Neumond - Teil 14

Autor: Eisfeuer
veröffentlicht am: 16.12.2011


Augenblicklich schien István sich zu verspannen und er sah mich ungläubig an: „Unmöglich! Du bist so rein, so unschuldig.“ Ich lachte bitter auf: „Ich bin alles Mögliche, aber nicht rein und unschuldig. So befleckt wie ich bin, wirst du niemals sein können!“
„Aber wieso? Was kannst du schlimmes getan haben, dass du dich selbst so hasst?!“ Zweifelnd versuchte er meinen Blick zu halten, aber ich wich ihm weiter aus. Als ich nicht antwortete, legte er seine Finger auf meinen Arm. Ich zuckte zusammen und schlug sie weg. Ich wollte jetzt nicht berührt werden. Nicht mal von István. Über meine Reaktion verwundert, drängte er: „Nika. Ich kann dir nur helfen wenn du mir sagst was los ist! Rede mit mir. Bitte!“
Mir war klar dass er nicht aufhören würde nachzufragen, also machte ich einen tiefen Atemzug und begann leise von meinem schlimmsten Alptraum zu erzählen:
„Ich habe meine Eltern nie kennen gelernt. Mir wurde nicht gesagt wo sind und ob sie überhaupt noch leben. Ich wuchs bei meiner Tante und ihrem Mann auf. Sie ersetzte mir keine Mutter, aber ich hatte etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf und meistens war sie freundlich. Distanziert, aber trotzdem freundlich. Mein Leben war nicht luxuriös, oder angenehm, aber erträglich und es gab kurze Momente in denen ich sogar glücklich war. Und dann wurde ich zwölf und verwandelte mich das erste Mal. Ich begann mich jede Nacht aus dem Haus zu schleichen, um durch den Wald zu rennen. Tagsüber half ich wieder meiner Tante. Nachdem ich mich an das Tier in mir gewöhnt hatte, hätte ich mein Leben um Nichts in der Welt eingetauscht.“
Ich machte eine kleine Pause als ich mich daran erinnerte. Es war eine schöne Zeit gewesen. Aber auch sie hatte ihr Ende gehabt. Ich wollte nicht weiter erzählen, aber jetzt konnte ich keinen Rückzieher mehr machen. István sah mich ungewöhnlich mitfühlend an, er schien zu spüren dass nichts Gutes kommen würde. Ich vermied es immer noch ihm in die Augen zu sehen. Ich schämte mich für das, was passiert war. Trotzdem fuhr ich fort: „Mit der Zeit wurde ich älter. Als ich sechzehn wurde, lebte ich immer noch mein altes Leben. Nachts rennen und tagsüber im Haus arbeiten. Doch ich begann mich immer mehr nach dem Wind in meinem Fell und der weichen Erde unter meinen Pfoten zu sehnen. Ich schlich mich raus wenn meine Tante beschäftigt war und es schien als würde sie nichts bemerken. Dadurch wurde ich immer mutiger. Wenn ich der Arbeit nicht entfliehen konnte, war ich umhergetrieben von meinem Verlangen die Kraft und die Sinne meiner Wölfin zu fühlen. Bis ich erwischt wurde. Ich hatte mich gerade ausgezogen und verwandelt, als ich ihn bemerkte. Es war der Mann von meiner Tante. Ich sollte ihn Onkel nennen, aber es fühlte sich nie so an als würde er zur Familie gehören. Und als er mich bei meiner Verwandlung gesehen hatte, trat eine Gier in seine Augen die ich nie vergessen würde. Er schien gar nicht überrascht zu sein dass er mich so sah, und Angst hatte er auch keine. Er murmelte nur ‚Endlich‘ und meinte er müsse mir etwas zeigen. Und ich Vollidiotin verwandelte mich zurück und folgte ihm in den Keller.“
Ich schauderte bei dem Gedanken daran wie leichtfertig sich mein Schicksal entschieden hatte und redete hastig weiter um es hinter mich zu bringen: „Er schlug mich nieder und zwängte meinen Hals in ein enges Eisenhalsband, das mir die Luft abschnürte wenn ich mich in meine Wolfsgestalt flüchten wollte. Dann erklärte er mir lang und breit seinen Plan. Er wollte testen wie stark ich war, was ich aushielt und bei ‚zufrieden stellenden Ergebnissen‘, wie er es nannte, wollte er diese Kraft für sich beanspruchen. Eine Nacht später setzte er seinen Wahnsinn dann in die Tat um.“
Istváns aufmerksamer Gesichtsausdruck wandelte sich in Entsetzen, als ich ihm schilderte, was mein Onkel mir angetan hatte.
„Er schlug mich, verbrannte meine Haut, schlitzte mir die Pulsadern auf und brach meine Knochen. Mein Körper heilte außergewöhnlich schnell, aber die Qualen waren trotzdem unerträglich, denn ich stand jede Nacht auf der Schwelle zum Tod. Anscheinend war er zufrieden, denn er begann zu experimentieren wie er sich in einen Wolf verwandeln konnte. Ich musste ihn beißen und sein Blut trinken. Als das nichts half zapfte er mir Blut ab und injizierte es sich. Er probierte alle denkbaren Methoden aus, doch anscheinend wird man entweder als Wolf geboren oder nicht. Also änderte er seinen Plan. Er begnügte sich damit dass seine Kinder Wölfe sein würden. Und da begannen meine richtigen Qualen.“ Ich sprach emotionslos, hielt jede Erinnerung, jedes Gefühl von mir fern um mich nicht darin zu verlieren. István jedoch schien gegen seinen Wolf anzukämpfen. Er zitterte vor Erregung und strahlte Wut und Vergeltungssucht aus.
„Jede Nacht kam er zu mir und tat mir schwitzend und voller Vergnügen Gewalt an. Aber ich wurde nicht schwanger. Eines Tages entdeckte mich meine Tante und befreite mich. Sie erzählte mir dass ich vor drei Monaten plötzlich verschwunden gewesen wäre. Ich achtete nicht auf das, was sie mir vielleicht noch sagen wollte, sondern floh einfach in den Wald. Ungefähr vier Monde lang lebte ich als Wolf und machte mich auf die Suche nach einem Rudel. Und jetzt bin ich hier.“
Ich schwieg. Irgendwann hatte ich angefangen lautlos zu weinen und mein Gesicht war tränenüberströmt. István öffnete und schloss seinen Mund. Er streckte seinen Arm nach mir aus, doch dann überlegte er es sich scheinbar anders. Er schien nicht zu wissen wie er reagieren sollte, und so sagte auch er kein Wort. Die erdrückende Stille lag schwer auf meiner Brust. Ich brach das Schweigen: „István, bitte sag etwas.“. Es klang flehender als ich vorgehabt hatte, aber es brachte ihn dazu zu, seinen Mund wieder zu öffnen:
„Es tut mir leid.“
Diese Worte klangen in meinen Ohren wie ein Abschied, und als er sie wiederholte krampfte sich mein Herz schmerzhaft zusammen.
„Es tut mir leid.“






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