Neumond - Teil 4

Autor: Eisfeuer
veröffentlicht am: 23.11.2011


Der Wind wirbelte die Schneeflocken genauso wild umher, wie die Gedanken in meinem Kopf es taten. Sie stürmten wie riesige Wellen auf mich ein, und meine Dämme brachen. Meine Tränen hinterließen brennende Spuren auf meinen Wangen und meine Sicht verschwamm. Meine Gefühle wogten hin und her zwischen Pflicht und Wunsch. Die Grenzen waren fließend und ich wünschte mir Klarheit während ich durch den tiefen Schnee rannte. Meine Seiten begannen zu stechen und meine Lunge brannte. Doch ich hatte noch einen Ausweg, in den ich schon so oft geflüchtet war. Ich spürte schon förmlich die Wandlung. Wie meine Knochen sich gleitend und schmerzlos verschoben, wie das Fell aus meiner Haut platzte und wie mich meine großen Pfoten über den Schnee schweben ließen. Ich wünschte mir die gedankliche Klarheit herbei. Das Schwarz und Weiß, sichere Unterscheidung zwischen Jäger und Beute und kein wildes Chaos das mich in die Dunkelheit stürzte.
Mit einem großen Satz wollte ich mich meinem inneren Wolf überlassen, da hörte ich ein lautes Keuchen. Ich war nicht alleine. Meine Nackenhaare stellten sich auf und mit größter Selbstbeherrschung drängte ich meine animalische Seite zurück und warf einen Blick über meine Schulter zurück. Marek. Er verfolgte mich: „Warte doch! Ich tu dir nichts!“. Bei seinen Worten drängten sich mir schreckliche Erinnerungen auf, und ich rannte schneller um ihnen zu entkommen.
Nacht. Ein schwerer, schwitzender Körper der meine Verfolgung aufnimmt und höhnisch meinen Namen ruft: „Ich tu dir nichts, komm doch her Nika, mein Wölfchen!“. Dann mein Sturz. Der Boden der sich wie in Zeitlupe auf mich zubewegt. Ein stechender Schmerz, dann ein siegessicheres Lachen. Ich schließe meine Augen. Nein, das ist jetzt vorbei. Mir würde niemand mehr wehtun. Niemand würde mehr über mich triumphieren und mich so demütigen. Das hatte jetzt ein Ende. Ich blieb stehen und drehte mich zu Marek um. Der Lauf hatte ihn angestrengt und auch meine Brust hebte und senkte sich schnell im Takt mit seiner. „Warum bist du weggelaufen?“, fragte er mich gekränkt und ein wenig wütend. Ich senkte meinen Blick, mochte ihm nicht in die blitzenden Augen sehen und überlegte wie viel ich ihm verraten konnte, ohne mich selbst zu gefährden:
„Ich hatte Angst.“.
„Ich werde dir nicht wehtun, das schwöre ich dir.“
„Nicht deswegen“, ich schluckte. Er wartete gespannt auf eine weitere Erklärung von mir.
„Ich hatte Angst mich zu verlieren. Meine Pflicht in den Hintergrund zu stellen und mir den einfachen Weg auszusuchen.“
„Was ist falsch daran mal seinem Herzen zu folgen, auch wenn das ausnahmsweise der leichtere Weg ist?“, fragte er sanft.
„Du verstehst das nicht.“, wischte ich seinen Einwand mit einer Handbewegung weg.
„Dann erklär es mir!“. Mareks Augen baten mich ihm zu vertrauen, mich fallen zu lassen. Sie flehten mich an zu vergessen und zu lieben. Unwillkürlich blickte ich an seinen geröteten Wangen vorbei zu seinen weichen Lippen. Dann riss ich mich zur Ordnung.
„Meine Mutter starb als ich noch sehr klein war. Das ist nicht schlimm, ich kannte sie schließlich gar nicht. Deswegen bin ich bei meiner Tante und meinem Onkel aufgewachsen. Vor ungefähr einem Jahr aber erschien mir meine Mutter in meinen Träumen und wies mich an mein Rudel zu suchen. Und seitdem bin auf der Suche.“
Seine Augen weiteten sich fassungslos: „Dein Rudel?!“. Ich erschrak. Hatte ich wirklich „Rudel“ gesagt? In seiner Nähe wurde ich viel zu unvorsichtig.
„Ähm, ich meine natürlich Familie. Mit deinem Wolfsfell vorhin hast du mich ganz schön verwirrt.“, ich lachte nervös und gekünstelt. Er bemerkte nicht wie schlecht ich log. Oder vielleicht wollte er es auch gar nicht bemerken. Stattdessen konzentrierte er sich auf eine andere Sache.
„Wie konntest du wissen dass es deine Mutter war, die dich im Traum besucht hat. Du meintest dass du sie nicht gekannt hast.“
„Ich wusste einfach dass sie es war, okay? Willst du mir jetzt endlich glauben oder suchst du nach weiteren Beweisen dass ich gelogen haben könnte?“
Marek wandte sein Gesicht ab und schon tat es mir leid dass ich ihn so angefahren hatte. Dann schaute er wieder zu mir und mein Atem stockte. Er grinste zerknirscht, seine Augen funkelten, in seinen rabenschwarzen Haaren glitzerten einzelne Schneeflocken und seine raue Stimme vervollständigte das Bild: „Tut mir leid.“
Ich konnte nicht mehr antworten, war ganz von seinem Anblick gefangen und vergaß die Welt um mich herum. Ich trat näher an ihn und legte meine Hand auf die, von der scharfen Kälte, abgekühlte Haut seines Gesichts und leckte mir nervös die Lippen. Ich hörte auch seinen Puls flattern und er lehnte sich gegen meine Hand. Dann beugte er sich zu mir herunter. Mein Herz ließ einen Schlag aus und ich richtete meinen Blick auf seine verheißungsvollen Lippen. Ich erwartete sehnsüchtig seinen Kuss, doch er zog den Moment quälend in die Länge. „Darf ich dich küssen?“, hauchte er kurz vor meinen Lippen und ich schmeckte seinen Atem.
Da zerriss ein scharfes Knurren die Luft.






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