Neumond - Teil 15

Autor: Eisfeuer
veröffentlicht am: 17.12.2011


Wie betäubt saß ich im kalten Schnee. Nach seinen grausamen Worten war István aufgesprungen, hatte sich verwandelt und war weggerannt so schnell ihn seine Pfoten trugen. Ich wusste dass ich mich aufrappeln und mein Leben in den Griff kriegen musste, aber ich konnte mich zu nichts überwinden. Also sah ich emotionslos dabei zu, wie die grelle Wintersonne langsam hinter den Baumwipfeln verschwand und durch den bleichen Vollmond ersetzt wurde. Dunkelheit umhüllte mich, aber ich hatte keine Angst. Mir konnte nichts mehr passieren. Alles was man mir hätte antun können, hatte ich schon durchlebt- und überlebt. Meine wertvollen Instinkte hatten mich durch alle Tragödien geführt und ich war dankbar für die zusätzliche Zeit die sie mir geschenkt hatten. Doch jetzt war mir alles egal. Ich wollte mich nicht umbringen, aber es würde mir auch nichts ausmachen jetzt zu sterben. Ich kannte István erst so kurz, und doch hatte er all meine Schutzwälle erstürmt und mich dann hinterrücks vergiftet. Und ich fühlte noch nicht mal Schmerz. Meine Augen waren trocken, und das Salz meiner vorherigen Tränen spannte und juckte auf meinem Gesicht. Ich hörte ein Geräusch aus der dichten Dunkelheit, aber ich sah nicht auf. Was immer jetzt kommen würde, ich war bereit. Harscher Schnee knirschte als sich eine große Gestalt neben mir niederließ. Der herbe Geruch war mir nicht vertraut, aber bekannt. Ich wusste seinen Namen nicht mehr, aber er gehörte zum Rudel. Irgendwo hinter meiner Apathie regte sich Erstaunen. Er sagte nichts, doch ich spürte wie er leicht seinen Kopf hin und her schüttelte. Dann schnaubte er abschätzig und durchbrach das Schweigen:
„Ich kenne dich zwar nicht, aber ich hätte dich nicht als eine eingeschätzt die leicht aufgibt.“
Ich starrte weiterhin auf einen Fleck vor mir, aber unwillkürlich war mein Interesse geweckt. Ich ließ mir nichts anmerken und hörte ihm mit nichtssagendem Gesichtsausdruck weiter zu
„Ein kleines Hindernis und schon gibst du auf? Weißt du, wenn du wirklich so bist, dann bin ich froh dass István dich hier zurückgelassen hat.“
Ich zuckte zusammen als er mir meinen Verlust vor Augen führte, doch er schien es nicht zu bemerken und sprach weiter.
„Wir können keine Schwächlinge in unserem Rudel gebrauchen. Und ganz ehrlich: Ich weiß dass ich eigentlich alles tun müsste um dich ins Bett zu kriegen, aber unter den Umständen muss ich mich echt dazu überwinden...“
Überwinden?! Jetzt war die Grenze definitiv überschritten! Ich ballte meine Hände zu Fäusten, hob meinen Kopf und konterte mit eisiger Stimme:
„Das trifft sich gut. Denn selbst wenn ich’s noch so dringend nötig hätte, du kämst nie in den Genuss von meinem Körper!“
Er lachte leise und selbstbewusst auf:
„Sicher? Ich habe verborgene Talente die du dir selbst in deinen kühnsten Träumen nicht ausmalen kannst.“
Mit betont verruchter Stimme beugte er sich zu mir: „Probier’s doch mal aus...“
Ich wich hastig errötend zurück und versuchte mir nicht vorzustellen was er gemeint haben könnte:
„Tut mir leid. Aber ich küsse niemanden dessen Namen ich nicht weiß.“
Der Unbekannte grinste und rutschte ein Stück auf mich zu:
„Wer hat denn etwas von Küssen gesagt? Ich kenne da noch viel aufregendere Beschäftigungen denen wir nachgehen könnten. Ich bin übrigens Tjuri.“
„Äähh...“
Etwas Geistreicheres fiel mir leider nicht ein, da er noch ein Stückchen auf mich zugekommen war, sodass sich unsere Nasen fast berührten. Im Gegensatz zu István und Espen war Tjuri eher vom nordischen Typ mit kornblumenblauen Augen, hellblonden Haaren und blasser Haut, die jedoch zart gebräunt war. So nah an seinem Gesicht konnte ich auch zahlreiche Sommersprossen erkennen, die nur von unauffälligen, ebenfalls blonden Bartstoppeln verdeckt wurden. Und obwohl er mir gerade ziemlich eindeutige Anträge gegen meinen Willen gemacht hatte, fühlte ich mich nicht von ihm bedroht. Er war eindeutig sehr attraktiv, aber zwischen uns bestand nicht diese prickelnde Anziehungskraft wie bei István. Tjuri schien bemerkt zu haben über was ich nachgedacht hatte und zu welchem Schluss ich gekommen war, denn er ging lachend wieder auf Abstand.
„Gegen unseren heißen Obermacker kann ich wohl nicht ankommen, was?“
Verlegen senkte ich meinen Blick, ich hatte ihn nicht beleidigen wollen. Aber er gab mir nur einen leichten Klaps auf die Schulter und stand auf.
„Keine Angst, ich krieg schon noch genug Mädels ab. Obwohl es mich schon ein wenig wurmt dass du mir widerstehen konntest. Aber man kann ja nicht alles haben.“
Tjuri streckte mir seine Hand hin und zog mich vom Boden hoch als ich zögernd einschlug.
„So. Und jetzt wo du auch geistig wieder unter den Lebenden bist, sollten wir besser zu den Anderen zurück gehen.“
Er musterte mich kurz und fügte dann in einem Ton, der mir das Blut in die Wangen schießen ließ hinzu: „Und so gerne ich dich auch anschaue, solltest du dich doch besser verwandeln. Ich will nicht in die Schusslinie geraten wenn jemand außer István dich mit gewissen Hintergedanken anschaut...“
Nach diesem Satz musste ich kurz meine Gedanken sortieren, bevor ich unsicher nachfragte:
„Wieso sollte István wütend werden wenn mich jemand anschaut?“
Tjuri brach in schallendes Gelächter aus, bis er merkte dass ich ihn immer noch ratlos ansah. Dann beantwortete er mit hochgezogenen Augenbrauen meine Frage:
„Oha. Du meintest das ernst. Schätzchen, ich weiß ja nicht wie du das übersehen konntest, aber István ist verrückt nach dir.“
Ich starrte ihn verwirrt an, während mein Herz hoffnungsvoll schneller zu schlagen begann.
„Aber... Er ist doch weggelaufen. Er hat mich allein hier sitzen lassen, als ich ihm von der schwersten Zeit meines Lebens erzählt habe!“
Tjuri atmete tief ein und blähte seine Backen auf. Dann entließ er die Luft wieder mit einem lauten Zischen aus seinem Mund.
„Tja, weißt du, du bist nicht gerade so wie wir erwartet haben. Jeder von uns hat mit einer selbstsicheren Wölfin ohne Leichen im Keller gerechnet, die von uns begeistert ist und zu allem Ja und Amen sagt. Mal ganz abgesehen davon dass wir automatisch davon ausgegangen sind dass du gerne bei uns im Rudel bleibst und eine Familie gründest. Und Marek kam in unserer Rechnung gar nicht vor.“
„Und dann kam also ich. Psychisch gestört, einen Konkurrenten im Gepäck und absolut keine Lust für den Rest meines Lebens Kinder zu kriegen. Und als würde das nicht ausreichen, habe ich auch noch die lästige Eigenschaft ab und zu mal zu widersprechen. Muss ein ziemlich harter Aufprall auf den Boden der Realität gewesen sein.“
Tjuri grinste amüsiert:
„Das mit dem ‚psychisch gestört‘ hast jetzt du gesagt! Aber es stimmt schon, wir mussten alle ziemlich schnell erkennen was wir uns da ins Haus geholt hatten. Nur István braucht anscheinend ein bisschen länger. Aber er war auch noch nie für seine Flexibilität und Spontaneität bekannt.“
Ich dachte über das nach was er gesagt hatte. Es klang plausibel und ich glaubte ihm gern. Da riss er mich unsanft aus meinen Gedankengängen.
„Also, bist du überzeugt oder muss ich dich zur Höhle schleppen? Du siehst zwar ganz leicht aus, aber mir wäre es wirklich lieber wenn ich dich nicht tragen müsste.“
Blitzschnell überlegte ich und traf eine Entscheidung.
„Ich wette sogar dass ich vor dir da bin!“
Mit einem Satz rannte ich voraus und genoss die schnellen Bewegungen meiner Muskeln unter dem Fell. Hinter mir hörte ich Tjuri hecheln und sah aus dem Augenwinkel wie er mich langsam einholte. Ich mobilisierte meine ganzen Kräfte und schlug den Weg zurück ein.
Ein folgenschwerer Fehler oder die glückliche Wende in meinem Leben?
Die Zeit würde es zeigen...






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