Die Invasion der Gartenzwerge

Autor: Sunny
veröffentlicht am: 08.10.2011


Lilly summt leise vor sich hin und versucht sich abzulenken. Nicht auf die dunklen Schatten zu achten, nicht auf die verschiedenen Geräusche des Waldes, nicht auf das Rascheln des Unterholzes, nicht auf die gelb leuchtenden Augen der Tiere. Sie versuchte sich auf ihren unregelmäßigen Atem zu konzentrieren. Sie hatte Angst. Die Blätter raschelten, als sie auf diese stieg. Es war Herbst. Der Wind pfiff durch die Bäume, die sich sanft darunter neigten.
Ihr war kalt und sie verfluchte ihre Eitelkeit, wegen der sie sich nur einen dünnen Pulli und keine Winterjacke angezogen hatte, wie Elli ihr geraten hatte.
Aber sie hätte ja nicht mit dieser hässlichen Jacke auf die coolste Party des Jahres gehen können. Die Party ihres Schwarms Alex.
Alex war groß, blond und hatte grüne Augen. Er war beliebt, begehrt und hatte viele Freunde und Freundinnen. Doch hatte er sich den ganzen Abend mit Lilly beschäftigt. Er hatte die ganze Zeit an ihrer Seite gestanden, mir ihr geredet und sich um sie gekümmert. Die anderen Mädchen, die Lilly eifersüchtig angestarrt hatten und sie am liebsten mit Blicken getötet hätten, hatte er einfach ignoriert oder er hatte sie einfach nicht gesehen, so intensiv, wie er mit Lilly geflirtet hatte. Das hatte Lilly besonders gewundert.
Was fand er bloß an ihr? Sie war zwar normalgroß, aber das war auch das einzig normale an ihr fand sie.
Sie war eine Einzelgängerin, hatte nicht viele Freunde, sie hatte eine Stupsnase, in die Großtanten und Onkel sie immer wieder gerne gezwickt hatten, was sie über alles hasste. Ihr Busen war ihr zu klein, ihre Augen ihr zu groß und ihr Gesicht zu eckig.. Für ihre schmale Taille bekam sie immer wieder Komplimente, doch sie fand sich selbst zu dünn, weshalb sie auch nicht oft ins Schwimmbad ging und wenn dann nicht gerne, da man sie schnell als magersüchtig abstempelte. Als eine der es nur um ihren Körper ging.
Doch so war sie nicht. Sie interessierte sich für die Umwelt und die schlimmen Sachen in dieser Welt. Dies tat Alex auch, sie hatten sich lange über die Umweltverschmutzung und den Klimawandel unterhalten, worüber die meisten nur den kopf geschüttelt hatten.
Während des Gespräches waren sie sich langsam näher gekommen, doch kurz bevor sie sich küssten hatte sie einen Rückzieher gemacht. Sie wollte nicht verletzt werden. Bestimmt hatte er sich nur mit ihr unterhalten, weil sie leicht zu haben aussah. Dies war sie aber nicht und das würde sie ihm auch zeigen. Sie wollte keinen Freund, der sie nur wegen dem Einen haben wollte.
Sie brauchte einen, der ihren komplizierten Alltag und ihre Probleme verstehen und akzeptieren konnte. Aber so einen Jungen zu finden, würde schwer werden. Deshalb hatte sie sich bisher prinzipiell von Jungs ihres Alters ferngehalten.
Dies war nicht weiter schwer, sie gab sich nach außen immer unfreundlich. Aber als sich Alex so um sie bemüht hatte, konnte sie ihn nicht schlecht behandeln, sie war geradezu von ihm fasziniert. Das war ihr noch nie passiert. Deshalb musste das ein Ende haben, beschloss sie.


Er lehnte sich zurück. Seine Party war der volle Erfolg gewesen. Alle hatten sich prächtig amüsiert und keiner war zu besoffen gewesen und hatte sich übergeben müssen.
Seufzend betrachtete er das trotzdem entstandene Chaos. Im Wohnzimmer lagen überall leere Flaschen verstreut, der große Fleck auf dem Teppich von einem runtergefallenen Becher war nicht zu übersehen. Der Plattenspieler, die teuren Gemälde und die antike Kommode waren Gottseidank unberührt geblieben. Sonst hätten ihm die Eltern sicher die Hölle heiß gemacht. Es war eh lange nicht sicher gewesen, dass er überhaupt feiern durfte. Aber er hatte sie dann doch damit überzeugen können, dass sie nur im Wohnzimmer feiern würden und er den ganzen Abend nüchtern bleiben würde. Dies hatte er nicht bereut.
Neben ihm war Lilly, ein Mädchen, das eine Jahrgangsstufe unter ihm war, die als einzige Nüchterne geblieben. Sie konnte keinen Alkohol trinken, da sie allergisch auf ihn reagierte. Zumindest hatte sie das erzählt. Vielleicht schmeckte er ihr auch einfach noch nicht und sie wollte nicht zugeben, dass sie noch jünger war. Sie war ein faszinierendes Mädchen: sie interessierte sich auch nicht wie die anderen Mädchen nur für ihr Aussehen und Jungs, sondern auch für Geschichte und die Missstände auf der Welt und engagierte sich in Organisationen, die für mehr Gerechtigkeit auf der Welt oder den Umweltschutz sorgten.
Sie war wirklich intelligent, dass musste man einfach zugeben. So ein Mädchen hatte er noch nie getroffen. Als sie ihm vor 2 Monaten das erste Mal auffiel, stand sie in der Bibliothek der Schule und lieh sich grade Bücher über den 2.Weltkrieg aus.
Er war in sie hineingelaufen und da er sich auch sehr für dieses Thema interessierte, waren sie ins Gespräch gekommen. Als er eine Woche später um die gleiche Zeit wieder hier war, war sie ihm wieder begegnet. Er hatte sie angesprochen und sie hatten sich lange unterhalten.
Damals hatte er ihren Namen erfahren und hatte ihn in den folgenden Tagen auf alle freie Flächen, die er gefunden hatte, geschrieben. So waren nach kurzer Zeit die Ränder seiner Schulhefte mit Lillys vollgekritzelt.
Er war von da an täglich in der Bibliothek erschienen, um rauszufinden, wofür sie sich momentan interessierte und möglichst viel über dieses Thema zu recherchieren, damit er sie beeindrucken konnte. Dies war sie auch jedesmal gewesen, zumindest bis sie zufälligerweise mitbekommen hatte, wie er die Bibliothekarin, die er ,seit er klein war, gut kannte, fragte, was Lilly dieses Mal ausgeliehen hatte und diese gescherzt hatte, dass er sich wohl mehr für Lilly als für die Bücher interessiere. Lilly hatte darauf nur gegrinst und ihn freundlich begrüßt.
Vor einer Woche hatte er sich dann ein Herz gefasst und sie gefragt, ob sie zu seiner Party kommen wolle. Sie hatte darauf ziemlich erstaunt reagiert und ihn gefragt, wie sie zu der Ehre kam. Er hatte daraufhin geantwortet, dass er sie nett fände, außerdem sehr viele abgesagt hätten und er deshalb noch ein paar Leute suche, damit es eine große Party werde.
Nach kurzem Überlegen hatte sie zugesagt und sich seine Handynummer geben lassen, um bei Fragen ihn anrufen zu können. Als er nach ihrer Nummer gefragt hatte, war sie nervös geworden und hatte ihn mit der Begründung, dass sie sie nicht auswendig könne, abgewimmelt. Es hatte ihn gewundert, dass sie auf dieses Thema so genervt reagierte, aber da er keinen Streit wollte, hatte er das Thema auf sich ruhen lassen.
Jetzt hätte er die Nummer gerne gehabt, um ihr eine Gut-Nacht-SMS zu schreiben und zu kontrollieren, dass sie gut nach Hause gekommen war.
Er wohnte in LaPer, einem kleinen Ort in dem bloß 1000 Einwohner ihr Haus hatten. In der Gemeinde gab es nur eine Bar und einen Kiosk, sonst bestand es nur aus alten Bauerhäusern und Feldern. Südlich von LaPer befand sich ein großer Wald, durch den eine Straße zum nächsten Ort, Hallor, in dem Lilly lebte, führte. Hallor war größer als LaPer, zumindest gab es dort neben Cafés ein Freibad.
Durch den Wald führte nur die eine Straße, es gab keine Bahnverbindungen oder ähnliches, tagsüber verkehrte ein Bus, aber zu dieser späten Stunde lag der Busfahrer wahrscheinlich schon längst im Bett.
Als Alex erfahren hatte, dass sie zu Fuß gehen wollte, hatte er ihr angeboten, sie zu begleiten, doch sie hatte dies schon fast ärgerlich abgelehnt. Auch niemand der anderen Partygäste, die größtenteils schon Auto fuhren, konnte sie mitnehmen, da alle in LaPer oder gar noch nördlicher wohnten.
Er hatte Lilly gefragt, warum ihre Eltern sie nicht abholten, war sie erst blass geworden und hatte dann gestammelt, dass diese im Urlaub seinen. Doch er hatte gespürt, dass dies nicht der Fall war und sie ihn anlog, sie hatte sich während sie dies sagt, sich die ganze Zeit an der Nase gekratzt, hatte ihr Gewicht alle paar Sekunden von einem Bein aufs andere verlagert und konnte ihm nicht in die Augen schauen.
Er wunderte sich, warum sie ihn angelogen hatte. Vielleicht konnten sich ihre Eltern kein Auto leisten und das war ihr peinlich, aber das hielt er für unwahrscheinlich. Sie schien nicht der Typ von Mädchen zu sein, das auf solche Äußerlichkeiten Wert legte.
Vielleicht hatte sie auch Streit mit ihren Eltern, aber das hätte sie ihm eigentlich auch erzählen können.
Ihm fiel auf, dass er absolut nichts über ihre Familie wusste. Er wusste nicht, ob sie Geschwister hatte und wie diese hießen, wusste er erst recht nicht. Wenn sie eben überhaupt welche hatte.
Aber dies würde er morgen herausfinden, beschloss er. Er könnte beim Rathaus nachfragen, überlegte er. Ihren Nachnamen wusste er, den hatte er auf ihrem Büchereiausweis gelesen: Lion. Als er sie dann nach ihrem ungewöhnlichen Namen gefragt hatte, hatte sie ihn englisch ausgesprochen.
Wie man Löwe auf Englisch ausspricht. Lilly der Löwe. Bei dem Gedanken musste er lachen: Lilly als kleiner fauchender Löwe! Unvorstellbar! Ihr Körperbau war eher zierlich, nicht stämmig wie ein Löwe. Allerdings konnte sie ganz schön ihre Krallen ausfahren, wie man es ihr gar nicht zutraute.
Lilly, die Löwin. Lilly, SEINE Löwin!!
Mit dem Gedanken legte er sich grinsend ins Bett und schlief ein.

Lilly atmete erleichtert auf. Vor sich sah sie schon die Straßenlaternen der Straße, von denen es den ganzen Wald hindurch keine gab, die aber am Ortseingang wieder regelmäßig aufgestellt waren. Und bald würde sie auch zu Hause sein. Ihr Zuhause, in dem sie seit fast 7 Jahren wohnte.
Sie blieb stehen und schaute sich noch einmal erschöpft um, damit sie nicht allzu sehr außer Puste ankam. Hinter ihr war der dunkle Wald, aus dem sie soeben rausgetreten war. Sie stand mitten auf der Straße, aber sie kümmerte sich nicht darum, auf der Straße fuhr schon tagsüber kaum ein Auto, nachts fuhr überhaupt keines. Das hing damit zusammen, dass die Straße angeblich verflucht war. Diese Geschichte kannte sie schon seit sie entstand. Dies lag bald 7 Jahre zurück. Und doch konnte sie sich daran erinnern, wie es geschah.
Vor sich sah sie die Straße, an der 100 Meter vor ihr die ersten Häuser waren. Die hundert Meter entlang war neben der Straße nur Äcker und zwischen durch ein paar Meter Wiese.
Sie blickte nach oben. Die Sterne leuchteten hell zwischen der tiefen Dunkelheit. Dort oben irgendwo würde sie gern sein.
Keine Probleme, nur endlose Ruhe, ab und zu flog ein bisschen Weltraummüll vorbei, aber sonst absolut nichts.
Sie setzte sich wieder in Bewegung, die lange Straße, die scheinbar am Horizont endete, immer vor ihr. Als sie vor ihrem Ziel, einem alten hässlichen Backsteingebäude, bei dem der Putz schon lange abgefallen war und das dringend restauriert werden müsste. Doch dies würde nicht so bald der Fall sein, das wusste Lilly.
Sie holte ihren Schlüssel aus der Tasche und sperrte auf. Leise zog sie sich ihre Schuhe aus. Sie wusste genau, welche Stufen knarrten, als sie die Treppe nach oben schlich, und lies diese aus, um ja niemanden aufzuwecken, weil sie sonst Ärger ohne Ende bekäme.
Es hatte eh eine lange Überredungszeit gebraucht um zur Party zu dürfen. Nachdem sie ohne Zwischenfälle vor ihrem Zimmer angekommen war, öffnete sie leise die Tür.
Drinnen war noch Licht, was bedeutete, dass ihre Schwester Elli noch auf war. Jene sah Lilly auch gleich vorwurfsvoll auf ihrem Bett hocken, als sie sich an das grelle Licht der Neonlampen gewöhnt und die Tür hinter sich geschlossen hatte.
„Wo warst du so lange? Ich habe mir Sorgen gemacht! Du hast gesagt du kommst um 12 Uhr wieder und jetzt ist es schon eins!“, beschwerte sich Elli. Lilly stöhnte laut genervt auf, dämpfte aber sofort wieder ihre Stimme: „Du bist nicht meine Mutter. Und sei gefälligst still, du weckst noch das ganze Haus auf! Wieso bist du noch nicht im Bett?“ „Ich habe auf dich gewartet. Und jetzt sei still, ich will schlafen!“
Lilly musste grinsen. Ihre kleine Schwester war schon süß. Ein niedliches kleines bescheidenes Mädchen, das etwas Besseres als diese heruntergekommene Hütte verdient hatte. Aber sie hatten keine andere Wahl. Wären sie nicht hier aufgenommen worden, würden sie auf der Straße stehen. Und dazu war Elli noch zu jung mit ihren 8 Jahren.
Lilly ging in das Badezimmer. Das war der einzige Luxus, den sie hatten, allerdings war es so hässlich und kaputt, das man eigentlich nicht von Luxus sprechen konnte.
Schon halb im Stehen einschlafen putzte sie sich ihre Zähne und wusch sich das Gesicht. Als sie in den kleinen schmutzigen Spiegel schaute, bemerkte sie etwas, was sie dort noch nie gesehen hatte: Eine strahlende, junge Frau.
Sie war ungefähr so groß wie Lilly und hatte auch große Ähnlichkeit mit ihr, aber sie schien älter zu sein als das, was Lilly normalerweise im Spiegel sah. Außerdem strahlte Lilly nicht so. Sie hatte ja auch normalerweise keinen Grund dazu. Langsam bewegte sie ihre Hand auf den Spiegel zu. Die junge Frau tat es ihr gleich. Sie bewegten sich synchron. Es war ihr Spiegelbild, es konnte nichts anderes sein, das wusste Lilly.
Aber war sie während dieses Abends so gereift? Es war eine lustige Feier mit Alkohol gewesen, eine typische Teenager-Party mit kindischen Partyspielen.
Im Alltag verhielt sich Lilly generell nicht wie ihrer Altersklasse entsprechend, was auch kein Wunder war, da sie sich auch noch um ihre Schwester und ihre kleine Wohnung kümmern musste.
In der Hausordnung stand, dass zweimal die Woche das gesamte Haus gesäubert werden musste und dies hielt die Besitzerin des Hauses, Emilia Miller, übertrieben genau ein. Außerdem gab es in dem Haus keine Waschmaschine, bloß unten im Keller ein Waschbrett, das für die sechs Wohnungen mit je zwei bis sechs Bewohnern zur Verfügung stand.
Dies war dauernd belegt, denn es gab in jeder Wohnung auch nur einen kleinen Schrank, in den kaum etwas hineinpasste und so mussten mehrmals in der Woche die Klamotten von Hand gewaschen werden.
Lilly war noch einen letzten zweifelnden Blick in den Spiegel, trocknete sich ihr Gesicht ab und ging zurück in das Zimmer. Sie schlüpfte aus ihrer Jeans, zog ihr T-Shirt über den Kopf aus und legte ihre Sachen auf einen Stuhl. Dann zog sie ihren viel zu weiten Schlafanzug an, legte sich ins Bett, deckte sich mit der Bettdecke zu und löschte das Licht.
Sie war so müde, dass sie sofort einschlief und in einen langen, traumlosen Schlaf fiel.

Am nächsten Morgen wurde Lilly von ihrer Schwester geweckt, die im Gegensatz zu ihr den Wecker nicht überhört hatte und sie so vor dem Verschlafen bewahrt hatte.
Elli war schon fertig angezogen und drängte Lilly zum Anziehen, damit sie schneller zum Frühstück, das von der Hausbesitzerin zubereitet wurde und immer zu wenig und zu schnell weg war, kommen würde. Lilly zog schell die Jeans von gestern und ein frisches T-Shirt an und schlüpfte in die Sneakers, die sie gestern achtlos in de Ecke geworfen hatte. So gingen sie und Elli nach unten zum Frühstücken.

Alex wurde von seiner Mutter geweckt, die ihn zum Frühstück rief. Noch müde zog sich Alex die nächstbesten Klamotten an und ging nach unten.
„Heute Nachmittag musst du aber den ganzen Saustall im Wohnzimmer aufräumen! Und jetzt beeil dich, sonst kommst du zu spät zur Schule!“, ermahnte ihn seine Mutter. „Schon okay, Mum, mach ich! Ich bin ja schon fast fertig!“
Hastig schlang er ein Brötchen herunter und stürzte ein Glas Orangensaft herunter.
Dann rannte er nach oben, trug Deo auf und brachte seine Frisur in Ordnung. Er lief die Treppe runter, rief zu seiner Mutter: „Ciao Mum, bis heut Mittag!“, sprang auf sein Fahrrad und raste los.
In der ersten Stunde hatten sie Mathe, und mit Herrn Agrilla, seinem Mathelehrer, war nicht gut Kirschen essen, deshalb beeilte Alex sich.
Gerade noch rechtzeitig stellte er sein Fahrrad vor der Schule ab und hastete in den 1.Stock, wo sich sein Klassenzimmer befand. Er erreichte es kurz vor seinem Lehrer, der ihn nur flüchtig anschaute und dann den Raum betrat.
Erschöpft ließ sich Alex auf seinen Stuhl sinken und wollte sich erst mal ausruhen, wurde aber gleich von seinem besten Kumpel Toby angestupst. Toby war relativ klein, hatte leuchtend rote, lockige Haare und trug immer nur Markenklamotten. Seine Familie war sehr reich und wohnte in einer Villa in LaPer, die auf einem großen Grundstück zusammen mit einem riesigen Pool stand und mit teuren Antiquitäten und Bildern von berühmten Künstlern ausgestattet war.
Alex und Toby kannten sich schon seit dem Kindergarten und waren seitdem befreundet, auch ihre Familien hatten engen Kontakt zueinander und wohnten nicht weit entfernt voneinander.
Toby kannte Ale am besten und hatte gestern Abend natürlich gleich gemerkt, dass Alex an diesem Mädchen aus der Jahrgangsstufe unter ihnen Gefallen gefunden hatte.
„Na, ich musste ja leider schon früh gehen, also. Hast du noch mit der Kleinen rumgeknutscht oder nicht?“, fragte er grinsend, woraufhin Alex dunkelrot anlief: „Äh… Nein, wir haben uns nicht geküsst.“ Dann fing auch Alex an zu grinsen: „Und beim Thema Größe nennt sie ja gerade der Richtige klein. Mann, die ist einen Kopf größer als du!“ Lachend boxte Toby Alex in die Seite und fragte: „Und, stehst du auf sie?“
In dem Moment stand plötzlich Herr Agrilla vor ihnen und unterbrach ihr Gespräch: „Könnt ihr kleinen Machos vielleicht später über eure Frauengeschichten reden? Wir haben jetzt Mathe und nicht Sexualkunde.“
Toby fing unverschämt an zu grinsen und wollte etwas Freches darauf erwidern, wurde aber durch Alex gebremst, der ihm unter dem Tisch einen Fußtritt verpasste, um Schlimmeres zu verhindern.
Herr Agrilla warf beiden noch einen warnenden Blick zu und ging dann nach vorne zu seinem hässlichen, grauen Lehrerpult, wo er anfing komplizierte mathematische Gleichungen an die Tafel zu schreiben.
Nachdem er mehrere Dutzend davon an die Tafel geschrieben hatte, sagte er „Die Aufgaben löst ihr jetzt bis zum Ende der Stunde. Was ihr nicht schafft, löst ihr zu Hause!“ und setzte sich an sein Pult, um einige Schulaufgaben zu korrigieren.
Ein Aufstöhnen ging durch die Klasse. Herr Agrilla war der strengste und unbeliebteste Lehrer der Schule und bekannt für seine übertriebene große Menge an Hausaufgaben.
Während Alex sich sofort daran machte, die Aufgaben zu lösen, ließ Toby seinen Blick durch die Klasse schweifen. Zu Hause würde sein Privatlehrer die Aufgaben lösen, wenn er ihn bestach, darum musste er sich keine Sorgen machen.
Erst schaute er aus dem Fenster und beobachtete einige Unterstufler beim Sportunterricht, aber nach einiger Zeit wurde es ihm langweilig und sein Blick wanderte zu Herrn Agrilla. Dort verharrte er erstaunt: Was machte sein Mathelehrer denn da? Er streichelte ein dickes Buch beinahe schon zärtlich und führte mit seiner anderen Hand ein merkwürdiges schwarzes Gras an es heran. Doch was dann passierte, verschlug Toby endgültig die Sprache: Das Buch aß seinem Mathelehrer das Gras aus der Hand! Daran, wie das Buch überhaupt das Gras aufnehmen und verdauen konnte, konnte er sich später nicht mehr erinnern. Noch vollkommen in Trance stieß er Alex an. Als dieser ärgerlich, weil er gerade in einer schwierigen Rechnung gestört wurde, aufschaute, bemerkte Herr Agrilla, dass er bemerkt wurde und ließ sein Buch unter dem Tisch verschwinden. Alex schaute Toby nur verständnislos an und flüsterte genervt: „Was ist denn?“ , doch Tobi winkte nur ab: Er wollte nicht, dass Herr Agrilla wusste, dass er von dem Buch wusste.

Währenddessen saß Lilly ein Stockwerk weiter oben und versuchte sich verzweifelt an Enzyme und deren Eigenschaften zu erinnern. Ihre Klasse schrieb einen unangekündigten Biologie-Test, den niemand erwartet hatte, und selbst wenn jemand gelernt hätte, hätte es ihm nichts genutzt, da die Fragen zu kompliziert gestellt waren. Lilly hatte noch nicht mal einen Blick auf den Hefteintrag von der letzten Stunde geworfen, deshalb gab sie auf: „Immerhin hab ich keine Eltern, die sich über eine schlechte Note aufregen können“, dachte sie zynisch.
Ihre Mitschüler regten sich immer darüber auf, dass ihre Eltern viel zu streng waren und ihnen Hausarrest gaben.
„Ach, was würde ich dafür geben, noch Eltern zu haben“ , seufzte sie und um nicht noch trauriger zu werden, wanderten ihre Gedanken zu Alex. Was er wohl gerade machte? Ob er auch an sie dachte? Wahrscheinlich nicht, für ihn war es ja nur ein kleiner Partyflirt, mit dem er noch nicht mal rumgeknutscht hatte, gewesen. Was würde er auch sonst von ihr wollen? Vielleicht hatte er sogar von ihrem Schicksal er fahren und hatte Mitleid mit ihr.
„Legt bitte die Stifte weg, eure Zeit ist zu Ende!“ Lilly schreckte aus ihren Gedanken auf. Dann nahm sie ihr leeres Blatt und gab es ab. Als sie sah, dass die meisten anderen wie sie auch nicht viel darauf geschrieben hatten, war sie beruhigt: Wenn der Test zu schlecht ausfiel, wurde er nicht gewertet. Dies kam bei ihrem Biolehrer öfter vor. Er hieß Gropp, wurde aber von seinen Schülern Kiki genannt, da die Cicerostatue in ihrem Lateinbuch ihm verblüffend ähnlich sah und so war aus Cicero Kiki geworden. Meist war Herr Gropp sehr freundlich und half auch oft bei Problemen, aber bei Tests war er knallhart.
Da gongt es auch schon. Lilly stand auf und verließ schnell das Klassenzimmer, um in ihre wohlverdiente Pause zu gehen.
Als sie die Treppe Richtung Pausenhof herunterging, bemerkte sie, dass Toby, ein guter Freund von Alex, wie sie auf der Party mitbekommen hatte, am Fuße der Treppe stand und nach jemandem Ausschau hielt.
Als sich ihre Blicke trafen, fixierte er sie und kam ihr langsam entgegen.
Da Lilly keine Lust hatte, sich blöde Kommentare über Alex und sie zu hören, wollte sie rasch an ihm vorbeigehen, doch Toby war schneller. Er hielt sie am Arm fest und stoppte sie so. „Was willst du? Lass mich los!“, rief Lilly, sodass sich einige Schüler nach ihnen umdrehten. Toby war das sichtlich peinlich, trotzdem zog er Lilly einige Meter weiter, wo es nicht so voll war, und beruhigte sie: „Reg dich nicht auf! Es ist nichts über gestern. Es geht mehr um ein persönliches Anliegen: Eure klasse hat doch gleich Herrn Agrilla, oder?“ Lilly nickte perplex und sah ihn verblüfft an: Wieso wollte er denn das wissen? „Gut. Könntest du mir einen Gefallen tun?“ Lilly zögerte: Was wollte er denn bloß von ihr? Sie kannte diesen Toby ja gar nicht wirklich. Trotzdem sagte sie: „Theoretisch schon. Worum geht es denn?“ Toby sah sich vorsichtig um und beugte sich dann geheimnistuerisch zu ihr vor: „Erklär mich nicht für verrückt, aber ich habe vorhin etwas echt Merkwürdiges gesehen: Herr Agrilla hat einem Buch etwas zu essen gegeben. Ich weiß, Bücher können nicht essen, aber ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Könntest du mir bitte den Gefallen tun und ihn etwas beobachten? Es wird zwar wahrscheinlich nichts passieren, weil seit er gemerkt hat, dass ich ihn gesehen habe, vorsichtiger sein wird, aber…“ – „TOBY!“
Toby brach den Satz ab und drehte sich abrupt um: Vor ihm stand Alex, der bedrohlich auf ihn herunterschaute. Das Ganze hätte sehr lustig ausschauen können, wenn Alex nicht so wütend ausgesehen hätte: „Was machst du da mit Lilly? Verarschst du sie? Oder erzählst du ihr den Schwachsinn, dass du irgendwelche essenden Bücher gesehen hast?“ – „Ja, er hat mir von dem Buch erzählt. Aber was ist daran so schlimm? Herr Agrilla macht öfter merkwürdige Dinge!“ Alex verdrehte genervt die Augen: „Jetzt hat er dich auch schon mit dem Quatsch angesteckt! Bücher können nicht essen und Herr Agrilla ist ein ganz normaler Lehrer!“ Da mischte sich Toby ein: „Das glaubst du ja wohl selber nicht! Du hast doch selber oft beobachtet, wie er kaputte Dinge nur durch einen Blick reparieren konnte und weißt du noch, wie als Lena, als sie sich über ihn beschwert hatte, nachdem er sie berührt hatte, Bauchkrämpfe hatte oder…“ Alex trat einen Schritt auf ihn zu, packte ihn und schüttelte ihn leicht: „Zufälle! Du fantasierst! Nur weil deine Mutter gestorben ist, als sie bei Herr Agrilla…“ Alex stockte und wich geschockt über seine eigenen Worte einige Schritte zurück: „Entschuldigung, Toby, ich wollte dich nicht verletzen, ich, ich, …“
Toby stand mit funkelnden Augen tief getroffen da, während ihm die Tränen die Wangen herunterliefen. Dann drehte er sich um und flüchtete aufs Jungenklo. Alex blickte betreten zu Boden, bis Lilly anfing zu sprechen: „Du hast seinen wunden Punkt getroffen, wie es mir scheint. Lass ihn jetzt erst mal zur Ruhe kommen und entschuldige sich später bei ihm.“ Alex blickte ihr tief in die Augen: „Und du behältst das mit seiner Mutter für dich! Es ist eigentlich ein Geheimnis: Herr Agrilla hat damals eine hohe Summe dafür gezahlt, damit nicht herauskommt, dass Tobys Mutter in seiner Sprechstunde gestorben ist. Toby hat es mit trotzdem erzählt. Herzstillstand oder so, bei ihr absolut unwahrscheinlich, sie war noch jung und absolut gesund. Also erzähl es bitte niemandem, okay?“
Lilly sag betroffen Alex ins Gesicht: „Aber er hat doch eine Mutter, dachte ich?“ – „Sie ist seine Stiefmutter. Kurz nach dem Tod kam sie in die Stadt und Tobys Vater verliebte sich sofort unsterblich in sie. Eigentlich kann ich ihn verstehen, sie sieht echt gut aus und sie ist nett und…“ Lilly unterbrach ihn mürrisch: „Bleib beim Thema!“ Obwohl es ihr eigentlich klar sein hätte müssen, ärgerte es sie: Er sah in ihr eben doch nur einen Partyflirt! „…aber natürlich ist sie nicht so süß wie du!“, sprach Alex weiter und grinste. Lilly versuchte sich vergeblich ein Grinsen u verkneifen. Um davon abzulenken, drängte sie ihn weiterzureden.
„Also seine Stiefmutter ist eine Verwandte von Herrn Agrilla und auch wenn sie Toby verwöhnt und ihm alles erlaubt, hasst er sie. Er meint, sie wäre absolut böse. Naja, aber seit dem Tod seiner Mutter ist er etwas merkwürdig, aber ich kann ihn verstehen. Vergiss das mit dem Buch.“
Lilly grübelte: Wieso sollte Herr Agrilla soviel Geld dafür zahlen, dass der Tod geheim blieb? Alex zuckte nur mit den Schultern: „Hat wahrscheinlich was mit seinem Ruf oder Beamtenstatus zu tun, den er als anständiger Lehrer haben will. Hab ich nie drüber nachgedacht“, gab Alex zu.
Lilly wollte noch etwas erwidern, wurde aber vom Schulgong abgehalten. So umarmte die Alex nur und stieg dann die Treppe durch die Schülermasse hindurch nach oben zu ihrem Klassenzimmer. Alex blickte ihr verträumt nach: Sie war das wunderbarste Mädchen, das ihm je begegnet war; sie war hübsch, hatte intelligente Augen, war auch noch klug, war witzig und sie lief nicht wie die restlichen Mädchen, die er kannte, mit 3 Tonnen Makeup im Gesicht herum, sondern war vollkommen ungeschminkt. Das hatte ihn am meisten beeindruckt, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Und sie schien genau gewusst zu haben, was Toby brauchte, so als wäre ihr so etwas Ähnliches selber passiert… Bevor Alex den Gedanken zu Ende denken konnte, bemerkte er Toby, der ohne ihn zu beachten die Treppe hochgehen und verschwinden wollte. Alex fluchte und lief ihm hinterher.

Als Herr Agrilla am Klassenzimmer ankam, bemerkte Lilly das Buch unter seinem Arm. Es war braun mit goldenen Verzierungen und sah sehr alt und wertvoll aus. Es hatte keinen Titel, vorne war nur ein merkwürdiges schräges Dreieck und eine Schaufel mit Gold eingraviert.
„Was das wohl zu bedeuten hatte? Was konnte das bloß für ein Buch sein?“, fragte sich Lilly.
Nachdem der Raum aufgesperrt war, setzte sich Lilly auf ihren Platz und war zum ersten Mal froh darüber, in der 1.Reihe zu sitzen. Sie hatte Herr Agrilla in Latein und war bei ihm als Einzige Einserschülerin, allerdings konnte er sie aus irgendeinem Grund nicht leiden.








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