The Life Shot - Teil 8

Autor: Yaksi
veröffentlicht am: 17.05.2012


|Sieben|
- Unterschätzt

›Montag‹

Normalität.
Allmählich beginne ich zu zweifeln, ob ich dieses Wort und dessen Bedeutung noch zum Beschreiben meines Lebens benutzen darf. Ich habe das Gefühl, die Welt und mein Dasein aus einer neuen Perspektive zu sehen.
Die Grenzen scheinen sich uneinig geworden zu sein.
Seufzend ziehe ich mir mein verschwitztes Top aus und fahre mir erschöpft mit dem Handrücken über die Stirn. Die Mädchen um mich herum haben sich in belanglose Gespräche vertieft, während ich ein wenig abseits meinen Gedanken nachhänge.
Mein Volleyball-Team ist wirklich nett; in meiner Gegenwart haben sie eine positive Attitüde und lächeln mir zaghaft zu, als hätten sie Angst, mich zu verärgern. Ihre freundliche Art hat mich am Anfang stutzig gemacht, aber ich bin ihnen dankbar, dass sie mich nicht mit Verachtung bestrafen.
Als ich mit dem Umziehen fertig bin, gehe ich zusammen mit dem Kapitän der Mannschaft aus der Umkleidekabine. Wahrscheinlich sieht sie es als ihre Pflicht an, als Vertreter der Mannschaft mich zu begleiten und beiläufig ein paar Fragen zu stellen.
„Wie findest du St. Michaelis und die High School bis jetzt?“, fragt Vanessa neugierig.
Ich hebe die Augenbrauen und puste mir grübelnd eine braune Strähne aus dem Gesicht. Schwierige Frage, wobei sie so einfach klingt.
„Bis jetzt habe ich noch keine schlechten Erfahrungen gemacht“, meine ich mit einem aufgesetzten Lächeln und bete, dass sie mir meine Lüge abnimmt.
„Hoffen wir, dass es so bleibt“, erwidert Vanessa optimistisch und rückt ihre Tasche zurecht.
Ich unterdrücke ein verächtliches Schnauben.
Meine Zukunft kommt mir auf einmal so abstrus vor. Ich habe mir mein Leben immer ganz…normal ausgemalt. Einen schönen Beruf, den besten Ehemann der Welt, glückliche Kinder, ein Haus am Meer.
Die üblichen Wünsche eben.
Doch seit Samstagnachmittag sind all meine Hoffnungen und Träume unvermittelt in Luft aufgegangen. Ich bin mir unsicher, wie sich mein Leben im Zusammenhang mit der neuen Information verändern wird.
Dass ich magische Fähigkeiten besitze, die es nicht geben dürfte.
Dass ich - angeblich - das fünfte Element bin.
Ich kann immer noch nicht glauben, dass das stimmen soll. Weshalb ich Amy und den anderen drei Jugendlichen auch noch einmal deutlich gemacht habe, mir Zeit zum Verdauen und Nachdenken zu geben.
Unsicher werfe ich Vanessa einen Seitenblick zu, die interessiert den Jungs vom Football-Team zuschaut, welche gerade ihr Training beendet haben und nun erschöpft zu den Umkleiden schlürfen.
Irgendwie beneide ich das schwarzhaarige Mädchen. Sie kann sich mit »normalen« Problemen auseinandersetzen, sich Gedanken um ihr Outfit machen oder sich über verwischte Schminke ärgern. Sie darf einfach nur Mädchenprobleme besitzen, während ich noch obendrein mich ein wenig mit dem Surrealen der Welt beschäftigen muss.
Großartig.
„Schau mal“, ertönt ihre entzückte Stimme. Mit einem Kopfnicken deutet sie auf das Footballfeld. „Ist der nicht heiß?“
Fragend folge ich ihrem Blick, der auf einen Dutzend Jungs geheftet ist, die es sich auf der Zuschauertribüne gemütlich gemacht haben.
Ich runzele die Stirn. „Wen meinst du?“
Sie verdreht lächelnd die Augen. „Der, mit den blonden Haaren - Oh, er dreht sich gerade zu uns um!“
Schüchtern lächelt sie dem Blondschopf zu, dessen Blick sich unverwandt in meinen bohrt. Die Härte und Kälte in seinen braunen Augen kommen mir bekannt vor und lösen unangenehme Erinnerungen in mir aus.
Mein Puls geht um einiges schneller und mit zusammengepressten Lippen schaue ich weg.
„Ich mag Nik“, plaudert Vanessa ungehalten weiter, während wir an dem Sportplatz vorbeilaufen. „Obwohl er ziemlich grob und arrogant ist, hat er irgendwie etwas…Geheimnisvolles, findest du nicht?“
Ich schlucke hart und ringe mich zu einem Lächeln. „Nicht mein Typ“, stoße ich hervor.
Vanessa zuckt mit den Schultern. „Viele mögen ihn nicht. Aber ich bin mir sicher, dass hinter Nik’s harter Schale, sich auch ein weicher Kern befindet“
Verblüfft schaue ich das schwarzhaarige Mädchen an. Ihre Naivität ist wirklich unglaublich.
„Bist du nicht mit seinem Bruder befreundet?“
Überrumpelt hebe ich die Augenbrauen. „Ähm…“
„Noah Sears ist sein Zwillingsbruder, wusstest du das nicht?“
„Doch, doch!“, wehre ich hastig ab. „Wir sind aber nur gute Bekannte“
„Ach so“, in ihrem Blick kann ich Enttäuschung erkennen. Doch schnell überholt ihre gute Laune sie wieder. „Naja, wir sehen uns dann morgen, bis dann!“
Sie verabschiedet sich von mir mit einer kurzen Umarmung und geht dann zu dem allgemeinen Schulparkplatz, wo sie in einen alten, roten Wagen steigt.
Ich stoße die Luft aus.
Ein wenig unschlüssig bleibe ich erst mal stehen und schaue mich um. Schon seit einer Woche gehe ich nun auf diese High School. Und während dieser Zeit hat sich so einiges verändert.
Seufzend setze ich mich in Bewegung, heute werde ich nicht mit Amy nach Hause fahren, denn vorerst halte ich Abstand zu ihr und den anderen. Ich bin heute Morgen mit dem Schulbus zur High School gefahren, doch jetzt auf dem Rückweg scheint mir ein Spaziergang angenehmer.
Ich folge dem kurzen Strom der Schülermassen und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Unwillkürlich denke ich an die Zeit in Schottland zurück.
Eine beste Freundin wäre jetzt schön.
Ich erinnere mich an ein Lied, welches Carmen und ich immer wieder gerne gehört haben. An ereignislosen Nachmittagen, wo wir uns einfach immer wieder der Musik hingaben, haben wir uns gerne Songs von »Sóley« angehört – eine eher unbekannte Sängerin aus Island mit einer zarten Stimme, die zum Träumen anregt.
Ohne dass ich es will, erfüllt mich ein Ohrwurm von dem Lied »Blue Leaves«.
Leise summe ich zu der Melodie und beobachte mit trägem Interesse das Geschehen um mich herum.
Meine Gedanken schweifen wieder ab, diesmal zu einem Problem, welches ich einfach nicht aus meinem Kopf bannen kann.
Was ist, wenn die Vierer-Clique tatsächlich die Wahrheit gesagt hat? Wenn wirklich ungeahnte Kräfte in mir schlummern, die erst noch entdeckt werden müssen?
Nachdenklich taste ich meine Umgebung mit den Augen ab. Ich habe mich für einen kleinen Umweg an der Promenade entschieden, wo es vor Tourismus nur so strotzt.
Eine eigenartige Idee hat in meinem Kopf angefangen, Gestalt anzunehmen. Nervös belecke ich meine Lippen.
Ein gewöhnlicher Mann mit ergrautem Haar fällt mir ins Auge. Er ist vielleicht ein paar Jahre älter als mein Dad und wahrscheinlich ein Besucher dieser Stadt. Seine Unauffälligkeit gefällt mir.
Ich wage es tatsächlich, den Worten von Noah und seinen Freunden Glauben zu schenken – zumindest für diesen Moment – und frage mich, wie ich meine Fähigkeiten anwenden könnte.
Ich bin das Element Geist. Theoretisch könnte ich doch einfach in die Köpfe der Menschen eindringen, oder? Was sonst, soll dieses Element für Kräfte hervorrufen?
Mein Herzschlag geht um einiges schneller und ich fixiere den Mann nun mit meiner vollkommenen Aufmerksamkeit. Zweifel huschen kurz durch meinen Kopf – Was tue ich hier eigentlich? Könnte ich den Mann womöglich verletzen? –, doch hastig werfe ich diese beiseite.
Ich konzentriere mich auf die unwissende Person, welche neugierig ein Schaufenster zur Kenntnis nimmt. Mein Atem beruhigt sich plötzlich, ich habe das seltsame Gefühl, mit einer unsichtbaren Hand nach dem Geist des Mannes zu greifen.
Ein unvermittelter Ruck geht durch meinen Körper, eine Art Stromstoß überrascht mich. Auf einmal tauchen ungeheuer viele Stimmen in meinem Kopf auf, allesamt von dem Mann, welchen ich fokussiere. Keuchend schwanke ich zurück.
»Ein sehr schönes Kleid«
»Wird es meiner Frau gefallen?«
»Sie hat übermorgen Geburtstag«
»Wie viel Geld habe ich noch in meinem Portemonnaie?«
»Ich muss noch einkaufen gehen«
Es ist unglaublich, an wie viele Dinge ein Mensch gleichzeitig denken kann! Aber noch viel konfuser ist, dass ich mich gerade tatsächlich in dem Kopf des Mannes befinde.
»Was ist das?«
»Woher kommt die Stimme?«
»Bilde ich mir das nur ein?«
»Wahrscheinlich«
Überrascht schnappe ich nach Luft. Er kann mich hören! Der Mann kann mich hören!
Ich sehe, wie er sich stirnrunzelnd umdreht und die Gegend mit seinen Augen abtastet. Mein Herz setzt plötzlich einen Schlag aus.
Wie komme ich hier wieder raus?, frage ich mich von Panik ergriffen.
»Wer ist da?«
»Bin ich jetzt komplett verrückt?«
»Ich habe Angst«
Seine ganzen Gefühle und Eindrücke, die auf ihn einbrechen, überrumpeln mich. So viele Stimmen gleichzeitig befinden sich in meinem Kopf, alles ist durcheinander!
Starke Kopfschmerzen plagen mich auf einmal, mit zusammengekniffenen Augen fasse ich mir an den Kopf. Die besorgten und auch fragenden Gesichter der Passanten ignoriere ich.
Geh weg!
Geh weg!, brülle ich in meinem Kopf und presse vor Schmerz den Kiefer zusammen. Mein vermeintliches Opfer scheint nicht weniger Qualen zu erleiden, denn auch der Mann stützt sich erschrocken an einer Hauswand ab.
„Verschwinde!“, zische ich leise. Dabei weiß ich noch nicht einmal genau, was ich meine. Die Kopfschmerzen? Oder doch vielmehr die Erkenntnis, dass die vier Jugendlichen die Wahrheit gesagt haben?
Ich bin das fünfte Element.
Oder ich bin verrückt.
Womöglich auch beides.
Mit einem Ruck befinde ich mich wieder alleine in meinem Kopf, die Stimmen des Mannes sind verschwunden. Atemlos taumele ich zurück und klammere mich an einer Straßenlaterne fest.
Plötzlich gibt es entsetzte Aufschreie und lautes Gemurmel.
„Wir brauchen einen Krankenwagen!“, ertönt eine gehetzte Stimme.
Zwischen der sich bildenden Menschenmasse kann ich einen scheinbar bewusstlosen Mann erkennen, der mit geschlossenen Augen und ausgebreiteten Armen auf dem Asphalt liegt.
Ich keuche vor Schreck.
Es ist der Mann, in dessen Bewusstsein ich eingedrungen bin!
Ein Zittern erfasst mich und entsetzt halte ich mir eine Hand vor dem geöffneten Mund. Dabei schmecke ich auf einmal Blut.
Verwundert taste ich meine Lippen ab, wobei ich feststelle, dass ich Nasenbluten bekommen habe.
Ich schüttele fassungslos den Kopf.
Was habe ich nur getan?!
Mit aufgerissenen Augen schlucke ich schwer und beschließe, so schnell wie möglich Abstand zu diesem Trubel zu gewinnen. Als ich mich umdrehe, kann ich ein paar Meter entfernt ein mir vertrautes Gesicht erkennen.
Zwei braune Augen blitzen mich voller Schalk an, ein gehässiges Schmunzeln benetzt die Lippen von dem Blondschopf, den ich vor ein paar Minuten noch auf dem Sportplatz gesehen habe.
Ich weiche zurück.
Er muss bemerkt haben, was ich gemacht habe. Nik weiß von dem Geheimnis seines Bruders, von dem Elementkreis. Er weiß von mir.
Tadelnd schüttelt er den Kopf und schnalzt verächtlich mit der Zunge. Ich starre ihn mit großen Augen an.
„Du solltest vorsichtiger mit deiner Gabe sein“, meint er und kommt auf mich zu.
Wie erstarrt bleibe ich stehen, eine Lawine aus Schuldgefühlen überrollt mich. Ich drohe in ihr zu versinken.
Er legt den Kopf schief und mustert mein geschocktes Gesicht. Sein Lächeln wird eine Spur verzerrter. „Probieren geht über studieren. In deinem Fall würde ich lieber letzteres bevorzugen“
Ich erwidere nichts.
„Hast du dazu nichts zu sagen? Wer weiß, vielleicht stehe ich gerade einem Mörder gegenüber, weil du soeben einen Menschen getötet hast“
Scharf ziehe ich die Luft ein. Eine Welle der Wut wallt in mir auf. „Ich habe niemanden getötet!“, fauche ich leise, bedacht darauf, dass niemand mich hört außer Nik.
Dieser lacht leise und schaut mich amüsiert an, als ich einen kurzen, prüfenden Blick zu der Menschenmasse werfe. „Habe ich dich nicht noch extra gewarnt?“, fragt er.
„Du meinst im Wald?“ Ich schnaube verächtlich.
„Wäre wohl besser gewesen, wenn du auf mich gehört hättest“, meint er und lächelt süffisant.
„Du hättest mich beinahe umgebracht“, erwidere ich gepresst.
„Glaub, was du willst, Liebes“, sagt er mit rollenden Augen. „Anscheinend werde ich dich so oder so nicht überzeugen können“
„Richtig“, ich beiße mir auf die Unterlippe. „Aber eine Frage hätte ich noch“
Nik hebt selbstgefällig die Augenbrauen hoch. „Die da wäre?“
„Der Test. Ich verstehe einfach nicht, was du an mir testen wolltest“
Nik verdreht wieder die Augen. Er schaut sich kurz um, ehe er mich auf einmal am Ellen bogen packt und mit sich zieht.
Entrüstet versuche ich mich aus seinem Griff zu befreien. „Lass mich los!“, zische ich. „Was hast du vor?“
„Wir sollten das Gespräch woanders verlegen“, meint er knapp und schleift mich zu einem silbernen Auto, den ich schon von Noah kenne.
„Das ist ja wohl ein Witz!“, erwidere ich aufgebracht. „Das kannst du schnell vergessen, Nik! Ich steige nicht mit dir alleine in ein Auto!“
Eine Mischung aus Entsetzen, Wut und auch Angst packt mich.
Ich bemerke, wie der Blondschopf ein wenig ungeduldig wird.
„Dann werden deine Freunde wohl oder übel von deinem kleinen Akt von eben erfahren müssen“, meint er leichthin, während er den Wagen per Fernbedienung öffnet. „Wie werden sie wohl reagieren, wenn sie wissen, dass du jemanden umgebracht hast?“
Ich ziehe scharf die Luft ein. „Ich habe den Mann nicht getötet“, sage ich noch einmal nachdrücklich.
Nik öffnet die Beifahrertür und schubst mich grob in das Auto.
Als er sich hinter das Lenkrad setzt, verschließt er mit einem Knopfdruck die Türen. Eingeschnappt verschränke ich die Arme vor der Brust.
„Wen werden sie wohl mehr glauben?“, fahre ich fort. „Dir oder mir?“
Der Blondschopf startet seinen Wagen. „Interessante Frage“, meint er, ein wenig abgelenkt von dem Verkehr.
Ein Krankenwagen kommt uns entgegen. „Ein Frage, die wohl offensichtlich ist“, füge ich hinzu.
Er wirft mir einen kurzen Seitenblick zu, ehe er sich wieder auf das Autofahren konzentriert. „Mach nur weiter, Schätzchen. Fühl dich gut, weil du in diesem Fall gewonnen hast. Bei einer Sache kannst du dir aber sicher sein: Deine kleinen Freunde werden diesen Vorfall nicht auf die leichte Schulter nehmen“
Ich recke mein Kinn, sage jedoch nichts.
Er hat Recht. – Leider.
Wenn Amy, Kyle, Leona und Noah davon erfahren, kann ich mich auf Vorwürfe und Entsetzen gefasst machen.
Ich presse die Lippen zusammen und schaue stur aus dem Fenster.
„Das ist Kidnapping“, bemerke ich.
Ich bin froh, dass Nik auf diesen Wechsel eingeht. Meine aufgebrauchte Wut lässt mich wieder klar denken und ich entsinne mich, was gerade wirklich passiert ist.
„Ich würde es vielmehr als einen Akt des Helfens beschreiben“, meint er und grinst verschmitzt.
„Inwiefern hilfst du mir denn?“, frage ich hochmütig und hebe eine Augenbraue.
Er kramt ein Taschentusch aus seiner Hosentasche und hält es mir entgegen. „Angefangen mit den kleinen Dingen“, erwidert er.
Mürrisch nehme ich das mir dargebotene Schnupftuch an und halte es an meine blutende Nase.
„Und wohin fahren wir?“, frage ich entnervt.
„Weg“
„Wie meinst du das?“, ich runzele die Stirn.
Ein kleines Lächeln umspielt seine Lippen. „Ich lade dich zum Essen ein, während wir ganz sachlich über anormale Dinge sprechen. Was hältst du davon?“
Ich brumme.
„Sehr schön“, meint Nik. „Deine Begeisterung gefällt mir“
Ich knirsche mit den Zähnen und versuche mein wild pulsierendes Herz zu ignorieren. Dieser Tag kann doch gar nicht mehr schlimmer werden.
Oder?







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