen vorzugehen nur noch anfachen. Genauso, wie es bei Aurelia selbst der Fall gewesen wäre, obwohl sie wusste dass sich etwas Unwiederbringliches verändert hatte, diese Last konnte ihrer Kollegin keiner abnehmen.
Aurelia legte Pareios eine Hand auf die Brust und sah ihn mit aller Zuneigung an. Nicht, um ihn zu bemitleiden, das, so wusste sie, hätte er nicht gewollt, aber um ihm zu zeigen, dass er immer noch hier war… bei ihr und wie viel ihr sein Überleben bedeutete. Er drehte sich auf die Seite, ergriff ihre Hand und drückte sie noch fester gegen die steinerne Muskulatur genau über seinem Herzen. Dann führte er sie zu seinem Gesicht und küsste langsam und zärtlich einen Knöchel nach dem anderen, bevor er an ihrer Haut murmelte. „Das einzige was ich nicht hätte ertragen können, war zu sterben, ohne dich noch ein letztes mal zu berühren…“ Dabei sah er ihr geradewegs in die Augen und sie fühlte sich wieder getragen von diesen unglaublich tiefen Gefühlen, die er in ihr weckte. Dieses Geständnis ließ Tränen aus einer unbekannten Ecke ihres Seins aufwallen, doch sie drückte sie weg. Eine Heulsuse hätte nicht zu diesem mächtigen, feurigen Krieger gepasst, auch nicht zu der Situation, in der neben all der Grausamkeit auch die Freude über ihre Verbindung lag. Sie wagte zu hoffen, dass seine Worte genau das versprachen, was sie selbst fühlte.
Ein letztes Mal…., diese Silben wischten ihr durch den Kopf und legten eine nun fast uralt wirkende Erinnerung frei. „Nicht noch ein Mal!“ hatte Viktor am vergangenen Nachmittag zu ihr gesagt, bevor dieses ganze Gerüst aus Intrigen über ihren Köpfen zusammengebrochen war und hatte damit so viele Fragen aufgeworfen. Jetzt drängte die Ungewissheit, Pareios danach zu fragen, zumal ihr in diesem Moment auffiel, wie wenig sie eigentlich über ihn wusste. Sie kannte seine Bewegungen und Gesten, seine Art, im Kampf zu denken und vorzugehen ganz genau, aber alles andere war ihr noch nie bewusst aufgefallen. Ehrlichkeit war SEINE Bedingung gewesen und so dachte sie, hatte sie durchaus ein Recht darauf, zu erfahren, was Viktor damit gemeint hatte. Und ihn würde sie ganz bestimmt nicht danach fragen, sie verspürte nicht die geringste Lust, sich ihm gegenüber jemals wieder für ihre Gefühle für seinen Bruder zu rechtfertigen. Wie dämlich, dass sie es überhaupt schon mal getan hatte, als hätte sie einen Fehler gemacht. Dabei fühlte es sich überhaupt nicht wie ein Fehler an, eher goldrichtig. Aber wie nun davon anfangen? Sie fasste sich ein Herz und versuchte es eher auf die lustige Art, wie Pareios es getan hätte.
„Ähm, Viktor hat übrigens den großen Bruder raushängen lassen…“ sagte sie und versuchte ein ironisches Grinsen. Überrascht schob er die Augenbrauen in die Höhe und runzelte so die Stirn. „Er meinte, ich solle meine gefäääährlichen Finger von dir lassen, weil du schon zu viel durchgemacht hättest….“ dabei hob sie die freie Hand, krümmte sie zur Kralle und führte sie spielerisch neben ihr Gesicht, das sie zur Fratze verzogen hatte. „Was genau meint er damit?“ Sein erst verwunderter Gesichtsausdruck wechselte während ihren Worten zunächst zu verwirrt, dann zu eindeutig beunruhigt. Sie wusste, er würde sie nicht anlügen, aber sie konnte seiner zögerlichen Miene entnehmen, dass er sich gewünscht hätte, dieses Gespräch erst viel später führen zu müssen. Er setzte sich auf und legte die Unterarme auf die angezogenen Knie, während er seinen Blick nun gen Horizont richtete, weg von ihr, wie sie enttäuscht feststellte.
„Er meint damit, dass ich schon ein Mal jemanden verloren habe, der mir sehr viel bedeutet hat.“ Sie war vor allem erstaunt, aber irgendwo stupfte eine kleine Nadel der Eifersucht. „Wen?“ fragte sie leise, obwohl sie es sich schon denken konnte.
„Mein Gegenstück.“ sagte er ruhig, aber mit einem kleinen Funken Schmerz in der Stimme. Dieser war jedoch so ätzend, dass er auf einen ganzen See von Bitterkeit schließen ließ, der dahinter verborgen lag. Dass er ihre Vermutung bestätigte, brachte sie ein wenig aus dem Gleichgewicht. All die Jahre hatten sie neben einander her gelebt und sie hatte es nicht gewusst, nicht einmal geahnt. Und plötzlich gab sein Verhalten, seine ganze Art einen Sinn für sie. Viele Elevender waren ihr ganzes Leben lang auf der Suche nach ihrem Gegenstück, nicht nur um die vollkommene Erfüllung zu erfahren, sondern auch um Nachkommen zu zeugen. Dies war nur mit einem Gegenstück möglich, wobei es natürlich auch zufällige Mutationen aus anderweitigen Verbindungen gab. Sie selbst zum Beispiel, war die Tochter einer Begabten und eines Menschen, aber das kam nur sehr selten vor; ihre Schwester war kein Elevender gewesen genauso, wie Kinder aus Elevenderehen, die keine Gegenstücke waren. Noch seltener waren Begabtengeburten aus rein menschlichen Verbindungen.
Sie hatte immer gedacht Pareios wechselte die Betten wie seine Unterwäsche, weil er auf der Suche nach dem war, was Viktor und Meredia hatten, aber nun wurde ihr klar, dass es völlig belanglos für ihn gewesen war, wer da mit ihm die Laken teilte, es gab bereits nichts mehr, wonach er hätte suchen können. Nichts mehr, das sein Bedürfnis nach dieser Erfüllung je wieder hätte stillen können.
Obwohl die Eifersucht darauf, dass es jemanden gegeben hatte, den er immer mehr lieben würde als alles andere auf der Welt, sich wie ein Schwert tief in ihr Herz bohrte, war da noch etwas anderes, das in ihr aufflammte und von der emotionalen Bindung zeugte, die sie unbewusst zu ihm eingegangen war. Sie fühlte Schmerz und Trauer, nicht wegen ihm, sondern wegen ihr. Sie weinte um ihren Verlust, als wäre es ihr eigenes Gegenstück, das da verloren gegangen war. Sie keuchte auf, als sie sich dessen bewusst wurde und konnte nicht anders, als die Arme von hinten um seine breite Brust zu schlingen und den Kopf auf seine Schulter zu betten. Er wollte sich daraus befreien, sie abschütteln, aber sie ließ ihn nicht. Sie wollte ihm verständlich machen, dass sie ihn nicht bemitleidete, sondern lediglich mit ihm fühlte, um nicht zu sagen, genau dasselbe fühlte wie er.
Also sagte sie sanft: „Wie war ihr Name?“ Sein Haupt fuhr herum und er prüfte ihren Gesichtsausdruck, doch als er darin nichts als mildes, verständnisvolles Interesse ausmachen konnte, fuhr er leise fort. „Nuria…, das war ihr Name.“ Sein Flüstern wäre beinahe im Rauschen der Wellen untergegangen, aber ihr feines Gehör konnte die Worte gerade noch einfangen. Er versuchte es emotionslos zu sagen, aber die tiefe Ehrerbietung, die in seiner Stimme mitschwang, erreichte sie trotzdem. Sie schluckte sie herunter, jede bissige Bemerkung die ihr das Monster auf die Zunge legte, während es dem Feuer dieses nagenden Neids mehr Zunder zuschob. Sie bekämpfte es mit aller Macht und sie wusste, sie würde wieder gewinnen. Pareios gab ihr die Kraft, weil sie einfach alles, was er brauchte, für ihn sein wollte, egal was es kostete. Und da wurde ihr bewusst, dass sie ihm niemals weh tun würde können, lieber hätte sie selbst Harakiri begangen. Endlich fiel diese Angst von ihr ab, wie ein riesiger Felsen, den sie die ganze Zeit auf ihrem Rücken durch die Gegend geschleppt hatte. Und wenn Viktor sie das nächste Mal mit Vorwürfen bedenken würde, könnte sie ihm offen und ehrlich ins Gesicht sehen und sie guten Gewissens zurückweisen!
„Was ist passiert?“ fragte sie vorsichtig weiter, da sie nun das tiefe Bedürfnis erfasste, alles über Pareios herauszufinden. Aber als er nicht gleich antwortete, musste sie nachhaken. „Erzähl es mir,… bitte!“ Es kam immer noch nichts. Sie wollte ihn nicht zücken, diesen letzten Trumpf, aber er war der einzige, den er ihr gelassen hatte. „Ehrlichkeit…?“ stieß sie nun noch leiser hervor und bemerkte selbst verwundert, dass es fast flehend klang. Wieder suchten seine Augen ihre. Die aufgegangen Sonne schien ihm seitlich ins Gesicht und erleuchte seine rechte Iris in allen Farben, die ihr inne wohnten. Jetzt strahlte mehr das Blau als das Grau und die Glühwürmchen glichen eher feurigen Kohlenstücken. Seine langen dunklen Wimpern warfen einen Schatten auf die nicht zu kurz geratene und gerade, aber schmale Nase.
„Hab sie kennen gelernt, als ich 15 war, es war das Jahr 1737. Meine Kräfte hatten gerade begonnen, sich zu zeigen. Wir lebten damals in einem Stützpunkt der Legion bei Königsberg. Damals war die Welt noch anders, wir waren nicht so viele wie heute und die Hegedunen regierten offener, grausamer. Sie gaben sich Fürstennamen, um ihre Herrschaft zu rechtfertigen und unterjochten die Menschen, sowie die anderen Elevender. Viktor war viel mit Markus in unserer Sache unterwegs, hab ihn damals nur selten gesehen, aber ich wollte unbedingt auch in die Legion, wollte kämpfen. Deshalb war ich oft unterwegs und suchte Streit, ich wollte wenigsten ein bisschen Action.“ Er stoppte und schüttelte den Kopf. Offensichtlich schien ihm der Gedanke aus heutiger Sicht dumm und töricht. „Auch andere junge Elevender waren scharf drauf, sich zu beweisen, also haben sich ein paar von uns regelmäßig in den Wäldern getroffen, um… ein wenig ernsthafter zu trainieren.“ Den letzten Satzteil formulierte er so vorsichtig, wie man ein rohes Ei auf einem Messer balanciert hätte. „Eines Nachts hab ich mich mit einem Jungen aus dem Dorf in der Nähe geprügelt, seine Eltern waren Elevender, Gegenstücke, aber sie hatten sich der Legion nicht angeschlossen, ihr Sohn und ihre Tochter dagegen…., auf jeden Fall, war ich gerade dabei, ihm den Arsch aufzureißen, als sie sich dazwischen geworfen hat, seine Schwester Nuria.“ Wieder fuhr er sich mit der Rechten über das kurzgeschorene Haar, doch dann kämpfte er sich weiter durch die unheilvollen und doch schönen Erinnerungen. Aurelia blieb ganz ruhig, folgte jeder seiner Bewegungen und lauschte den vielfältigen Gefühlen die er aussandte. Sie drängte nicht, sondern wartete reglos, bis er von selbst weitersprach, der Damm war bereits gebrochen, und es würde bald mehr kommen.
„Die nächsten zwei Jahre waren wir unzertrennlich, niemand stellt die Elevation in Frage, und damals war es nicht unüblich, in unserem Alter zu heiraten, warum auch nicht, wir waren für einander alles, was wir jemals brauchen würden.“ Aurelia schluckte angesichts dieses Bekenntnisses und es machte sie plötzlich eigenartig beklommen, dass er schon einmal verheiratet gewesen war, mit jemandem, der ihm mehr verbunden war, als sie es je sein konnte. Sie versuchte es zu verdrängen und sich nicht wie ein Trostpflaster zu fühlen, aber es war hartnäckig da und ließ sich nicht so einfach wegwischen. Er ersparte ihr weitere Details dieser glücklicheren Zeit seines Lebens, sondern schilderte ihr stattdessen den Untergang seiner Welt.
„Eines Nachts haben die Hegedunen ihr Dorf angegriffen, sie lebte mittlerweile bei mir, in unserem Lager. Ich konnte sie nicht zurückhalten, als wir den Überfall bemerkt haben. In jener Nacht starb sie für ihren Bruder, wie sie es damals getan hätte, als wir uns kennen lernten. Ich war da, aber ich konnte sie nicht retten, ich…“ Ihm entrang ein Laut, ähnlich einem unterdrückten Schluchzen. „ In der Stunde ihres Todes habe ich mir geschworen, die Hegedunen zu zerschlagen und wenn es das Letzte ist, was ich tun werde. Ich hab mich von der Legion ausbilden lassen und bin dann einige Jahrzehnte allein auf die Jagd gegangen. Ich dachte damals, ich könnte nie wieder für jemanden eine solche Zuneigung empfinden.“

Sein Blick vermittelte nun, dass er sie damit ansprechen wollte, aber sie sah eher ratlos zurück, noch immer gebannt von seiner Geschichte, in der so viel Leid steckte, das sie nun doppelt so stark verspürte, da ein winziger Teil von ihr auch darum trauerte, dass sie das nicht für ihn sein konnte. „Und dann kamst du…“ sagte er dann, um ihre Verwirrung zu lichten. Sie hob erstaunt den Kopf von seiner Schulter. „Wie bitte?“ War sie so verdammt blind gewesen? Sie musste wirklich Tomaten auf den Augen gehabt haben, oder ganze Bretter vorm Kopf. Erst Viktor und nun Pareios… Moment, Viktor? Jetzt formte ihr Verstand ein dumpfes Begreifen und ein Kartenhaus aus Fragen fiel in sich zusammen, als sich verschieden Assoziationen bildeten. Wie um ihren Verdacht zu bestätigen erzählte er weiter, aber mit einer neuen Intensität in der Stimme, als wolle er ihr verständlich machen, was das alles für ihn bedeutete. „Als Viktor von dir erzählt hat, dieser Hegedunin, die ausbrechen wollte, hab‘ ich zuerst über die Vorstellung gelacht, dass er ernsthaft vorhatte, dich am Leben zu lassen, aber als ich dich sah… wusste ich sofort, warum er es getan hatte. So ein Geschöpf wie dich kann man nicht einfach töten, es wäre so verdammt schade drum!“ Noch nie hatte sie solche Worte aus seinem Mund gehört und noch nie hatten solche Sätze ihr gegolten. Es klang komischer Weise nicht kitschig, da er es eher aus tiefster Überzeugung, denn schmeichlerisch sagte. Sie errötete sofort heiß und ihre Wangen pochten vor lauter Blut, das sich darin sammelte. Aber sie fühlte sich gleichzeitig so geehrt und so glücklich, fast erhaben, wie er über sie sprach. Sie platzte fast vor Stolz und ihr ganzes Sein war erfüllt von der tiefen Zuneigung die nur Pareios galt. Sie wollte die Arme um ihn schlingen, ihn küssen, ihn spüren….
„Aber Viktor wollte dich,… und ich dachte immer, du wolltest ihn auch. Also hab ich mich zurückgehalten.“
Das war ein Hieb in die Magengrube. Was zum Teufel war da die ganze Zeit hinter ihrem Rücken gelaufen? „Habt ihr über mich gesprochen?“ Sie konnte die leicht verstimmte Frage nicht zurückhalten. Er schüttelte energisch den Kopf. „Nein, nie. Aber ich bin nicht blind…“
Sofort verflüchtigte sich die Rauchwolke ihres Zorns so schnell, wie sie gekommen war, weil sie mit ihrem Sinn ertastete, dass er sich offenbar ebenso wie ein Trostpflaster fühlen musste. Erschrocken biss sie sich auf die Lippen. Nein, das konnte sie nicht zulassen, er kannte nicht die Wahrheit, er… Aber sie konnte es nicht sagen, noch nicht.
Wie sagte man jemandem, dass man ihn liebte, ohne ihn mit der eigenen Unzulänglichkeit zu verschrecken? Was, wenn er genau das jedoch in diesem Moment mit seinem Geständnis hatte herausfinden wollen? Aber so viel von sich Preis zu geben, sich so offen und verwundbar zu machen, jetzt wo ihr seine Zuneigung so wichtig war, wagte sie noch nicht. Trotzdem wurde ihr bewusst, dass sie hier etwas klar stellen musste.
Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und sah ihm wieder tief in die Augen, um die Aufrichtigkeit ihrer Worte zu unterstreichen. „Ich habe Viktor nie so gemocht, wie ich dich jetzt mag!“ sagte sie schlicht, aber bestimmt. Zur Bekräftigung gab sie endlich ihrem Drang nach, ihn zu küssen. Sie wollte all ihre Zärtlichkeit mit ihrem Mund darbieten, ihm mit ihrer Zunge klar machen, wie viel er ihr bedeutete.
Er reagierte sofort mit seinem ganzen Körper auf die Berührung und entflammte an ihrer Haut. Seine gesamte Muskulatur erstarrte in der stählerneren Anspannung seiner Beherrschung, aber er machte die Lippen ganz nachgiebig weich, so himmlisch sanft folgten sie der Bewegung der ihren. Dann legte er eine Hand seitlich an ihren Hals und ließ sich langsam nach hinten auf den Rücken sinken, während er sie mit sich hinunter zog. So lag sie halb auf ihm, spürte sein Herz gegen ihre Brust trommeln und seine Fingern ihre Wirbelsäule hinab gleiten. Sie schmolz in seinen Armen dahin, ließ sich von ihren Empfindungen treiben, die ihre Hände ganz von selbst beflügelten, über die heiße Haut und die vielen Narben zu streichen. Das Glühen in ihrem Herzen schwoll immer weiter an und senkte sich in alle Winkel ihres Leibes, ließ sie vor Verlangen seufzen, während sich der sengende Strudel zwischen ihren Beinen konzentrierte. Als sich ihre Zunge zwischen seinen Zähnen hindurch drängelte, stöhnte er verzweifelt mit sich ringend, doch dann schien er seine Zurückhaltung in den Wind zu schießen. Er schlang fest die Arme um sie und rollte sich mit einer eleganten Bewegung auf sie, ohne den Kuss zu unterbrechend. Sein Gewicht drückte sie in den kühlen Sand und seine starken Schultern umschlossen sie, versprachen Halt und Sicherheit. Schließlich wanderten seine fordernden Lippen ihren Hals hinunter, während sie spürte wie seine Rechte immer noch zögerlich die nackte Haut ihres Bauches hinauf fuhr, sich langsam ihren Brüsten näherte. Genüsslich reckte sie ihm ihren Brustkorb entgegen, konnte es gar nicht mehr erwarten, von ihm berührt zu werden. Endlich umschloss er sanft eine über dem Stoff ihres Büstenhalters und sein Mund gesellte sich dazu, strich leicht wie ein Hauch über die Stelle, wo der Saum begann. Die Gänsehaut, die er damit verursachte überzog die komplette Körperseite. Noch nie hatte sie ein solch inniges Verlangen gespürt. Es war mehr als sexuelles Begehren, es war wie der Wunsch in ihm aufzugehen, sich mit ihm zu verbinden. Gott, wie gut sich er sich auf ihr anfühlte, als hätte sie ihr ganzes Leben nur nach diesem Moment, nach seiner Nähe gedürstet. Und sie wollte ihn, sie brauchte ihn so sehr, dass sie fürchtete, sonst zu zerspringen. Dann drängte er seine Hüften zwischen ihre Beine und sie fühlte seine Erektion gegen ihren Oberschenkel gepresst. Im nu hatte er flink einen BH-Träger über ihre Schulter geschoben und die dunkle Brustwarze glänzte nun freigelegt in der Morgensonne, bevor sich seine Lippen darum schlossen. Sie ließ die Lider zufallen und ließ sich von seinem Mund verzaubern. Ihre Gedanken lösten sich von ihr und entflohen in wundervolle Tagträume. Dieses tiefe Gefühl der Zuneigung verdichtete sich wieder zu der Gewissheit, dass sie mehr als nur das für ihn fühlte, sie wollte ihn ganz, ganz für sich allein. In dem Moment versuchte er gemächlich den Slip nach unten zu schieben, da durchfuhr sie eine Erinnerung wie ein ätzender Strom Säure.
Sie durchflutete ihr Hirn und ihr Herz, während sie machtlos dabei zusah, wie eine unglaubliche Abscheu in ihr aufstieg. Fast wie eine Panikattacke ergriff sie ihre Kehle und drückte zu, nahm ihr die bitter benötigte Luft zum Atmen und schnürte enge Seile mit Dornen um ihren Brustkorb. Jeder bohrte sich wie ein winziger Giftpfeil in sie, verseuchte sie mit dieser urplötzlichen Abneigung. Sie konnte ihren Mund nicht daran hindern ein Schluchzen zu formulieren. Zuerst nahm er an, es war ein Ausdruck ihrer Leidenschaft und sog nur noch heftiger an ihrer Brust, aber dann ergriff der Aufruhr in ihrem Inneren auch die Arme. In benommener Trägheit ballten sich ihre Fäuste und schlugen nun immer wieder widersinnig gegen seine Arme und Schultern, während sich das Schluchzen ohne ihr Zutun in ein Wimmern verwandelte. Obwohl sie es nicht wollte, schrie alles in ihr danach sein Gewicht auf ihr loszuwerden und da sah er sie erschrocken an. Zuerst war sein Blick nur verwirrt, aber als er die rohe Panik in ihrem Gesicht las verzerrten sich seine Züge zu blankem Entsetzen. Wie von der Tarantel gestochen rollte er sich von ihr herunter. „Aurelia, hab ich dir wehgetan?“ fragte seine zittrige Stimme von tiefer Besorgnis erfüllt. Ohne sein Gewicht auf ihr ließ die Panik langsam nach und sie schnappte nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Mit stockendem Herzschlag setzte sie sich auf und schlang die Arme um den schmerzenden Brustkorb. „Nein, ich… ich weiß auch nicht, eigentlich war es schön…“ brachte sie schließlich stoßweise hervor. Kurz blieb es still. „Was ist es dann?“ fragte er diesmal noch sanfter und sie hörte auch den Schmerz, den die Zurückweisung verursacht hatte. Er stach ihr tief in die Seele und sie wünschte, sie hätte sich beherrschen können. Sie verstand nicht, warum ihr Körper ihr gerade in diesem Moment diesen grausamen Streich spielte, wo doch alles eben noch in bester Ordnung gewesen war, der besten seit langem, eigentlich seit Anbeginn ihres Daseins. Es zerriss sie innerlich, ihn, den sie liebte, fortstoßen zu müssen.
Sie schwieg. Sie brachte es nicht über die Lippen, ihm ihr krankes Wesen zu erklären. Was wenn er dann genauso genug von ihr haben würde, wie Viktor? „Ich…, weiß es einfach nicht, ich… ich glaube,… ich kann nicht…“ setzte sie wieder an, brachte es aber nicht fertig, den Satz zu Ende zu führen. „Was kannst du nicht?“ fragte er weiter und fasste ihr Kinn, um ihren Kopf zu drehen. Seine Augen zeigten deutlich die Enttäuschung, aber immer noch war er liebe- und verständnisvoll. „Ich glaube, ich kann nicht mit dir…“ gab sie dann mit brüchiger Stimme zu und senkte den Blick. Sie konnte nicht mit ansehen, wie sie das zarte Pflänzchen ihrer Beziehung mit diesem einen Satz zerstörte und unbarmherzig mit den Füßen zertrampelte. Abrupt nahm er die Hand weg. „Was soll das heißen?“ fragte er und klang dabei tief getroffen. „Soll das heißen, du kannst mit Hinz und Kunz schlafen, aber nicht mit mir?“ Er fauchte aus tiefer Brust und offenbarte das Ausmaß der Verletzung, die sie ihm zu gefügt hatte. Er hatte sich ihr eben geöffnet, so viel von sich in die Waagschale geworfen und war ihr so nah gekommen, physisch und seelisch, wie keiner zuvor und wieder hatte sie die Flucht vor seiner Nähe ergreifen müssen, die Flucht vor seiner Liebe, begriff sie plötzlich. Natürlich ging es nicht um den Sex, den sie nicht ertragen konnte.
„Pareios, nein, ich…“ Doch er war schon aufgesprungen und unterbrach sie in einer Eiseskälte. „Schon gut! Du brauchst nichts weiter zu erklären. Ich habe schon verstanden.“ Damit kehrte er ihr den Rücken zu und stapfte zurück durch den Sand in die Wellen der Ostsee.







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