Seelenleser - Teil 3

Autor: Anna :)
veröffentlicht am: 14.12.2011


Er sah genauso gut aus wie am Tag zuvor im Café. Sie verabscheute Menschen, die äußerlich makellos waren. Moira fand, jeder Mensch musste einen Fehler haben. Vielleicht nicht ganz so weiße Zähne, Pickel oder Leberflecken. Besonders verbreitet bei Männern waren Augenringe und ausgeprägte Tränensäcke. Doch als Moira den Fremden vom Vortag musterte, konnte sie nicht den reinsten Fehler entdecken. Perfekte weiße Zähne, Augen die sie so noch nie gesehen hatte und eine fehlerlos reine Haut. Am Abend zuvor war ihr das gar nicht aufgefallen, doch jetzt im morgendlichen Licht der Sonne sah man jede Einzelheit seines Gesichts.
„Wahnsinn“, rutschte es Moira heraus, doch gleich darauf fing sie sich wieder. Sie drehte sich um und lief den Bürgersteig entlang. Als sie bemerkte, dass sie in die falsche Richtung lief, war es schon zu spät zum umkehren. Aidan Adams hatte sie schnell eingeholt und grinste sie, die Arme hinterm Rücken verschränkt, von der Seite an.
„Du warst im Wallmart, stimmt’s?“
Moira hielt den Blick starr geradeaus. „Ja.“
„Und, glaubst du mir jetzt?“
Sie sah ihn an. „Bitte? Darf man denn noch nicht mal ungestört einkaufen gehen. Ich habe-“
„Ach ja? Was hast du denn gekauft?“
Moira spürte wie sie rot wurde. Das hätte sie nicht sagen dürfen. Sie hasste Peinlichkeiten, vor allem, wenn sie sich selbst blamierte.
„Maria hat dort gearbeitet“, nuschelte sie, was auf Aidans Gesicht einen Ausdruck der Selbstzufriedenheit erscheinen ließ. „Aber das hat gar nichts zu bedeuten!“, setzte sie trotzig nach. „Woher soll ich wissen, dass Sie sie nicht schon gekannt haben? Oder dass nicht alles eine große Lüge ist?“
Sie gingen immer noch den Weg entlang, doch jetzt stellte sich Aidan Adams blitzschnell in ihren Weg und hielt sie so vor dem Weiterlaufen ab.
„Was zum-“
Sie verstummte und folgte Aidans Blick. Eine kleine zierliche, hübsche Blondine mit einer Brille, die schon fast zu groß für ihr Gesicht war, überquerte gerade die Straße. Sie hatte extrem helle Haut und ein mit Sommersprossen überlagertes Gesicht.
Aidan warf ohne auch nur mit einem Gesichtsmuskel zu zucken einen langen eingehenden Blick auf die junge Frau. Dann wandte er sich völlig ernst an Moira. „Sie heißt Jennifer Wenzel und kommt aus Deutschland, ist aber vor fünf Jahren nach Amerika ausgewandert um hier zu studieren.“
Moira kam gar nicht zu einer Erwiderung, denn schon fixierte sich sein Blick auf einen steinalten weißhaarigen Herrn, der auf der anderen Straßenseite auf einer Bank saß. Neben ihm auf dem Boden hob gerade ein ebenso alter schwarzer Dackel träge den Kopf.
„Joseph Bedloe, neunundachtzig Jahre alt, hat im zweiten Weltkrieg gedient, ist seit neun Jahren Witwer und lebt nun allein in einer Mietswohnung an der Ecke 49., Nummer drei.“
Zufrieden wandte er den Blick von dem alten Mann ab und richtete ihn auf Moira. Diese wunderte sich, wie schnell sich ihr Gegenüber eine Lüge ausdenken konnte, die dann auch noch glaubhaft klang! Zwar war ihr Interesse an der kompletten Lebensgeschichte dieser Leute nicht unbedingt geweckt, aber sie hätte schon gerne gewusst, ob die kleine Blonde wirklich hier studierte und ob der Hundebesitzer tatsächlich ein alter Veteran war.
Sie wollte gerade zu einer bissigen Antwort anheben, als sie eine ältere Frau bemerkte, die in diesem Moment etwa zwanzig Meter weiter weg aus einem Nähgeschäft trat. Sie kam auf der anderen Straßenseite direkt auf die beiden zu und erst nach näherem Hinschauen erkannte Moira ihre ehemalige Nachbarin Mrs. Stevenson. Sie waren immer gut miteinander ausgekommen und deswegen hatte Moira die ältere Dame stets in guter Erinnerung behalten. Sie wusste, dass die Idee völlig absurd war, doch irgendwie zwang sie ein anderes inneres Ich zu den folgenden Worten.
„Und wer ist sie dort mit der grauen Dauerwelle?“ Sie deutete unauffällig auf Mrs. Stevenson, die gerade im Begriff war, aus ihrem Blickfeld zu verschwinden, indem sie um eine Ecke bog. Aidan genügten wohl die drei Sekunden, in denen er die Frau zu Gesicht bekam, denn prompt kam die Antwort: „Kathrin Stevenson, siebenundsechzig Jahre alt, hat bis vor drei Jahren als Lehrerin an der Elementary School neben dem Prospect Park gearbeitet und hilft jetzt ehrenamtlich beim roten Kreuz.“
Irgendetwas traf Moira mit voller Wucht. Nichts Materielles oder Greifbares. Es war, als hätte Aidan Adams ihr imaginär einen Schlag versetzt. Denn alles, was er über ihre alte Bekannte gesagt hatte, stimmte. Mrs. Stevenson hatte unterrichtet- Mathematik und Naturwissenschaft- und im Moment half sie beim roten Kreuz aus, von dem sie bei einem kurzen Gespräch der beiden so geschwärmt hatte.
Moira schluckte. Ihr wurde für einen Moment schwarz vor Augen. Sie fühlte, wie ihre Beine nachgaben, zwang sich jedoch zu einer aufrechten Haltung.
„Ich muss hier weg“, murmelte sie.

Aidan hatte nicht versucht, sie aufzuhalten, wofür Moira auch dankbar war. Zu Hause angekommen ließ sie sich auf das Sofa sinken. Gott sei Dank war Thomas nicht zu Hause, denn beim Anblick ihres zitternden Körpers hätte er bestimmt den Notarzt gerufen.
Dabei war es nur pure Angst und Wut, die sie erschaudern ließ.
Ihr realistischer und praktisch denkender Geist wollte nicht wahrhaben, dass ein Mensch so viel Macht haben konnte. Oder wie sollte man es nennen, in die Gedanken fremder Menschen einzudringen, ihre geheimsten persönlichen Geheimnisse auszuspionieren und ans Tageslicht zu bringen?
Moira wickelte sich in eine der Fleecedecken ein, die auf dem Sofa lagen. Doch die Kälte, die die junge Frau empfand, entsprang einer Quelle in ihrem Inneren und konnte durch äußerliche Einwirkungen nicht beeinflusst werden.

Was Moira am meisten an Thomas schätzte, war seine Fürsorglichkeit und sein Anwaltsinstinkt, im richtigen Moment das richtige zu sagen- oder den Mund zu halten. Deswegen gab er sich mit ihrer vagen Antwort, eine Erkältung zu haben, relativ schnell zufrieden. Das machte ihn zu einem angenehmen Lebenspartner.
Als sie am Sonntagmorgen gemeinsam frühstückten, schaute Thomas sie kurz über den Rand seiner Zeitung an, und legte diese dann auf den Tisch.
„Übermorgen gibt meine Anwaltskanzlei eine Feier zu Ehren des sechzigsten Geburtstages meines Chefs.“
Schweigen. Moira rührte weiter in ihrem Kaffee und Thomas ließ seine Worte sacken. Nach einminütigem Schweigen sagte er: „Wir sind eingeladen.“
„Oh wie schön!“, entgegnete Moira lächelnd und hob den Kopf um ihn anzusehen. „Das wird bestimmt…lustig.“
Thomas Chef, Ben Havering, war ein netter Kerl, doch das hob Moiras Laune nicht gerade. Sie hasste Partys oder große Veranstaltung mit zu vielen Menschen. Rockkonzerte auch nur übers Fernsehen mit anzuschauen war der reinste Horror für sie. Trotzdem breitete sich auf Moiras Gesicht ein ehrliches Lächeln aus. Sie freute sich für Thomas.

Den gesamten Sonntag und Montag begegnete sie Aidan Adams nicht. Als sie am Dienstag um halb fünf von der Arbeit nach Hause kam und immer noch nichts von ihm gehört hatte, schlug ihre Laune schlagartig um. In der klaren Gewissheit, den Fremden nie wieder zu sehen, machte sie unbeschwert ihren Routineeinkauf und ging zu Hause ausgiebig duschen. Das heiße Wasser entspannte ihre Muskeln und fühlte sich unglaublich wohltuend auf der Haut an.
Zum ersten Mal seit Monaten war sie mit einer gewissen Vorfreude auf ein bevorstehendes Ereignis erfüllt.
Moira suchte in ihrem Kleiderschrank relativ weit hinten, da sie eine halbe Ewigkeit auf keiner Party mehr gewesen war. Schließlich fand sie eins der wenigen Kleider, welches ihr zusprach. Es war nachtblau, fast schwarz, trägerlos und der eng anliegende Stoff betonte ihre weibliche Figur exzellent. Moira kämmte sich die braunen Haare, die ihr sonst in weichen Locken über die Schultern fielen, zu einer eleganten Hochsteckfrisur und betrachtete sich im Spiegel. Sie war zufrieden, fühlte sich hübsch wie lange nicht mehr.
Thomas, der um zwanzig Uhr abfahrbereit an seinem Wagen stand, lobte ihr Aussehen in den höchsten Tönen und selbst als die beiden bereits an der Halle, in dem die Feier gehalten wurde, vorfuhren, machte er ihr unentwegt Komplimente. Das Geschenk hatte Moira ihm überlassen. Immerhin war es sein Chef und mehr als einen Blumenstrauß hatte Thomas sowieso nicht dabei. Er war furchtbar unkreativ, was diese Dinge anging.

Die Lokation war sehr dekorativ eingerichtet und man merkte, dass sich jemand dabei Mühe gegeben hatte. Überall hingen geschmackvolle Girlanden und Luftschlangen. An einem Ende der etwa hundertfünfzig Quadratmeter großen Lagerhalle stand ein ansehnliches Buffet, in dessen Mitte eine bunt geschmückte Torte prangte. Hier und da hing eine große 60 aus Pappe an der Wand. Die gesamte Party war von Ben Haverings Sekretärin organisiert worden, die er gerade unter lautem Beifallklatschen umarmte und eine Dankesrede hielt. Ein paar Anekdoten sorgten für befreiendes Gelächter und nachdem Ben unter erneutem Klatschen geendet hatte, verteilte sich die Gesellschaft schwatzend im Saal.
Moira schüttelte einigen Leuten pflichtbewusst die Hand, ein nettes Lächeln im Gesicht. Auch Ben Havering wurde auf Thomas aufmerksam und kam mit ausgestreckter Hand auf die beiden zu. Er war ein wenig kleiner als Moira, von stämmiger Statur und dichtem grauen Haar.
„Sie sind wirklich beneidenswert, Thomas“, sagte er mit einem Blick auf Moira. Er schüttelte ihm die Hand und hauchte einen angedeuteten Kuss auf die ihre. „Hallo, meine Gute.“
„Alles Gute zum Geburtstag, Ben“, entgegnete Thomas, gab ihm einen schönen Blumenstrauß und eine freundschaftliche Umarmung dazu.
Moira stand lächelnd daneben, gratulierte Ben ebenfalls und lies den Blick über die Gesellschaft gleiten. Ein Blick auf das Buffet weckte ihren Appetit. Ben Haverings Sekretärin hatte wirklich an alles gedacht. Von Gemüse, Obst, Fisch und Fleisch bis hin zu vegetarischen Speisen war alles vertreten. Moira entschuldigte sich bei Thomas und Ben, die ein angeregtes Gespräch begonnen hatten, und ging zu den zusammengestellten Tischen, die sich unter der Last des Essens zu biegen schienen. Sie nahm sich einen Keramikteller vom Stapel und ging den Tisch entlang. Besonders die exotischen Gerichte regten ihr Interesse an. Sie hatte sich gerade einige Stücke gebackener Bananen und Ananas auf den Teller gehäuft, als sie jemanden anrempelte, der im Weg stand.
Ein Bananenstück fiel auf den Boden. Moira beeilte sich, es aufzuheben.
„Oh Verzeihung, ich habe Sie nicht gese-“
Als sie aufblickte, schaute sie geradewegs in die zwei ihr gut bekannten dunklen Augen. Ihr blieben die Worte im Halse stecken, die sie eben noch verantwortungsbewusst herunterleiern wollte. Ihre Hände fingen an zu zittern, und sicherlich wäre der Teller ihren Händen entglitten und auf dem Boden zersprungen, hätte sie ihn nicht vorher auf dem Tisch abgestellt.
„Was machen SIE denn hier?“





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