Dunkler Spiegel

Autor: Cathy
veröffentlicht am: 29.11.2011


„Ma, wieso weinst du?“ Ich sah sie fragend durch den Spiegel an. Eine kleine Träne floss über ihre Wange.
„Oh, ich habe nur etwas im Auge“, sie versuchte zu lächeln und wischte sie mit dem Ärmel über die Augen. Mein Vater und Dave, mein älterer Bruder, saßen auf meiner Bettkante und machten Gesichter, als würden sie auf eine Beerdigung gehen. Philip, mein kleiner Bruder, kniete neben mir und hielt meine Hand.
Ich seufzte tief. „Okay, was ist los? Ich verstehe das alles nicht. Was ist so schlimm an dem ganzen, das ihr so ein Theater daraus macht?“ Vor gut einer Woche hatte ich von den Stadträten einen Brief erhalten, dass ich zu den fünf hübschesten Mädchen unserer Kleinstadt gehören würde und deshalb heute zu einem Treffen im Rathaus kommen sollte. So etwas wurde jedes Jahr veranstaltet und die Mädchen zogen meist in große Schlösser oder Villen, wurden zu jedem Ball im ganzen Land eingeladen und hatten alles was sie wollten. Es war ein Traum vieler Mädchen dazu zugehören.
Ich war eine der wenigen, die es nicht interessierte. Ich wollte viel lieber draußen sein und die Natur und Tiere erkunden. Sie verstehen lernen, ihnen beibringen, mich zu verstehen. Mir war klar, wie verrückt es klang und die meisten hielten mich für irre, aber es war schon immer mein Traum gewesen. Ebenso war es mein Traum, die Welt kennen zu lernen, die Sprachen und andere Kulturen, andere Menschen.
Ma tat so, als gelte ihre ganze Aufmerksamkeit meiner Frisur und deshalb blieb es den Männern überlassen zu antworten. „Was soll denn sein? Wir freuen uns nur so für dich und sind unglaublich stolz“, Dad zwang sich zu einem Lächeln, Dave versuchte ein lockeres Grinsen aufzusetzen, und doch wusste ich was alle in diesem Raum dachten.
Erneut seufzte ich und strich Philly über den Kopf. „Ihr tut ja grade so, als würde ich zum Schafott geführt. Wenn ihr befürchtet, dass ich weg ziehe, kann ich euch beruhigen. Das habe ich nicht vor und zwingen können sie mich dazu ja nicht“, ich lachte, doch es endete kurz darauf in einem Räuspern, denn ihre Gesichter wurden noch trauriger.
Ich gab den Versuch auf ein Gespräch auf und betrachtete mich im Spiegel. Meine blonden Haare glänzten im Licht wie flüssiges Gold mit einem kräftigem Rotstich. Die katzengrünen Augen wirkten nachdenklich. Früher hatte Daddy mich immer Maus genannt, wegen meiner Stupsnase. Ich mochte sie nie, doch jeder versicherte mir, dass sie süß aussah. Ich war nicht wirklich groß, fast 1, 70, hatte eher eine zierliche Statur. In meiner Schule und Familie hatte ich immer zu den kleinsten gehört.
Ein Strähne rutschte mir ins Gesicht. Ma steckte das Dutt ähnliche Gebilde an der rechten Seite meines Kopfes mit einer silbernen Feder fest. Erst jetzt bemerkte sie die Strähne und schnaubte frustriert.
„Lass doch! Ist schon okay.“
Ich musterte mein Kleid, das bis zu den Knien ging, meine Hand- und Beinstulpen und die dicke Strumpfhose. Wenn es denen da nicht passte, war es nicht meine Problem. Immerhin lag draußen meterdick Schnee, da wollte ich nicht erfrieren, nur um den Schönheitsidealen zu entsprechen.
„Ich hole deine Stiefel“, Ma hatte es plötzlich eilig aus dem Raum zu kommen. „Phil, hilfst du mir?“ „Aber wobei?“ meckerte er, erhob sich wiederwillig und wurde von ihr aus dem Raum gezerrt. Dave verschwand ohne ein Wort, doch bevor er die Tür schloss sah ich deutlich die Tränen in seinem Augenwinkel.
Dad sah mich nur an. „Daddy, ihr macht mir Angst. Wenn ihr das nicht wollt, geh ich nicht dahin.“
„Ich würde es mir von ganzem Herzen wünschen, dass du es nicht tust, aber es wäre falsch!“ Ein liebevolles Lächeln huschte über sein Gesicht. Ich stand auf und kniete mich vor ihn. Damals, vor vielen Jahren, als ich noch ein kleines Mädchen war, hatte ich den Kopf auf seine Knie gelegt, die Arme um seine Beine geschlungen und mir von ihm Geschichten erzählen lassen. Manchmal hatte er mir dann über den Kopf gestrichen. Wenn er mich ansah, hatten seine Augen mich gewärmt, wie ein Kaminfeuer.
Sanft legte ich die Hände auf seine Knie. Seine Miene war ernst geworden, seine Züge verhärteten sich, ein Wangenmuskel zuckte, als er den Kiefer anspannte und die Zähne fest zusammenpresste.
Meine Nackenhärchen richteten sich auf. Fast wäre ich instinktiv zurückgewichen, doch ich blieb. Er war mein Vater. Seine Wut würde er nicht gegen mich richten.
„Dad?“ Er sah mich an. Ein trauriger Ausdruck stand in seinen braunen Augen. Heute war der Kamin aus und mit kalter Asche bedeckt.
Was ist los? Wovor habt ihr Angst?
„Sollen wir runter gehen?“
Feigling!, schalt ich mich selber.
„Ja. Gehen wir.“ Wir erhoben uns. Kurz zögerte er, wollte etwas sagen. Stattdessen wandte er sich ab und öffnete die Türe.









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