Eine etwas andere Liebesgeschichte

Autor: Elena
veröffentlicht am: 13.01.2012


Ich, 6. Klasse, 7:30 Uhr

Ich gehe durch die schwach beleuchteten Gänge meiner Schule, leise, ich will die Stille nicht stören. Wieder bin ich zu spät. Jetzt schon weiß ich, wie die anderen reagieren werden. Jetzt schon, vor der Klassentüre, werde ich wütend. Doch es ist eine Wut, die abgeriegelt ist. Langsam öffne ich die Türe. Schon fangen die einen an zu kichern, die anderen rufen: „Zuuu spääääät!“ Leise entschuldige ich mich beim Lehrer, ich habe verschlafen. Papierkugeln treffen mich, heute erstaunlicherweise nur fünf. Ich sehe mich um. Marco ist nicht hier, darum also nur fünf. Ich setze mich an meinen Tisch, ich habe keinen Banknachbarn. Ein Kaugummi trifft meinen Kopf, aber ich merke es kaum. Ich sehe meine Klassenkameraden, fröhlich, wie jeden Tag. Sie kichern, flüstern. Ich weiß, über was. Die Wut, die in mir steckt, fängt an sich zu zeigen. Jeden Tag geht es so, jeden. Ich habe es aber immer geschafft mich zu beherrschen. Heute ist etwas anders. In der Pause stehe ich auf und gehe aufs Klo. Wie in jeder anderen Pause auch. Ich höre das Gekreische, die Rufe, diese Rufe, die mir Hass zuwerfen. Es tut weh, aber man muss sich daran gewöhnen. Ich zeige meine Gefühle nicht mehr, alles ist eingesperrt, in mir drin. Heute ist sie besonders groß. Meine Wut. Anders als sonst. Ich laufe schneller auf die Toilettentüre zu, ich muss mich beherrschen. Puh. Geschafft. Fünf Minuten. Ich stehe wieder auf. Diese fünf Minuten waren anders, als alle je zuvor. Immer noch koche ich innerlich. Ich schlage gegen die Türe. Nichts verändert sich. Ich muss raus, der Lehrer ist wahrscheinlich schon längst da. Mit verkrampften Händen, zusammengepressten Mund und stark gesenktem Blick betrete ich die Klasse und setze mich so schnell ich kann. Es ist alles neu. Was ist heute nur los mit mir? Langsam sehe ich auf. Ich erblicke Thomas, Thomas, der früher mein „Freund“ war. Mir wird richtig heiß. Fast platze ich, so kommt es mir auf jeden Fall vor. Ein Bild dringt in meine Gedanken. Kein schönes Bild. Ich sehe mich selbst, wie ich Thomas gegen die Wand drücke, so stark ich kann. Ich drücke seinen Hals zu. Stark. Er bekommt keine Luft, kein bisschen. Ich lächle. So, dass es keiner sieht. Das hat mich beruhigt. Schon im nächsten Moment schrecke ich aus meinen Gedanken. Erst jetzt wird mir bewusst, an was ich gedacht habe. Verwirrt sehe ich auf. Der Lehrer redet noch immer. Leiert monoton seinen Text herunter. Mein Herz klopft. Wie kann ich so etwas nur denken! Plötzlich durchkommt mich ein leichtes Zittern. Und ich sehe ein weiteres Bild. Wieder ich selbst, wie ich dabei bin, Daves Gesicht zu verunstalten. Mit einem Messer sein Gesicht zu zerritzen. Und es erleichtert mich, es erleichtert mich, wie nichts zuvor. Ich kichere leise. Es hilft mir, mich zu entspannen... Stopp! Ich bin kein Mörder! Ich bin nicht jemand, der anderen weh tut! Ich kämpfe gegen diese Gedanken. Es ist nicht schwer. Noch nicht. Wie soll das weitergehen? Was passiert, wenn ich mich nicht mehr beherrschen kann?


Freitag, drei Tage später, 12:15 Uhr

Als Erste verlasse ich die Klasse. Ich ziehe mich schnell an und bin schon draußen.Wie jeden Tag muss ich mich beeilen, denn ich weiß, dass Marco den gleichen Weg nimmt. Ich laufe los, mit großen Schritten. Gelegentlich sehe ich mich um, aber niemand kommt. Beruhigt werde ich langsamer. Ich stecke mir die Stöpsel in die Ohren und höre lautstark Jimi Hendrix. Fast bin ich zu Hause. Erleichtert hole ich meinen Schlüssel raus und schließe das verrostete Gartentor auf. Ich erstarre, als mir plötzlich jemand auf die Schulter tippt. Ich stecke meine Stöpsel in die Tasche und drehe mich langsam um. Es ist Marco. Marco, mit dem alles begann.
Marco (mit sarkastischer Stimme): „Hallo Natalie! Wieso hast du nicht auf mich gewartet? Dann hätten wir uns sicher super unterhalten können.“
Natalie: „Lass mich in Ruhe! Hast du nichts besseres zu tun?!“
Marco: „Eigentlich nicht, nein. Aber wie du meinst... Dann geh doch lernen und hör deine scheiß Musik!!!“
Ich fange an innerlich zu kochen. Wiedereinmal. Ich habe inzwischen Angst davor, aber ich kann mich überhaupt nicht zurückhalten. Wieder durchzuckt mich ein schreckliches Bild. Und es hilft. Aber ich merke, dass es eigentlich nicht mehr genug ist.
Seine Hand schnellt nach vorne um mich nach hinten zu schubsen. Aber diesmal bin ich schneller. Mit links packe ich seinen Arm und verpasse ihm mit rechts einen harten Schlag ins Gesicht. Sofort lasse ich wieder los und blicke entsetzt auf meine Hände. Noch nie habe ich jemanden geschlagen. Seine Nase blutet. Über seine schönen Lippen rinnt Blut. Aber ich drehe mich nur um und renne ins Haus. Ich höre noch wie Marco mit wütender Stimme ruft, dass ich das noch zurückbekommen werde... Es tut mir eigentlich leid... Nein! So etwas darf ich nicht denken, er hat es doch verdient!

Sonntag, 19:00 Uhr

Ich packe meine Schultasche. Englisch. Mathe. Religion. Biologie. Musik. Federschachtel. Spitzer. Küchenmesser. Was ist nur in mich gefahren. Aber ich packe es trotzdem ein. Irgendetwas hindert mich daran, es liegenzulassen. Die Wut fordert es. Und ich halte es auch nicht mehr aus. Vielleicht muss ich mich verteidigen. Vielleicht brauche ich es auch einfach so. Also, rein damit.

Montag, ein Tag später, 12:15

Ich laufe nach Hause. Nicht schnell und nicht langsam. Obwohl ich Angst habe. Gleichzeitig bin ich wütend. Ich weiß nicht, was stärker ist. Aber es wird sich herausstellen. In meinen Ohren dröhnt die Stimme von Paul McCartney. „HELP! ...“ Leise summe ich mit. Verzweifelt. Ich sehe nach hinten, wie Marco näher kommt. Sehe seine kräftigen Beine, die schneller werden. Ich bleibe stehen. Ich bin bereit. Ich kann das Messer in meiner Tasche fühlen. Scharf. Ich bin bereit. Oder bin ich verrückt? Ich bin verrückt! Natalie, beruhige dich. Du wirst nichts tun. Du musst dich beherrschen. Halte dich zurück und dir wird nicht viel passieren.
Er packt mich. Ohne mich zu begrüßen. Ohne etwas zu sagen. Er packt mich mit festem Griff. Ich fühle seine starken Arme und fühle Sehnsucht.
Natalie! Nein!
Er sieht mir tief in die Augen. Ich kann seine Wut sehen. Wut. Ja, ich kenne sie nur zu gut... Was für wunderschöne Augen er hat. Was für ein wunderbares Gesicht.
Ein Stich trifft mein Herz. Nein, lass das. Er hat sein Leben nicht verdient! Seine Hand holt aus und trifft meinen Bauch. Ein harter Schlag. Mir bleibt die Luft weg. Ich sacke auf den Boden, aber mache keinen Laut. Innerlich wird mir heiß. Ein zweiter Schlag. Ein dritter. Und viele weitere. Es tut weh, im Bauch und im Herz.
Was ist mit mir los! Er ist mein größter Feind. Er ist der Grund, wieso ich alleine hier stehe. Ich hasse ihn. Hasse ihn, wie niemand anderen. Ich schließe die Augen. Ich koche. Aber ich kann mich zurückhalten. Leise wimmere ich. Ich lasse es über mich ergehen. „Ich hoffe, du verstehst“, zischt er und ist weg. Fast hätte ich die Kontrolle verloren. Ich frage mich, ob ich das Messer benutzen hätte sollen. Was ich jedoch sofort wieder vergessen will. Einige Minuten bleibe ich liegen. Dann öffne ich meine Augen und stehe langsam auf. Mir tut alles weh, aber ich merke es kaum. Die Wut beschäftigt mich um einiges mehr.

Dienstag, 9:40, Klassenzimmer

Ich habe es keinem erzählt. Und werde es auch nicht. Wem auch. Es gibt ja niemanden.
Ich sehe zu Marco rüber. Er lacht laut. Ein wunderbares Lachen. Seine Zähne blitzen weiß in der Morgensonne. Nein! Ich meine, er hat das grausamste Lachen, das ich kenne... Der Lehrer lässt sich nicht ablenken. Ich kann sehen, wie Marco sein Leben genießt. Schon das macht mich ganz nervös und mir wird heiß. Ich gönne es ihm nicht, nein, auf keinen Fall. Ein Bild. Wie ich ihm mit meinem Messer in seinen Bauch steche. Und ein zweites Mal. Wie er bettelt, dass ich es lassen soll. Dem werde ich es zeigen. Und das denke ich ohne dabei vor mir selbst zu erschrecken. Es ist mir alles egal. Ich werde sowieso schon für verrückt gehalten.

Dienstag, 12:20 Uhr, Heimweg

Auf dem Weg nach Hause. Ich höre seine Schritte schon hinter mir. Also bleibe ich stehen. „Willst du noch was, Kleine?“, sagt er mit fester Stimme und schubst mich. Ich bleibe stumm. Er sieht mir in die Augen. Ich wette, er kann meine Wut sehen. Es scheint ihn aus der Kontrolle zu bringen, dass ich nichts sage. Er schubst mich noch einmal. Und ein zweites Mal, stärker. Unsere Blicke verlieren sich. Ich packe seine muskulösen Arme. Wir sehen uns tief in die Augen. Und wieder fühle ich unbeschreibliche Sehnsucht. Nach warmen, mich umschließenden Armen. Nach tröstenden Blicken eines Menschen, der mich gern hat, der mich liebt. Niemand hat schönere und warmherzigere Augen als er. Niemand.
Aber ich hasse ihn! Er soll in der Hölle schmoren!
Er schüttelt sich und macht sich los. Steht unentschlossen da. Was wohl in ihm vorgeht? Seine verwirrte Miene wechselt in einen entschlossenen, wütenden Blick.
„Lass das. Du solltest nicht hier an dieser Schule sein. Du wirst mein Leben völlig durcheinanderbringen, wenn du noch länger in meiner Nähe bist!“
Ich höre Verzweiflung in seiner Stimme. Ich verstehe nicht. Was meint er damit? Er soll mir lieber erklären, was er gegen mich hat!
Seine Stimme zeigt plötzlich wieder nur eines, Hass. „Du ruinierst mein Leben, verstehst du?!!“
Er wirft mich mit einem Stoß um, aber ich bin schnell, packe seine Hände und reiße ihn mit. Wir liegen eng zusammen und blicken einander in die Augen. Mein Herz schlägt schnell und laut, ich hoffe, er kann es nicht hören. Seine Augen, seine unglaublich warmherzigen Augen rühren mich zu Tränen. Und doch spüre ich Hass. Diesen abgründigen Hass. Ich schlage zu, treffe mit einem harten Schlag seine Wange. Er packt meine Haare. Auch er scheint Tränen in den Augen zu haben.
Was geschieht hier?
Mit seiner ganzen Kraft zieht er an meinen langen blonden Haaren. Ich schluchze, so leise ich kann. Ich gönne ihm keinen Triumph. Mit einer schnellen Handbewegung hole ich das scharfe Messer heraus und halte es ihm sofort mit dem Spitz in Richtung seiner Augen, nahe an sein Gesicht. Er erstarrt. Sieht mir voller Erschrecken in die Augen. Meine Hand zittert.
„Nein! Was machst du da!“, stößt er verzweifelt hervor. Er packt meine Hand und drückt sie näher zu mir. „Lass das!“ Aber ich drücke zu, fest. Er hat es verdient. Er hat es verdient. Er hat es verdient! Ich hasse ihn. Er soll sterben.
Er drückt zurück, tut was er kann. Er ist stark, aber ich kann stärker sein. „Wenn du wüsstest“, murmelt er leise und voller Angst. Wenn ich was wüsste?!! Nichts könnte jetzt etwas ändern! Eine erneute Wutwelle packt mich und lässt meinen Arm fester drücken. Er bleibt jedoch standhaft. Fest blickt er mir in die Augen. Ich sehe, wie er seine andere Hand hebt, und sie langsam zu meinem Gesicht bewegt. Er berührt meine Wange. Ich zucke ein wenig zurück und drücke nicht länger zu. Er nimmt meine Wange. Seine warmen Hände streicheln mich. „Ich habe Angst“, kann ich noch flüstern bevor ich heftig anfange zu weinen. Mit der einen Hand nimmt er das Messer aus meiner Hand und legt es auf die Seite, mit der anderen Hand zieht er meinen Kopf an seine Brust. Ich kann hören, wie sein Herz rast. „Ich auch“, bekommt er mit brüchiger Stimme heraus. Dann ist es still. Nur die Blätter in den Bäumen rauschen unentwegt weiter.







© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz