Gifted - Die Befreiung - Teil 17

Autor: Aven
veröffentlicht am: 03.08.2012


Moin moin, ihr Lieben,
vielen lieben Dank für eure Kommentare! Ich freue mich riesig, dass die Story euch Spaß macht und ihr sie lest, das spornt unheimlich zum weiterschreiben an! :D
Hier also der nächste Teil, viel Spaß dabei und wie immer sind Kommentare gern gesehen ;D,
LG Aven

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Kapitel 4

Es war Zeit!
Sie spürte es mehr, als dass sie es sah. Die Dunkelheit umfasste sie, schenkte ihr Schutz und bestach mit Vertrautheit. Sie war allein. Aber sie hatte es ja so gewollt. Die Entscheidung war ihr leicht gefallen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass Markus keine Verstärkung schicken würde. Obwohl Viktor sich standhaft gegen ihren Entschluss gewehrt hatte und auch Aiden kurz davor gewesen war, ihr den Kopf abzureißen, hatte sie sich durchgesetzt. Wahrscheinlich war es weniger sie gewesen, als das Wissen um den schieren Wahnsinn ihres Unternehmens. „Ein mal den Tod! Aber zum Mitnehmen bitte!“ hatte Aiden ihr sarkastisch entgegen gebrüllt, aber sie war ruhig geblieben und hatte sachlich argumentiert. Sie hatte den beiden etwas voraus, das sie viel gekostet hatte. Die Beherrschung ihrer Impulse hatte sie bis zur Perfektion trainiert und Pareios war ihr ‚grand final‘ gewesen. Irgendwie hatte er sie dazu gebracht, zu guter Letzt sogar ihr gefürchtetes Monster einigermaßen zu kontrollieren. Das, wovor sie all die Jahrhunderte Angst gehabt hatte, hing nun in der Schwebe vor ihr und ein Sieg darüber war zum greifen nah. Und sie war fest entschlossen zu gewinnen, um Seinetwillen, aber auch um Ihretwillen. Ja, sie spürte, dass es Zeit war. Zeit, sich selbst und Pareios‘ und Row’s Entführer zu bezwingen.
Sie blinzelte ein paar Mal gegen den starken Ostwind. Ihre Augen taten immer noch weh, aber seit sie die Kontaktlinsen endlich los geworden war, schien es langsam besser zu werden. Auch die Perücke lag in einer ihrer Taschen und wartete auf einen neuerlichen Einsatz. Aurelia trug nun wieder die Skimaske, die nur die Augen frei ließ und den Rest unter dicker schwarzer Wolle versteckte.
Nachdem sie die beiden überzeugt hatte, dass sie ihre Konzentration nur stören würden, hatte Viktor ihr in irgendeinem Laden neue Kopfhörer für ihren Player besorgt. Sie und Aiden hatten draußen gewartet und er hatte sie die ganze Zeit über bedrängt, ihn mitkommen zu lassen. Seit Viktor sie übers Handy informiert hatte, dass er beobachtet hatte, wie auch Row in den Sicherheitstrakt der Justizverwahrungsanstalt gebracht worden war, war dies sein einziger Gedanke gewesen. Sie konnte es in jeder seiner Bewegungen und Worte, ja sogar in seinem Geruch erahnen. Er roch nach Angst, nackter, verzweifelter Angst. Und genau so etwas konnte sie da drin nicht um sich herum gebrauchen.
Für die weiteren Besorgungen hatten sie sich aufgeteilt und sie war froh gewesen, ihr Vorhaben alleine durchdenken zu können. Erst später, als sie zusammen in einem Hinterhof saßen und die verschiedenen Reinigungsmittel, Chemikalien und weitere Ingredienzien in Plastikflaschen füllten, hatte sie den beiden davon berichtet. Sie waren einverstanden gewesen und hatten dann die verbleibenden Rollen ihres Plans unter sich aufgeteilt.
Kurz bevor sie sich verabschiedet hatten, hatten die beiden Männer ihr all ihre übriggebliebenen Waffen in die Hände gedrückt, sie würde sie schließlich am nötigsten brauchen. Nun war sie um einige Waffen reicher, wobei sie Viktors rasiermesserscharfe Machete am meisten schätzte. Sie lag gut in der Hand und ihr enormes Gewicht verstärkte ihre tödliche Wirkung. Beruhigend spürte sie sie nun im Rücken, während sie da im Gebüsch hockte.
Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Wind war immer noch stark und das Gras nass. Sie ließ den Blick über das riesige graue Gebäude vor ihr schweifen. Die Lichter waren schon vor Stunden gelöscht worden und jetzt sah es nur noch aus, wie ein riesiger, elefantenhäutiger Koloss, übersät mit tausenden von schwarzen vergitterten Augen. Zuerst hatte sie geglaubt, die 5 Meter hohe Mauer mit dem Stacheldraht wäre ihr größtes Problem, aber nun da sie sie überwunden hatte, kam es ihr lächerlich vor. Sie war einfach an einem der Wachtürme hinaufgeklettert, genau im Schatten zwischen Turm und Mauer hatte sie sich eng an den Stein gepresst und war so den Wachen über ihr und denen gegenüber entgangen. In letzter Zeit konnte sie ihrem Urteil nicht mehr ganz so vertrauen wie früher. Vor allem über- oder unterschätzte sie Situationen. Aber mal ganz ehrlich, in was war sie da hineingeraten, wer hätte damit schon gerechnet? War es ihr eigenes Schicksal, das sie da rief, oder das eines anderen, das sie nur zufällig tuschierte? Es spielte jetzt sowieso keine Rolle mehr.
Sie hörte eine Turmuhr in der Nähe zur vollen Stunde schlagen. Jetzt waren es nur noch Minuten, bis es losging. Die alte innere Ruhe vor dem Sturm setzte ein. Sie nutzte sie, die Muskeln vorzuspannen und die Konzentration zu sammeln.
Dann ertönte der laute Knall der ersten Explosion. Die Erschütterung übertrug sich auf den Boden und ließ das gesamte Gebiet erzittern. Viktor hatte mit seinem Ablenkungsmanöver ganze Arbeit geleistet. Sie konnte aus ihrer Position sehen, wie die Mauer an der Vorderseite des Gebäudes weggerissen wurde und sich in Staub und Trümmern auflöste. Kurz schoss ihr die Erinnerung an den heutigen Nachmittag durch den Kopf und sie freute sich darüber, es den Hegedunen mit ihren eigenen Mitteln heimzahlen zu können. Im Gebäude gingen kurz nacheinander die Lichter an und sie hörte wirres Gebrüll durch die geöffneten Fenster. Die Insassen des Gefängnisses waren außer Rand und Band, weil eine Explosion gefolgt von Feuer in ihren Zellen den sicheren Tod bedeutete. Von jetzt an hatte sie 30 Sekunden. Als ihre Intuition sie drängte, rannte sie los und zählte dabei mit. Quer über den Innenhof des Gebäudes flitzte sie, während ihre Füße absolut geräuschlos über den Asphalt tappten. Gerade rechtzeitig erreichte sie das rückwertige Eck des Gefängnisses, bevor sie einer der Scheinwerfer einfangen konnte, die nun suchend über den geteerten Platz wanderten. Sie wussten nicht mit Sicherheit, wo die Hegedunen Pareios und Row untergebracht hatten, aber der Hochsicherheitstrakt erschien ihnen für zwei Elevender der richtige Ort. Und der befand sich im hinteren Teil des Gebäudes, genau vor Aurelia. Sie rammte die Plastikflasche vor der Hauswand in den Boden und als sie bei 5 angelangt war, zündete sie sie an. Auf der anderen Seite des Ecks wartete sie. Dann kam die Detonation und sie war erleichtert, dass sie sich die Ohren zugehalten hatte. Die Lautstärke war doppelt so hoch gewesen wir vorhin. Ihr Eindringen an der Rückseite des Gebäudes war von einer weiteren Explosion vorne am Eingang überdeckt worden, genauso, wie sie es mit Viktor zusammen abgestimmt hatte. Nun konnte sie nur noch hoffen, dass die Wachen auf den Türmen zu gefesselt von dem Inferno an der Vorderseite waren, um einen Blick in den hinteren Teil des Innenhofs zu werfen. Sie brauchte zumindest so viel Zeit, um zum Sicherheitstrakt zu kommen, wenn sie bis dahin nicht vom Wachpersonal unbemerkt blieb, würden sie Pareios und Row wegschaffen, bevor sie sie erreichen könnte. Nur einen Moment, nachdem der Krach verklungen war, suchte sie sich einen Weg durch die Gesteinsbrocken und schlüpfte durch das kleine Loch, das ihre Bombe in Wand gezaubert hatte. Sie überließ sich ihrer Intuition, also schaltete sie den Player ein und erfüllte ihren Kopf mit den lauten Rhythmen und der Jagdlust.
Drinnen war es genauso dunkel wie draußen. Als die Staubwolken sich legten, konnte sie erkennen, dass sie sich in einem kleinen Versorgungsraum befand. Überall standen Putzmittel, Waschmittel, Schrubber und diverses Werkzeug herum. Sie durchschritt den Raum und öffnete die eiserne Tür einen Spalt. Ihre Sinne übernahmen die Führung und leiteten sie hinaus aus dem Raum, die dunklen Flure entlang. Zuerst begegnete sie niemandem, dann kamen ihr flüchtende Gefangene entgegen. Die Gitterstäbe vor den Zellen hatten sich geöffnet, als das Feuer ausgebrochen war. Im Gebäude herrschte nun ein einziges Chaos, womit sie gerechnet hatten und welches sie zu ihrem Vorteil nutzen wollten. Vor den ersten Männern versteckte sie sich noch hinter diversen Ecken, aber als der Ansturm nicht nachließ, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich einen Weg mitten durch sie hindurch zu bahnen. Die Männer erschraken heftig, als sie ihre vermummte Gestalt erkannten. Sie musste martialisch wirken, mit dem ein Meter langen Messer auf dem Rücken, den zwei Automatikwaffen in den Händen und der wilden Entschlossenheit in ihren eisblauen Augen. So machten die meisten einen großen Bogen um sie, oder nahmen in die andere Richtung Reißaus. An der Tür zum Sicherheitstrakt setzte sie die nächste Plastikflasche ab. Jetzt war es egal, ob man sie hörte. Sie würde so oder so entdeckt werden. Die Tür gab der Explosion widerillig nach und Aurelia musste sie danach mit aller Kraft aufstemmen, damit sie durch passte. Endlich konnte sie dem Monster freien Lauf lassen. Nachdem sie zuletzt geübt hatte, es zu kontrollieren, war nun an der Reihe, es zu nutzen, wenn sie es wollte. Das war auch der Grund gewesen, warum sie Aiden und Viktor nicht dabei haben wollte. Sie konnte nicht einschätzen, was passierte, wenn sie sich dieser unbändigen Raserei überantwortete. Sie fühlte wie sein Zorn und seine Kraft durch ihre Adern flossen und sie wie eine Fackel entzündeten. Die Kälte ihrer Jagdlust vermischte sich mit der Hitze ihres Rachedurstes.
Schon flog ihr das erste Geschoss entgegen. Ihre Intuition veranlasste sie, sich auf den Boden zu werfen und weiter zu robben. Eine der Wachen hatte eine Rauchgranate gezündet und der Flur, der sich vor ihr erstreckte füllte sich schnell mit einem dicken beißenden Nebel. Diesmal besaß sie keine Atemmaske, sondern wickelte sich nur das schwarze T-Shirt von gestern um Mund und Nase. Sie kroch weiter und rammte ihr Messer in ein paar Waden. Die Aufschreie der Besitzer gingen in ihren Drum’n’Bass-Rhythmen unter, aber jeder einzelne Stich befriedigte sie auf eine gewisse Weise. Sie stand auf und rannte den Flur hinunter, immer ihrem Gefühl hinter her. Nach der nächsten Abzweigung konnte sie die schemenhaften Gestalten mehrerer Männer erkennen, die sich an verschiedenen Stellen positioniert hatten. Sie konnte außerdem riechen, dass ein Elevender hier war, vielleicht sogar zwei. Die ersten drei Angestellten der Anstalt streckte sie mit gezielten Kopfschüssen nieder, was die anderen dazu brachte, wild um sich zu feuern. Aurelia drehte sich zum Takt der Musik, Schritt für Schritt, durch den Kugelhagel. Sie war in ihrem Element und das Monster machte sie noch schneller, noch präziser, noch todbringender. Bei der letzten Drehung ihres Tanzes hatte sie den erreicht, den sie für den Elevender hielt. Sie wusste nicht, welche Kräfte er besaß, deshalb war es klüger, gar nicht erst darauf zu warten, dass er sie einsetzte. Sie zog die Machete vom Rücken. Die schwere Waffe fungierte nun als tödliche Verlängerung ihres Armes und bei der nächsten Drehung spürte sie den Widerstand von Fleisch an der Klinge, doch sie trieb sie weiter, bis sie wieder frei durch die Luft schwang. Trunken von ihrer Raserei beobachtete sie in Zeitlupe, wie der Mann röchelnd zusammensackte, aber sie hatte keine Zeit, sein Leiden zu beenden. Denn ihre Intuition signalisierte ihr eine gute Gelegenheit. Drei Männer näherten sich ihr von hinten, einer war der zweite Elevender. Schon als sie loslief freute sie sich, dass die drei so töricht nah bei einander standen, es würde ein leichtes Spiel werden! Sie machte zwei Schritte bevor sie die Wand erreichte, nutzte den Schwung, um einen weiteren daran hinauf zu tun, dann stieß sie sich mit aller Kraft nach hinten ab. Sie drückte den Rücken durch, um schon in der ersten Flugphase ihres Rückwertssaltos eine bessere Sicht auf die drei zu haben. Sie zog die P8 mit der linken und als sie direkt über ihnen war, schoss sie einem in den Kopf, während sie den anderen beiden mit einem Machetenstreich die Schädel spaltete. Das triumphale Gefühl das ihr Hinscheiden in ihr auslöste, floss direkt in ihre Arme und Beine und verstärkte noch ein Mal die Kräfte, die ihrer Muskulatur innewohnten. Jetzt war sie nicht mehr zu bremsen. Als mehr Gegner anrauschten, diesmal alles Menschen, formten ihre Lippen wie von selbst ein bestialisches Lächeln. Sie landete direkt vor dem ersten und schoss ihm in den Bauch. Das Geschoss drang durch ihn hin durch und erledigte noch einen Kerl, der hinter ihm herangestürmt war.
„Kugel!“ warnte ihr sechster Sinn und sie drehte nach links ab, um die Salve aus einem Maschinengewehr zu umgehen, dann spürte sie, wie vier Wachen sich hinter der nächsten Ecke bereit machten, sie zu erledigen. Sie musste jetzt nah an ihrem Ziel sein. Da warf sich ihr ein großer stämmiger Mann in den Weg. „Elevender!“ schrie die Intuition. Für eine Flucht war es zu spät, also war ihre beste Chance der Nahkampf. Fliegend wechselte sie den Griff an der Machete, sodass die Klinge nun wie ein Flügel an Ihrem Unterarm lag. Die Kampfeswut züngelte heiß in ihren Adern. Der Elevender schlug nach ihr, doch sie duckte sich flink unter seinen Armen durch und machte noch einen Schritt auf ihn zu. Er hatte die Betonwand getroffen und da wo seine Faust aufgeprallt war, fehlte jetzt ein großes Stück. Seine Gabe war also Stärke, aber er war langsam, viel zu langsam für Aurelia. Er konnte gerade noch den Kopf senken, zu ihr herabschauen und erkennen, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte, als ein kaltes Lächeln in ihren Mundwinkeln zuckte. Mit der Linken boxte sie von unten in seinen Solarplexus, dann drückte sie die Beine durch und ließ die Rechte vor seinem Kopf vorbei wandern. Seine Augen, sie waren blau soweit sie durch den dicken Rauch erkennen konnte, weiteten sich ungläubig als er annahm, sie hätte ihn verfehlt. Doch schon ergriff ihn das Entsetzen, während Aurelia ihren Flügel aufklappen ließ und die Klinge der Machete ihn enthauptete. Beinahe hätte sie den Kopf in den Nacken geworfen und das Ungeheuer siegesberauscht aufheulen lassen, so mächtig fühlte sie sich gerade in diesem Moment. Sie sprang über seine Leiche und schoss jetzt wiederholte Male durch den Raum, jede Kugel war ein Treffer. Sie kam sich vor wie ein entflammter Racheengel, der bittere Vergeltung einforderte und diese wie einen Napalmschauer über den Feinden entlud.
Jetzt hatte sie die nächste Ecke erreicht und sprang einfach über die vier Wiedersacher hinweg, die dort warteten. Die Zeit zerrann ihr zwischen den Fingern, weshalb sie nicht mehr wagte, sich mit ihnen aufzuhalten. So sprintete sie weiter nach hinten Schüsse abgebend den Gang entlang. Endlich erkannte sie, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Es war eine riesige Tür. Sie war nicht aus Metall, sonder aus einem Material, das Aurelia nicht kannte. Sie wusste nicht, ob es möglich war, sie zu sprengen, aber sie hatte kein gutes Gefühl dabei. Also stellte sie die Sprengflasche an die Wand daneben und zündete sie an. Sie selbst brachte sich in Sicherheit, aber einige ihrer Verfolger hatten die Bombe im Rauch nicht wahrgenommen und wurden von der neuerlichen Detonation erfasst. Sie empfand keine Reue, als sie verfolgte, wie ihre Körper in den Flammen versengten und die Männer vor Schmerzen schrien.
Ohne zu zögern nahm sie Anlauf und sprang im Flug durch die kleine entstandene Öffnung in der Mauer, drinnen angekommen rollte sie sich ab, blieb in der Hocke mit gezogener Waffe und sah sich schnell um. Der kleine Raum war nun mit Wolken von Staub gefüllt, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass er da war. Ihr wurde sofort warm und eine unglaubliche Erleichterung ergriff ihr Herz. Während es bisher wie eine Dampflock seinen Dienst getan hatte, schlug es nun wilde Kapriolen vor Freude. Nach ein paar umherschweifenden Blicken konnte sie erkennen, dass die Pritsche der Zelle von der Wand gerissen worden war und nun als Schutzschild diente und zwei zusammengekauerte Personen, die in die rückwärtige Ecke gedrängt saßen, abschirmte. Endlich konnte sie Luft holen, ihre Lungenflügel blähten sich auf und ihr Hirn wurde wieder mit Sauerstoff versorgt. Das Kribbeln, das ihren Körper durchfuhr, machte es zur Gewissheit. Sie hatte Pareios gefunden und auch Row streckte jetzt ihren Kopf hinter dem Metall hervor. Als ihre Augen Aurelia erfassten traten Tränen hinein und lösten sich schnell aus den Winkeln, um ihren Weg über die schmutzige Wange nach unten anzutreten. Jetzt flog die Pritsche zur Seite und die Körper ihrer beiden abgekämpften und zerschlissen wirkenden Teamkollegen kamen zum Vorschein. Sie konnte ihre Beine nicht davon abhalten, geradewegs auf Pareios zuzustürmen und sich vor ihn zu knien. Sofort wanderten ihre Hände über Arme und Beine, die Augen waren in seine eingetaucht. Es war, als ob sie aus dem Schatten heraus in die strahlende Sonne getreten wäre, sie spürte seinen Blick, seine Strahlen auf ihrem Gesicht und eine Wonne jenseits dieser furchtbaren Nacht breitete sich in ihr aus. Sie war unheimlich erleichtert, beide zu sehen, aber die Anspannung hatte sie immer noch gnadenlos im Griff.
Es war keine Zeit zu sprechen, zu verweilen, also überprüfte sie beide nur nach Verletzungen, aber ihre Hände wurden alsbald bestimmt weggeschoben. Sie sahen übel zugerichtet aus, aber es schien nichts gebrochen. Und wenn es das gewesen war, war es wahrscheinlich mittlerweile wieder verheilt.
Sie sah sich um. Die Wände waren mit einer dunklen Paste beschmiert. Sie strich mit dem Finger darüber und roch dann daran. Es war eine klebrige Mischung, die anscheinend Pareios Feuerbälle abhalten sollte. Folgedessen würden ihre Brandbomben daran auch nichts ausrichten. Aber da meldete sich wieder ihr sechster Sinn. Sie war ja auch von draußen herein gekommen. Mit fliegenden Fingern löste sie ihre Gürtelschnalle und zog ihn mit einem Ruck aus den Schlaufen. Dann knotete sie das eine Ende um die Plastikflasche, die Schnalle verhakte sie in den Gitterstäben, die am Fenster befestigt waren. Nachdem sie den Halt geprüft hatte, zündete sie die Flasche an und warf sie im hohen Bogen durch die Gitterstäbe nach draußen, wo sie ein Klacken hörte, als die Flasche am Gürtel baumelnd außen an der Betonwand aufschlug. Nur wenige Sekunden später folgte die Explosion, die ein Loch in die Außenwand riss und sie duckten sich diesmal zu dritt hinter die ehemalige Pritsche. Sofort konnte sie die frische Luft und den schneidenden kalten Wind von draußen spüren.
Sie befanden sich im zweiten Stock, wie sie feststellte, als sie den Kopf in die Nacht hinausstreckte. Nicht zu hoch zum Springen, dachte sie zufrieden, während Row zuerst an den Abgrund trat. Schon war sie mit wehendem blondem Haar in der Dunkelheit verschwunden, da stellte sich Pareios neben sie und reichte ihr die Hand. Sie ergriff sie, fühlte endlich wieder seine berauschende Nähe und sah in die Dämmerung mit den goldenen Sternchen, dann sprangen auch sie gemeinsam.
Die Begrenzungsmauer des Innenhofs, der voll von verzweifelt durcheinander laufenden Häftlingen war, war Rows Druckwellen und Pareios Feuerbällen nicht gewachsen. Schon nach ein paar Versuchen gab ein Teil nach und sie konnten die Gesteinsbrocken mit vereinten Kräften zur Seite schaffen, dann endlich rannten sie in die Freiheit. Das Sicherheitspersonal würde genug damit zu tun haben, die Gefängnisinsassen wieder einzufangen, die nun hinter ihnen aus ihrem Fluchtloch strömten. Sie blickten nicht zurück, sondern sprinteten nur so schnell sie konnten über die kleine Wiese vor dem Gefängnis, bis sie in den Schatten von ein paar Trauerweiden abtauchen konnten, die hier am Ufer eines kleinen Baches standen. Er reichte ihnen bis zu den Knöcheln, während sie ihren Weg durch sein Bett fortsetzten. Das Rennen war so erquickend, nun da sie Pareios und Row neben sich hatte und sie fühlte wieder, wie seine Lebendigkeit auf sie überschwappte. Sie atmete, ihr Puls trommelte und sie lebte. Sie hatte ihn aus dem Gefängnis befreit, aber er hatte ihr die innere Freiheit geschenkt. Sie waren sozusagen Quitt. Der Nebeneffekt war, dass es sie auf eine Weise zusammenschweißen würde, die keiner von beiden im Moment auch nur erahnte.

Unter einer Brücke ein paar Kilometer weiter machten sie Halt und warteten, bisher waren sie von Verfolgern verschont geblieben. Hier war ihr Treffpunkt, an dem Aiden und Viktor sie abholen sollten. Ihre Schritte hallten unter dem steinernen Gewölbe wieder, doch Aurelia konnte trotzdem die noch weit entfernt klingenden Motorengeräusche eines Wagens hören. Schließlich kam er mit quietschenden Reifen direkt über ihnen zum Stehen. Sie verließen ihre Deckung, kämpften sich den kleinen Abhang hinauf und retteten sich in das Innere eines kleinen alten Renault Clio.
Viktor beschleunigte die Karre schlingernd und drückte das Gaspedal durch, um sie auf dem schnellsten Weg aus der Stadt herauszubringen, sie würde schon bald mit Straßensperren abgeriegelt sein. Er nahm einen verborgenen Feldweg direkt durch den Grunewald und benutzte erst wieder in Potsdam reguläre Straßen.
Row saß auf Aidens Schoß auf dem Beifahrersitz. Aiden murmelte an Viktor gerichtet: „Verdammt, ich kann immer noch nicht glauben, dass diese waghalsige Scheiße funktioniert hat!“ Dann wiegte er Row in seinen Armen und unterhielten sich leise mit ihr. Diese wirkte abgerissen und mitgenommen, aber jetzt strahlte sie eine aufkeimende Ruhe aus. Aurelia vernahm den liebevollen Ton und sah die Intensität der Blicke, die sie sich zuwarfen. Erst jetzt wurde ihr klar, wie schwer es Aiden gefallen sein musste, sie allein gehen zu lassen. Aber wie gesagt, er glaubte an sie. Und sein Glaube, so war ihr nun bewusst, war das, was sie alle zusammen hielt. Er setzte all sein Vertrauen in sie, dass sie Großes bewirken konnten und bisher hatte er Recht behalten.
Endlich war der Moment gekommen, sich Pareios zu widmen. Er saß rechts neben ihr auf der Rückbank und sah sie unvermindert an. Jetzt hatte sie die Muße, ihn genauer zu betrachten. Die Kleidung von heute Nachmittag war an vielen Stellen gerissen und übersät mit blutigen, verdreckten Flecken. Auf Gesicht, Armen und Rücken waren tiefe Striemen zu sehen, außerdem einige Risse, aus denen noch etwas Blut sickerte. Die Hegedunen hatten ihn gefoltert, das war deutlich. Die Schläge und Schnitte mussten hart und tief gegangen sein, wenn man sie jetzt noch erkennen konnte. Das Monster in ihr heulte auf, wünschte sich, sie hätte mehr Zeit gehabt, sich an seinen Peinigern auszutoben. Sie dasselbe spüren zu lassen, wie sie ihm angetan hatten. Das Ungeheuer, ihr altes Ego, war ein blutrünstiger Wächter dessen, was sie liebte, es vergab und vergaß nicht und es kannte kein Mitleid und keine Gnade. Sie war militärisch und präzise vorgegangen, um ihre Kameraden so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen, jetzt wünschte sie sich jedoch, sie hätte es mehr genossen. Endlich hatte das Monster in ihr einen Platz gefunden, wo es hingehörte und sie hoffte, es würde sich in Zukunft auf diesen Ort beschränken.
Pareios streckte die Hand aus, streichelte ihre Wange und ließ sie dort verweilen. Aurelia legte fast unmerklich ihren Kopf in seine Handflächen und rieb ihre Haut an seiner. Das wohlige Prickeln erfasste sie und das Glühen in der Magengegend erwachte zum Leben. Sie rutschte auf dem Rücksitz näher zu ihm heran und registrierte am Rande, wie Viktor sie im Rückspiegel beobachtete, aber es war ihr egal. Er konnte froh sein, dass sie ihn für seine Taten nicht völlig verbannte. All ihre Aufmerksamkeit galt Pareios, der sie jetzt sanft in seine Arme zog. „Ich wusste, dass du kommst! Aber ich hatte gehofft, sie würden dich abhalten!“ flüsterte er ihr ins Ohr und strich mit der Nase ihren Hals hinunter, was sie zufrieden erschauern ließ. „Naja, du kennst doch meinen Hang zu Himmelfahrtskommandos! So was kann mir keiner ausreden!“ sagte sie ironisch und lächelte. Er beließ es dabei, obwohl er genau wusste, dass das nicht ihre einzige Intention gewesen war. Er bedrängte sie niemals, überließ jeden weiteren Schritt ihr und passte sich der Geschwindigkeit an, die sie ertragen konnte. Sogar jetzt in diesem Moment, in dem sie sein Verlangen nach ihr und seine überschäumende Freude darüber, dass sie Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um ihn zu retten, spüren konnte, hielt er sich trotzdem zurück. Sie legte die Hand an seine Brust, genau über sein Herz und fühlte die Vibration des pumpenden Muskels darin. Es beruhigte sie, verlieh ihr Zuversicht und sie sagte schlicht: „Du lebst, das ist das Wichtigste!“ „Und wenn sie dich am Mittelpunkt der Erde versteckt hätten, dann hätte ich mich eben bis dahin durchgegraben!“ fügte sie grimmig in Gedanken hinzu und das Ungeheuer in ihr fauchte zustimmend. Aber das alles war jetzt belanglos, er saß hier, direkt neben ihr und sein Herz schlug immer noch. Es ließ sogar die Trauer darüber verblassen, wie viele eigentlich unwissende Marionetten, sie an diesem Abend wieder hatte töten müssen. Sie hätte vor Erleichterung weinen können, aber das war nicht ihre Art, also packte sie nur fest seine große schwielige Pranke und drückte sie wie eine Wahnsinnige. „Sorg gefälligst in Zukunft dafür, dass das auch so bleibt!“ flüsterte sie dann und starrte vor sich hin auf den Vordersitz. Aurelia konnte den Schmerz in ihren Worten nicht restlos verbergen, was ihn veranlasste, sie am Kinn zu sich zu drehen. Sein Blick war mitfühlend und er tröstete sie, in dem er sich langsam zu ihr hinunter beugte. Er stoppte kurz vor ihrem Gesicht und überließ es ihr, den Kuss wahr werden zu lassen. Doch seine Nähe und seine Aura waren so überwältigend, dass sie nicht lange überlegen musste. Sie reckte den Kopf und überwand den kleinen Abstand, der noch zwischen ihren Gesichtern bestand. Seine Lippen waren weich und warm und gaben ihrem Druck leicht nach, als sie aufeinander trafen. Wegeblasen war alles andere in ihrem Hirn, als das Gefühl, das sein Kuss in ihr auslöste. Sie stieß fordernd die Zunge zwischen seine Zähne, wissend, dass sie kurz davor war, sich in seiner Leidenschaft zu verlieren. Sie erkundete ihn sanft und atmete ein, um seinen Duft bis tief in die Bronchien zu inhalieren. Sie ließ die Zunge weiter über das Rot seiner Lippen wandern, senkte aber sogleich wieder begierig den ganzen Mund darauf. Er genoss ihren Kuss sichtlich, aber drückte sie dann seufzend von sich weg, was sie in ihrem Rausch mit leichter Gegenwehr versuchte abzutun. Das Gefühlschaos in ihr, das ihm allein zu gehören schien, verlangte nach mehr, so vielem mehr. Aber seine Reglosigkeit verwirrte sie zusehends, brachte sie dazu, sich widerwillig zu unterbrechen und ihn fragend anzusehen. Seine Augen ruckten kurz nach vorn und Aurelia folgte seinem Fingerdeut. Die anderen hatten aufgehört sich zu unterhalten und es war mucksmäuschenstill im Wagen geworden. Row und Aiden starrten sie beide an. Row lächelte müde, sie hatte es ja sowieso schon geahnt, und ihr Gesicht spiegelte eine aufrichtige Freude für sie beide wider. Aidens Mund stand zuerst offen, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Er lachte eine Weile, sodass Row auf seinem Schoß durchgeschüttelt wurde und dann stieß er Viktor von der Seite an. „Hätt ich mir ja denken können, dass nur dein feuriger Bruder es irgendwann schaffen konnte, diesen Eisblock zu schmelzen!“ Viktor brummte nur unbestimmt.







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