The Life Shot - Teil 16

Autor: Yaksi
veröffentlicht am: 25.07.2012


|Fünfzehn|
- Planänderung

Die Tür fällt ins Schloss.
Ächzend lasse ich meine Schultasche auf den Boden fallen und strecke meinen Rücken. Ich fühle mich seltsam verspannt.
Mit einem Seufzen ziehe ich mir meine Jeansjacke aus und werfe einen prüfenden Blick in den kleinen Spiegel, der sich praktischerweise im Flur befindet.
Müde Augen starren mich an.
Ich taste mit meinen Fingern die dunklen Ringe ab, die seit geraumer Zeit nicht mehr verschwinden wollen und betrachte dann meinen Mund. Vom vielen nervösen Belecken sind meine Lippen schon ganz trocken und rissig geworden.
Ich erkenne mich selbst nicht mehr wieder.
Kopfschüttelnd wende ich mich von dem Spiegelbild ab und gehe die Treppe nach oben in das verwüstete Gästezimmer.
Großmutter Harriet ist anscheinend nicht zu Hause, ebenso Dad.
Ich bin also völlig allein. Und genau so fühle ich mich auch.
Ein resigniertes Seufzen entflieht meinen Lippen, als ich mich an den Schreibtisch setze. Mit einem Ruck öffne ich die Schublade und sehe den anonymen Brief.
Wieder denke ich über die Worte nach.
»Sei wie eine Wolke und schau dir die großen Zusammenhänge von oben an.«
Leichter gesagt, als getan.
»Eigentlich ist alles ganz einfach, Sidney.
Wehre dich nicht, sondern lass es zu.«

Lass es zu.
Ich starre die Worte an ohne sie wirklich wahrzunehmen. Mein Kopf scheint sich auf einmal zu füllen mit kuriosen Fragen, aber gleichzeitig fühle ich auch nur eine schwere Leere.
Lass es zu.
Eine seltsame Ruhe packt mich.
Ich blinzele verblüfft, starre die Worte weiterhin an und bemerke, wie sich mein Herzschlag verlangsamt. Passiert irgendetwas mit mir?
Lass es zu.
Habe ich mich noch unter Kontrolle? - Nein. Die habe ich schon längst verloren.
Sogar meinen Körper kann ich nicht mehr eigenständig kontrollieren.
Aber wenn ich so willenlos bin, wem gehöre ich dann? Wer hat mich in seinen Händen, in seiner Macht?
Lass es zu.
Meine Augen schließen sich von alleine.
Ich habe das Gefühl, die Dunkelheit saugt mich auf und lässt mich nicht mehr los. Stehe ich unter Trance?
Ein ungutes Gefühl beschleicht mich.
Die Sicherheit, die ich eben noch verspürt habe, ist mit einem Mal verschwunden. Stattdessen hat sie eine undefinierbare Angst hinterlassen.
Ich schlucke hart und presse die Lippen zusammen.
Gelähmt bin ich. Unfähig mich zu bewegen.
Doch da scheint mir auf einmal etwas in den Sinn zu kommen, ein klarer Gedanke. Ich halte inne und versuche ihn zu entfalten, ihn zu identifizieren.
Es kommt mir wie ein Rätsel vor.
Ich weiß die Antwort. Tief in meinem Inneren weiß ich sie.
Die Frage ist nur: Die Antwort auf was?
Sie ist zum Greifen nahe, als würde sie mir auf der Zunge liegen, nur ich komme nicht darauf.
Angestrengt denke ich nach.
Der Brief…der Traum…Ist es wegen…? Kann ich etwa…?
Ich–
Das mittlerweile nervige Lied von ›Of Monsters and Men‹ mit ihrem Song »Little Talks« trällert mir entgegen.
Abrupt reiße ich die Augen auf.
Verwirrt schaue ich mich um und ziehe anschließend verärgert die Augenbrauen zusammen, als ich bemerke, dass mein Handy gerade auf sich aufmerksam macht.
Dabei hatte ich die Antwort doch beinahe…
Der Anrufer legt auf und eine bedrückende Stille kehrt ein.
Ich seufze und atme tief ein und aus.
Keine zwei Sekunden später fängt mein Handy erneut an, das Lied von der Band zu spielen.
Genervt erhebe ich mich und schnappe mir mein Mobiltelefon, welches vibrierend auf meinem Nachttisch tanzt.
Die Nummer ist mir nicht bekannt.
„Hallo?“, melde ich mich wenig freundlich und setze mich auf mein Bett.
Unruhig fahre ich mir durch die Haare und werfe einen skeptischen Blick auf den Brief, welcher nun achtlos auf meinem Schreibtisch liegt.
„Hallöchen, Sidney!“, flötet mir eine vertraute Stimme entgegen.
Verwundert hebe ich die Augenbrauen. „Leona?“
„Na, wer denn sonst?“, höre ich ihre gespielt beleidigte Stimme.
Ich runzele die Stirn. „Was ist los?“
„Ich habe eine kleine Überraschung für dich“, meint sie und ich kann mir ihr schelmisches Grinsen nur zu genau vorstellen.
„Eine Überraschung?“, wiederhole ich und ziehe irritiert eine Augenbraue hoch.
Es kommt mir komisch vor, dass Leona so geheimnisvoll tut.
Sonst ist sie doch immer sehr direkt.
„Was hältst du davon, wenn ich dich in einer Stunde abhole?“, fragt sie.
„Wieso solltest du das tun?“
Leona stöhnt genervt. „Das ist der Sinn dabei, Siddy. Es ist eine Überraschung. Da kann ich dir doch nicht verraten, warum ich das tue“
Ich bin skeptisch. „Und warum habe ich so ein ungutes Gefühl?“
„Vielleicht hast du schlecht gegessen und bekommst nun Bauchschmerzen. Das kann jedem Mal passieren“, antwortet Leona.
Ich verdrehe die Augen.
Da kommt mir auf einmal ein Gedanke in den Sinn, der mich erschrecken lässt.
Sie hat doch nicht etwa vor…?
„Ich hoffe, du willst mich nicht zu der Party von Nik und Noah schleppen“, sage ich düster.
Leona lacht schelmisch. „Zieh dir was Hübsches an!“
Ich reiße die Augen auf. „Leona–!“
Doch da hat sie schon aufgelegt.
Einfach so.
Ich schnaube verächtlich und werfe wütend mein Handy auf mein Kissen.
Wenn sie glaubt, ich werde so einfach mitkommen, dann kann sie sich das aber gehörig abschminken!

**
Das rote Lämpchen meiner Kamera leuchtet mir entgegen.
- Beinahe warnend.
„Wahrscheinlich sollte ich mein Testament schreiben“, meine ich und seufze tief.
Nervös fummele ich mit meinen Händen an meinen Ring, welchen ich mir um den Finger gesteckt habe und presse fahrig die Lippen aufeinander. Leider kann ich nicht verhindern, dass mein Blick jedes Mal zu der Uhr schweift, die verheißungsvoll an der Wand hängt.
Mein Herz pulsiert aufgeregt gegen meine Brust.
„Das wird ein Desaster werden“, prophezeie ich und lache bitter auf.
Wieder wallt die Wut in mir hoch. Wenn Leona hier auftaucht, kann sie sich auf eine gewaltige Standpauke gefasst machen!
Doch mein Zorn ist schwächer geworden. Wurde durch ein anderes Gefühl überbedeckt: Angst, Aufregung. Nervosität.
„Ich bin mir sicher, dass die Zwillinge mich nicht freiwillig eingeladen haben. Das glaube ich einfach nicht“, drücke ich meine Bedenken aus. „Mit Sicherheit ist das eine von Leona‘s tollen Ideen gewesen. Vielleicht steckt auch Amy noch mit dahinter. Oder Kyle. Oder beide“
Ich fahre mir durch die Haare, stocke jedoch, als mir wieder einfällt, dass ich somit meine Frisur ruiniere.
Party.
Ich war noch nie auf einer Feier. Das Wort ist mir total fremd.
Alles was ich damit in Verbindung bringe, sind betrunkene Teenager, die andere beeindrucken wollen, zuckersüße Flirtereien, hirnlose Wetten und peinliche Blamagen.
Zumindest werden die meistens Party so oder ähnlich in Büchern oder Filmen beschrieben.
Ich schalte die Kamera aus und erhebe mich von dem Stuhl.
Abermals werfe ich einen prüfenden Blick in den Spiegel, der ja nun seit heute Morgen zerstört ist. Aber die einzelnen Glasscherben, die überlebt haben, geben mir ein eindeutiges Bild.
Ich war mir unsicher mit der Kleiderwahl, habe mich aber schlussendlich für eine enge Jeanshose und eine weiße Bluse entschieden. Wahrscheinlich werde ich die einzige Person sein, dessen Outfit keinen Ausschnitt besitzt und somit der einer Nonne ähnelt. Den Kragen habe ich nämlich bis nach oben zugeknöpft.
Aber ich habe keine bessere Kleidung. Und außerdem - ich will mich schließlich für niemanden aufbrezeln.
Ich zucke zusammen, als es an der Tür klingelt.
Ein weiterer Blick auf die Uhr verrät mir, dass Leona fünf Minuten zu spät ist. Noch einen letzten prüfenden Blick werfe ich in den Spiegel.
Zwei vordere Strähnen meiner braunen Haare habe ich mit einer Spange an meinen Hinterkopf befestigt. Als Fußbekleidung habe ich mich nur für einfache, schwarze Stiefeletten entschieden.
Hastig schnappe ich mir meine Tasche und renne die Treppe nach unten, soweit mir das mit den Schuhen möglich ist.
Aus der Küche höre ich die Stimme meines Vaters, der seit einer halben Stunde von seiner Arbeit wieder da ist.
„Fährst du schon los?“, fragt er verwundert.
Eilig streife ich mir meine Jacke über.
Als ich Papa vorhin mit hochrotem Kopf von meinem Vorhaben erzählt habe, war er erstaunt, aber seltsamerweise nicht abgeneigt gewesen.
„Leona nimmt mich mit!“, erwidere ich und öffne die Haustür.
Der genannte Teufel steht vor mir mit einem gehässigen Grinsen.
„Tschüss!“, rufe ich einmal durch das Haus, ehe ich die Tür hinter mir zuknalle und mich unter den abschätzenden Musterungen von dem schwarzen Lockenkopf winde.
Obwohl ich mir vorgenommen habe, Leona eine Standpauke zu predigen, kann ich nicht anders, als mir unsicher auf die Unterlippe zu beißen.
Baff sieht sie mich an.
„Du weiß aber schon, dass wir auf eine Party gehen“, sagt sie und beäugt mich skeptisch.
Ungeduldig fuchtele ich mit meinen Händen. „Können wir los?“
Als ich Anstalten mache, mich an ihr vorbei zu zwängen, hält sie mich auf.
„So kannst du nicht gehen“, beschließt sie und schüttelt den Kopf, als könne sie nicht glauben, was sie sieht.
Ich seufze genervt. „Willst du mit mir ernsthaft ein neues Outfit zusammenstellen? Das ist meine beste Kleidung!“
Sie grinst. „Lass mich nur ein paar Details verändern“
Und schon reißt sie mir meine Spange aus den Haaren und wuschelt mir durch die braune Mähne. Empört hebe ich die Hände.
„Das tut weh!“, beschwere ich mich.
Leona lässt ihre Hände sinken und betrachtet ihr Werk mit Triumph. Auf meinem Kopf muss sich nun ein einziges Vogelnest befinden. Zumindest fühlt es sich so an.
„Schon viel besser“, meint sie und ihre Augen schweifen nun weiter nach unten. „Aber…“
Sie deutet auf meine weiße Bluse.
„Wir gehen nicht ins Kloster, Sidney“
Tadelnd schüttelt sie den Kopf und schnalzt verächtlich mit der Zunge. Auf einmal wird mir die Sache irgendwie unangenehm. Habe ich wirklich ein so schwaches Talent für Styling?
Den abschätzenden Blicken von Leona zu urteilen - ja.
„Die Bluse hat einen schönen Schnitt“, sagt sie und legt nachdenklich den Kopf schief. „Aber warum knöpfst du sie bis zum Kragen hoch? Das sieht ja furchtbar aus!“
Und schon sind ihre Hände bei mir.
Flink öffnet sie einen Knopf nach dem anderen, bis ich das Gefühl habe, ihr gleich meine Brüste vollends zu zeigen.
„Na also! Zeig doch, was du hast, Sidney. Das kannst du dir ruhig erlauben!“, meint Leona schließlich und sorgt mit ihren Worten dafür, dass meine Wangen sich rot färben.
Sie hat meine Bluse so weit aufgeknöpft, dass man den Ansatz meines Busens sehen kann - und ja, irgendwie fühle ich mich ein wenig nackt. Einen so tiefen Ausschnitt habe ich noch nie getragen.
Leona mustert mich erneut.
„Ich wusste gar nicht, dass du so große Brüste hast. Du könntest dir ruhig mal öfters erlauben, Kleidung zu tragen, die dies unterstreichen“, sagt sie und zwinkert verschwörerisch.
„Meinst du damit, ich soll jetzt jeden Tag wie ein Flittchen herumlaufen?“, feixe ich wutschnaubend.
Leona verdreht die Augen. „Du übertreibst, Sidney. Komm, steig in den Wagen ein“
Ich verkneife mir einen weiteren Kommentar und folge ihren Anweisungen.
Als meine Fahrerin sich hinter das Steuer setzt, schenkt sie mir ein breites Grinsen.
„Bereit für eine lange Nacht?“, fragt sie scheinbar euphorisch.
Brummend verschränke ich die Arme vor meiner Brust. „Nicht wirklich“
Sie zuckt mit den Schultern - und gibt Gas.


Als wir vor dem Haus halten, werfe ich beinahe automatisch einen Blick zu meinem alten Zuhause, direkt daneben.
Es nimmt langsam wieder Gestalt an, die zerstörten Wände wurden bereits ersetzt, es fehlen nur noch die letzten Grundschliffe. Ich bin mir sicher, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis Papa und ich wieder dort einziehen können.
Leona flucht leise vor sich hin.
Die Straße ist vollgeparkt mit verschiedenen Autos, so dass sie Schwierigkeiten hat, eine freie Lücke zu finden.
„Wie viele Leute haben die denn eingeladen?“, frage ich entrüstet.
Ich recke meinen Hals, um einen Blick auf das Haus zu werfen, während der schwarze Lockenkopf den Wagen wendet.
Leona reckt ebenfalls ihren Hals, aber nur, um sich zu vergewissern, kein anderes Auto zu rammen.
Konzentriert fährt sie Rückwerts in eine kleine Parklücke.
„So um die dreißig“, erklärt sie beiläufig und beleckt sich fahrig die Lippen.
Ich hebe die Augenbrauen und versuche erneut einen Blick auf das Haus zu erhaschen. Die Haustür wird abermals geöffnet und wieder geschlossen, Menschengruppen kommen zum Vorschein und verschwinden wieder, bleiben manchmal auch ein paar Minuten draußen, um sich eine Zigarette zu gönnen.
Ich rümpfe die Nase.
„Kommt mir so vor, als wären dort mehr Leute“, meine ich und schnalle mich schließlich ab, als Leona endlich den Motor ausschaltet.
Sie wirft mir ein wissendes Lächeln zu. „Ist doch logisch. Jeder nimmt immer noch eine Begleitung mit, vielleicht sogar noch seine ganze Clique“
„Dann weiß man ja gar nicht, mit wie vielen Leuten man rechnen soll“, bemerke ich stirnrunzelnd.
Leona verdreht die Augen. „Das ist doch unwichtig. Man kann sich am nächsten Morgen so oder so nur an die Hälfte der Gäste erinnern“
Ich steige mit ihr aus und verspüre augenblicklich ein bedrückendes Gefühl.
Ja, ich bin nervös.
„Ich habe gar kein Geschenk“, fällt mir siedend heiß ein.
Die Erde-Elementträgerin macht eine wegwerfende Handbewegung. „Ich auch nicht. Allein unsere Anwesenheit ist Geschenk genug“
Ich beiße mir auf die Unterlippe. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt erwünscht bin…“
Leona wirft mir einen skeptischen Seitenblick zu, während wir auf das Haus zu laufen.
Fragend hebt sie eine Augenbraue.
„Wieso solltest du nicht erwünscht sein? Die beiden mögen dich doch!“, meint sie.
„Naja…“ Ich kratze unruhig meine Oberarme. „Mit Noah habe ich seit dem Vorfall in der Haus-Ruine nicht mehr gesprochen und Nik…ist auch genervt von mir“
Leona verdreht die Augen. „Mach dir keinen Kopf, Sidney. So sind die Sears-Zwillinge nun mal. Wenn ihnen etwas nicht passt, machen sie einen Rückzieher oder sind beleidigt“
Sie zieht mich weiter zum Haus, direkt zu der Höhle des Löwen.
Mein Herz klopft aufgeregt gegen meine Brust und abermals presse ich meine Lippen zusammen.
Ich kann gedämpfte Musik hören, lautes Gelächter und viele Stimmen, die locker miteinander plaudern.
Automatisch verkrampfe ich mich noch ein wenig mehr. Der Gedanke, dass ich jetzt gleich ein Haus betreten werde, wo sich überwiegend fremde Leute befinden, gefällt mir nicht.
Leona greift zu der Türklinke und drückt sie hinunter. Als sie die Haustür öffnet, schweben uns die Klänge eines mir bekannten Liedes entgegen.
»Wrong« von der Männerband ›Depeche Mode‹.
Falsch.
Und genau das denke ich: Es war eine falsche Entscheidung.

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Ich versichere euch, dass der nächste Teil auf jeden Fall interessanter wird, das
war jetzt nur so ein „Brücken“-Kapitel. ;-)

& wieder bedanke ich mich für eure Kommis, ihr seid wirklich klasse! :D :-*
Liebe Grüße
Yaksi






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