Ist es Liebe? - Teil 10

Autor: Sara
veröffentlicht am: 12.09.2011


Morgana hatte einmal gesagt, dass die Menschen beim Blutspenden in das Becken eigentlich nicht sterben sollten, sondern nur einen kleinen Teil ihres Blutes geben mussten. Damon sollte so von freiwilligen Opfergaben umgeben sein, bevor er auch das Blut der Arkaios demütig trank und sich der Verantwortung dieses Titels bewusst wurde.

Entweder hatte Damon demnach den Sinn von allem nicht begriffen, oder Morgana hatte mal wieder etwas falsch verstanden.

Beides war absolut möglich.

Sam trat einen Schritt näher an die Menschen heran und sofort verharrten alle in der Bewegung. Wie Rehe im Scheinwerferlicht starrten sie ihn an und begannen zu sabbern. Sam rümpfte erneut die Nase und knurrte leise. Zwei Frauen jauchzten vor Schmerz, als sich der Unterkieferring ins Fleisch unter ihrer Zunge bohrte.

Damon war auf Nummer Sicher gegangen bei seinen Vorbereitungen. Damit die Menschen nicht auf dumme Gedanken kamen und vielleicht sogar eine Möglichkeit der Flucht am Tage fanden, hatte er all seinen Menschen Kieferringe implantieren lassen. Der Ring saß senkrecht unter der Zunge der Menschen und trat hinter dem Kinn, über dem Hals wieder aus. Der obere Rand des Ringes war gerade mal weit genug, um zwischen den Zähnen hindurchzugehen. Nicht wenige von den Opfern hatten sich diese Zähne bereits ausgeschlagen, sodass oben und unten eine große Lücke war. Sie konnten ihre Münder nicht schließen. Deshalb sabberten sie, als sich die Ketten, die am Ring hingen, zwischen der Zellwand und ihren Kiefern spannten.

Sie konnten nicht mehr fliehen, außer sie rissen sich den Unterkiefer aus. Dies wäre auch kein allzu appetitlicher Anblick, abgesehen von dem Schmerz. Zwei der Gefangenen waren tatsächlich so bescheuert gewesen und hatten versucht zu fliehen. Bei einem hatte die Zunge seinen Adamsapfel gestreichelt, nachdem der Kiefer weg war.

Er spürte plötzlich, wie Damon versuchte sich an ihn heranzuschleichen. Der junge Vampir glaubte tatsächlich, dass er Sam irgendwann überraschen konnte. Das konnte er nicht, aber diesmal ließ Sam sich Zeit, bevor er reagierte. „Damon." Wahrscheinlich hoffte der Vampir, eines Tages eine Schwäche bei Sam zu finden, die ihm über den Pakt hinaus die Loyalität des Werwolfs garantierte.

Sam machte sich nichts vor über den Charakter seines persönlichen Mephistos.

„Sam", grüße Damon leicht gereizt und sprach seinen Namen dabei wie einen richtigen, menschlichen Namen aus: Zäm.

Sam war in Wahrheit nur die einfachste Form, seinen echten Namen für einen Menschen auszusprechen. Eigentlich war es nur ein tierischer Zischlaut und ein Schnappen. Sss-Ham. Er machte sich nichts draus, dass Damon sich keine Mühe dabei gab, den Namen richtig auszusprechen. Außerdem hatte sich Sam einfach an die menschliche Form gewöhnt.

„Hat es dir gefallen?", fragte Damon leise und trat an die Zelle seines Vaters heran. Seine Augen leuchteten, als er das Chaos aus Blut und Fleisch sah. Es war das erste Mal, dass er diesen Raum betrat und das Ausmaß von Sams Besessenheit erfuhr. Seine dunklen Augen ergötzten sich glänzend an den schwammigen Überresten des Werwolfs und richteten sich erst nach einer ganzen Weile auf Sam. Sein dunkles Haar blieb bei dieser Bewegung glatt an seinem Kopf gepresst, als hätte er es gerade erst mit einem Kamm und Pomade nach hinten gestrichen. Ein Muskel in seiner Wange zuckte und zeigte so ein kleines Grübchen, das Frauen als süß empfanden, wie Sam schon einige Male gehört hatte. Damon war tatsächlich ein überaus attraktiver Mann; seine schlanke, muskulöse Gestalt hatte die Proportionen, die Künstler seit der Antike einzufangen versuchten. Sein Gesicht war das eines gutaussehenden, netten Mannes, der die Einkäufe seiner Nachbarin in den achten Stock trägt. Alles an ihm war die perfekte Fassade für einen Massenmörder, der in den Gedärmen seiner Opfer badet.

Sam ließ die Menschen nicht aus den Augen, bevor er antwortete. „Ja." Er war kein Wesen vieler Worte. Dafür war er zu viel Tier, um sich um Kommunikationsregeln zu scheren.

Auch Damon war kein Vampir, der gern redete oder mehr preisgab, als er wollte. Jedes seiner Worte war immer lange abgewogen worden. Trotzdem spürte Sam, wie gerne Damon endlich fragen würde, weshalb diese Folter für Sam so wichtig gewesen war, dass er dem Vampir mehr oder weniger sein Leben verschrieben hatte. Doch auch diesmal war Damon klüger, als man einem so jungen Vampir zutrauen könnte.

„Die Königin hat sich angemeldet", sagte Damon schließlich und richtete seinen Blick nun auch auf die Menschen. Auch seine Augen verrieten allerlei Ideen für einen möglichen Zeitvertreib für die Nacht.

Solche Informationen teilte er mit Sam nur aus einem einzigen Grund: Sam sollte sich für den Ernstfall bereit halten, wenn die Königin kam. Er zog seine Oberlippe hoch und beleckte sich die Zähne. „Das Rudel wartet schon draußen, um mir in den Arsch zu kriechen."

Damon ließ ein kurzes Grinsen aufflammen. „Schön. Ich hoffe, sie werden von nun an tagsüber für die Sicherheit der Vampire in diesem Gebäude sorgen."

Sie müssen, dachte Sam und nickte stumm. „Hast du etwas anderes erwartet, Vampir?"

Damon warf ihm von der Seite einen Blick zu, dann lachte er und klopfte dem Werwolf spielerisch auf den Rücken. „Nanana, erst einen Tag der Alpha und schon arroganter, als dir gut tun könnte. Wir haben ein Abkommen, Sam", fügte er schärfer hinzu. „Mach keinen Unsinn."

Sam wandte sich von den Menschen ab. „Ich halte mein Wort", sagte er fest. „Ohne Wenn und Aber."

Damon nickte befriedigt. „Es wird sich für dich lohnen."

Das bezweifelte er nicht. Sam warf einen Blick auf die Leichenteile seines Vaters. Es hatte sich schon mehr als hundertfach gelohnt, selbst wenn Damon jetzt sofort von ihm verlangen würde sich umzubringen. Er würde es augenblicklich tun, denn er stand zu seinem Wort, auch wenn Damon das nicht wirklich zu verstehen schien. Er atmete tief den Geruch des Kadavers ein. Dann seufzte er innerlich und machte sich auf den Weg, mit seinem Rudel zu sprechen und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihm in den Arsch zu kriechen.

Das Problem an dieser ganzen Sache war nicht, dass es sich nicht lohnen könnte, dachte er als er durch die Gänge lief und Damons letzte Worte in seinem Kopf nachhallen hörte. Das Problem war, dass es vorbei war. Denn nun hatte Sam überhaupt keinen Grund mehr zu leben.

*

Alec Slaughter starrte den Fernseher an, als ihm klar wurde, dass er gerade Bilder von Grace Vergangenheit sah. In den Nachrichten wurde seit heute Morgen über Grace Leben diskutiert und die Zusammenhänge zwischen dem Unfalltod ihrer Mutter, dem Mordversuch ihres Vaters und dem „Massaker von Dimesville" hergestellt. Das Leben der Fosters war durchgehechelt worden und überall meldeten sich Klassenkameraden und weit entfernte Nachbarn, die unbedingt ihren Senf dazugeben wollten. Über die religiöse Gemeinschaft an sich wurde von einem „Sektenexperten" aufgeklärt, der zwischen den Morden und einigen Selbstmordkommunen interessante Vergleiche zog. Regelmäßig wurde Charles Manson eingeblendet wie bei einer Gehirnwäsche, bis schlussendlich der Polizeichef Robert McIntyre angab, dass es keinerlei Parallelen zwischen diesem Massaker und ähnlichen Vorfällen gab. Die Fosters waren wahrscheinlich genau wie die bekannte Hollywood-Chirurgin Grace Newlands Opfer eines Außenstehenden. Profiler hätten bereits ein Täterbild konstruiert.

Sie zeigten einen Mann Mitte dreißig mit langen Haaren und einen Bartschatten, der zum Zeitpunkt der Tat wohl einem Tankwart aus der Gegend aufgefallen war.

Fast hätte Alec gelacht. Fast. Stattdessen glitt sein Blick langsam vom Fernseher, der immer noch Bilder von dem abgesperrten Haus der Fosters zeigte, zum Schlafzimmer des erstklassigen Hotelzimmers. Grace schlief schon wieder. Sie war einige Male seit ihrer Flucht aufgewacht, allerdings war sie von den Medikamenten, den Schmerzen und ihrem Fieber so betäubt, dass sie Schwierigkeiten hatte, ihn zu erkennen. Sie murmelte nur jedes Mal irgendetwas von einer Toilette und trank danach ein bisschen dicke Brühe.

Zum Glück war ihr Fieber mittlerweile runtergegangen. Ihr ging es deutlich besser, auch wenn sich an ihrem Verhalten nicht viel änderte. Meist schlief sie ganz ruhig, doch von Zeit zu Zeit schien sich ihr ganzer Körper in einem Starrkrampf anzuspannen. Zuerst hatte er es für Schüttelfrost und Fieberschübe gehalten, doch dann wurde ihm klar, dass sie träumte.

Er seufzte leise und stand vom sündhaftteuren Ledersofa auf, um nach ihr zu sehen. Der Arzt war gestern und heute Nachmittag da gewesen, während er in einer Nische im begehbaren Kleiderschrank geschlafen hatte. Er hatte auch eine ganze Menge andere Menschen mental beeinflussen müssen; nur an Grace kam er immer noch nicht heran.

Alec hatte allerdings eine ganze Menge anderer Probleme, als sich weiterhin Gedanken um diese Metallplatte in ihrem Kopf zu machen; angefangen damit, dass er kein Geld hatte; dass Grace nicht in der Öffentlichkeit gesehen werden durfte, sonst würde man das „Opfer des Massakers" schnell zum „Täter" machen. Außerdem stand ihm ein Krieg bevor und er konnte nichts weiter tun, als in diesem Zimmer zu hocken, bis es Grace endlich besser ging.

Dann erst konnte er sie in Sicherheit bringen und seine Waffen schärfen. Diese Warterei zerrte an seinen Nerven, doch er hatte keine Wahl. Schließlich schuldete er ihr etwas. Nämlich sein Leben. Und mehr als das: seinen Verstand.

Und es gab noch vieles mehr, das ihm Sorgen bereitete: Er hatte keine Ahnung, ob seine Flucht schon bemerkt worden war. An sich würde es ihn nicht stören, wenn Damon mit seiner ganzen Armee in die Höhle des Löwen galoppieren würde. Das würde die ganze Sache nur auf angenehme Weise beschleunigen. Wenn es nicht Grace gäbe und die Gefahr für dieses menschliche Wesen viel zu hoch war, würde er sogar eine Einladungskarte schreiben. Mit einem Smiley am Rand.

Wegen Grace war er gezwungen abzuwarten. In dieser Zeit könnte er sich natürlich Gedanken machen, Pläne schmieden oder Kontakt zu seinen Vertrauten und den Wahren Familien aufnehmen, um den Krieg anzuzetteln. Stattdessen erwischte er sich Nacht um Nacht dabei, wie er einfach auf Grace' Bettkante saß und sie betrachtete.

Er hatte immer noch nicht ihre Augenfarbe gesehen. Zwar war er sich mittlerweile ziemlich sicher, dass sie grün waren, aber mit absoluter Sicherheit wusste er es eben nicht. Und das machte einen von Natur aus neugierigen Vampir ziemlich verrückt.

Seine nackten Füße versanken in dem dicken Perserteppich, als er das Schlafzimmer erreichte und sich wie jede Nacht neben Grace ausstreckte. Ihr Köper entspannte sich unwillkürlich, als er über ihre zarte Stirn strich. Sie hatte jede Menge Blessuren; wegen des Fiebers hatte Alec sie ein paar Mal eiskalt baden müssen, um ihre Temperatur zu senken, deshalb kannte er ihren Körper. Und er kannte die vielen Verletzungen. An der Schläfe hatte sie eine aufgeplatzte Wunde und an ihrem Hinterkopf war ihr Haar verschorft. Sie hatte viele Verletzungen in ihrem Intimbereich und er meinte sogar Risse an ihrem Anus entdeckt zu haben. Ihre Handgelenke und Fußknöchel waren bis auf das Fleisch abgerieben von zahllosen Versuchen sich aus ihren Fesseln zu befreien. Sie hatte die ganze Zeit gekämpft, selbst als das Blut über ihre Finger gelaufen sein musste. Sie hatte auch im Bunker die ganze Zeit gekämpft. Erst als ihre Lungenentzündung sie in die Knie zwang, hatte sie aufgehört, Zentimeter für Zentimeter der Wände abzuklopfen auf der Suche nach einem geheimen Ausgang. Sie war nicht hysterisch geworden; Grace hatte nicht einmal über ihre Lage geweint. Wortlos und ohne auch nur ein einziges Mal zu klagen hatte sie das alles einfach hingenommen. Selbst die Existenz der Vampire, ihre Opferrolle in dem Stück und den nahenden, fast sicheren Tod.

Er hätte es tatsächlich nicht ertragen, wenn er mit angesehen hätte, wie sie einfach starb. Sie hatte ihm freiwillig ihr Blut gegeben; vielleicht lag es ganz einfach an diesem Bund zwischen ihnen, dass er krank bei dem Gedanken geworden war, sie einfach zu verlieren. Er war verantwortlich für sie. Und nicht nur das. Er... Er mochte sie. Sehr.

Seit Jahrhunderten genoss er das erste Mal wieder die Gesellschaft eines anderen Wesens. Natürlich hatte er in dieser Zeit oft die kurzweilige Gesellschaft von weiblichen Wesen gesucht. Meist Vampire, denn diese konnten körperlich mehr aushalten, als einfache Menschen. Unwillkürlich fragte er sich, ob er Grace beim Ficken zerbrechen würde. Mental war sie stark, das stimmte, aber sie hatte eine mehr als zierliche Statur. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie sie bis zu neun Stunden am OP-Tisch stehen konnte. Aber hinter ihrer hübschen Fassade lag einiges an Kraft, Ausdauer und Mut versteckt. Er strich wieder über ihre Schläfe und atmete tief durch.

Als er sie gebadet hatte, war er vertraut mit ihrem Körper geworden. Er war ein Gentleman geblieben und hatte sie nicht unzüchtig berührt. Was allerdings nicht hieß, dass er nicht hingesehen hatte. Jetzt steckte dieser verführerische Körper in einem einfachen, offenen Leinenhemd, weil seine Hände beim Schließen der Knöpfe einfach zu stark gezittert hatten.

So peinlich es auch war, aber schlussendlich war er auch nur ein männliches Wesen und reagierte wie jeder andere mit einem Schwanz auf die nackten Rundungen einer durch und durch perfekten Frau: Innerlich wie äußerlich.

Auch jetzt zitterten seine Finger leicht, während er sich die Formen unter dem Hemd und der dünnen Sommerdecke vorstellte. Sie hatte hübsche Brüste. Wirklich, wirklich hübsche Brüste. Auf der sahnigen, milchweißen Haut krönten zwei kleine münzgroße Brustwarzen die vollen Rundungen. Ihre Taille war erschreckend schmal; genau wie auch ihre Hüfte nur zart und weiblich geschwungen war ohne ein Gramm fett. Auf Französisch würde er sie als petite bezeichnen, denn es gab in allen anderen Sprachen einfach kein perfekteres Wort für ihre zierliche Figur. Ihre Brüste füllten seine Hände aus und das war mehr als genug. Das wusste er, weil er sie schließlich waschen musste. Nachdem er ihre Haare zwei Mal eingeseift hatte, war schlussendlich unter dem kupferbraunen, blutbedeckten Fetzen ihr natürliches, eisblondes Haar hervorgekommen. Nun, sie war bezaubernd. Aber es war eben nicht die Oberfläche, die ihn wirklich faszinierte.

Es war ihre Art Fragen zu stellen. Es war ihre Art zuzuhören und über seine Witze zu lachen. Es war ihre Art sich an ihn zu kuscheln und zu entspannen, wann immer er in ihre Nähe kam. Und es war diese ungezwungene Art mit der sie mit ihm umging. Sie knuffte ihm in die Seite, als sie enttäuscht war, weil er bei der Erfindung der Gabel lieber in Skandinavien den Geschichten von Beowulf gelauscht hatte. Und sie rollte mit den Augen, als er zurückgab, dass auch sie gerade nicht im mittleren Osten die Kriege miterlebte. Das ließe sich nicht vergleichen, meinte sie und fragte dann nach Beowulf. Sie war clever und sie verstand die meisten Dinge auf Anhieb. Das seltsamste allerdings war, dass sie ihn von Zeit zu Zeit tröstete. Mitleid für ihn empfand.

Das war definitiv verstörend. Und gleichzeitig genoss er das. Was noch verstörender war.

Es war so verdammt einfach diese Frau zu beeindrucken. Sie fand es zwar ziemlich erstaunlich, dass er schon seit Menschengedenken lebte und viele geschichtliche Lücken füllen konnte. Sie fand es auch ganz interessant, dass er überall gewesen war. Aber richtig beeindrucken konnte er sie damit nicht. Auch nicht mit seinem Dasein als Vampir oder mit seinen mentalen Fähigkeiten. Wirklich aus dem Häuschen war sie erst, als er erzählte, dass er Chinesisch sprechen konnte. Am Ende nahm sie ihm sogar das Versprechen ab, ihr die Sprache beizubringen. Und mindestens acht Zeichen.

Warum sie die Zeichen und dann auch noch so wenige lernen wollte, war ihm vollkommen schleierhaft. Sie würde damit nichts machen können, sich schon gar nicht unterhalten, aber sie hatte etwas von einem zweiten Standbein gemurmelt und davon, dass sie dann zumindest einen Tattooshop eröffnen konnte. Chinesische Zeichen seien immer noch sehr beliebt.

Seit er sie kennengelernt hatte, wurde er das Gefühl nicht los, dass er in den letzten fünfzig Jahren einfach viel zu viel verpasst hatte. Dabei hielt er sich, wie es sich für einen Kriegsherrn gehörte, über Technologie, Waffenerrungenschaften und Technik auf dem Laufenden. Aber Sprache und das gesellschaftliche Leben hatte sich wohl noch nie so schnell entwickelt.

Er strich über ihre Augenbraune und zuckte leicht zusammen, als sie sich plötzlich wieder verkrampfte. Ein neuer Traum. Verdammt, als hätte sie nicht schon genug gelitten. Er ließ seine Lippen kurz auf ihre zuckenden Augenlider sinken und nahm sie dann vorsichtig in den Arm. Ein Teil ihrer Anspannung wich augenblicklich aus ihrem Körper, aber ihre Lider zuckten weiterhin und ihre Beine bewegten sich ruhelos. Auch ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Er griff nach ihren Fingern und gab einen erschreckten Laut von sich, als sie plötzlich zischend ausatmete und die Augen aufschlug. Ganz aufschlug.

Er starrte in die hellblausten Augen, die er jemals gesehen hatte. Das Gemisch aus Türkies und Azurblau erinnerte ihn unwillkürlich an die Farbe des Himmels an einem heißen, trockenen, wolkenlosen Sommertag in der Toskana. Oder über Ägypten. Obwohl es Jahrtausende her war, dass er den taghellen Himmel gesehen hatte, war der Vergleich so präsent und allumfassend, dass er instinktiv für einen Moment die Augen schloss und das Brennen der Sonne auf seiner Haut erwartete.

Für den Anblick ihrer Augen würden Vampire alles geben. Es erinnerte sie an die Vollkommenheit des Tages ohne Gefahr zu laufen, von diesem Anblick verbrannt zu werden. Er atmete unwillkürlich tiefer, als ihre Augen langsam zu ihm glitten und ihn ansahen. Emotionen füllten für einen Moment dieses unglaubliche Blau, bevor sie blinzelte und ihn schließlich zu erkennen schien, obwohl sie ihn in der Dunkelheit noch nie gesehen hatte. Vielleicht reichte einfach die körperliche Nähe, um ihn erkennen zu können.

„Alec?", fragte sie mit rauer und gleichzeitig heller Stimme.

Er konnte nicht anders; er berührte sanft ihre Wange und strich bis zu ihrem Mundwinkel. „Ja?"

Sie rang einen Moment mit sich selbst, bevor sie stumm ihre Finger um seine schloss und sich an seine Brust schmiegte. Sie atmete einige Male tief und langsam durch. Es kam ihm so vor, als versuche sie seinen Duft in sich aufzunehmen. Vielleicht bildete er sich das auch gerne ein. Plötzlich fühlte er, wie sich ihre Hand in seinen Hemdkragen schob und nach seiner Haut tastete.

Die Berührung erhitzte ihn augenblicklich, als ihre Finger über seinen Brustmuskel und sein Schlüsselbein glitten. Er spannte sich leicht an und bezwang den Drang, seine Hüfte an sie zu schmiegen, um den Druck seiner wachsenden Erektion zu mindern. Stattdessen streichelte er unschuldig ihren Rücken. Allerdings half das auch nicht viel, denn die Decke war von ihren Schultern geglitten und bedeckte nun nur noch halbherzig ihren runden, festen Arsch. Er hatte auch diese Formen schon möglichst distanziert gewaschen, allerdings war es jetzt anders, denn sie war nun wach. Wach und anschmiegsam und lebendig.

Er hatte sich ausgemalt, was für ein Gefühl es sein würde, diese zarten Berührungen nicht nur auf seinem Gesicht zu fühlen, sondern auf seinem ganzen Körper. Er hatte es sich nur vorstellen können, denn tatsächlich hatte er nichts gefühlt; wahrscheinlich war deshalb die Realität umso süßer. Ihre Fingernägel gruben sich leicht in seine nahezu unzerstörbare Haut und ließen ihn vor Lust schaudern. Sie hielt sich so einige Augenblicke an ihm fest, bevor ihr Griff wieder erschlaffte und er den Blick hob. Sie war nicht wieder eingeschlafen. Ihre Augen waren offen und blickten ihn an. „Du siehst ganz anders aus, als ich mir vorgestellt habe", sagte sie.

Sein Lächeln kippte an den Mundwinkeln. Er wusste, dass er auf eine sehr ursprüngliche Art und Weise ein anziehender Mann war. Narben in seinem Gesicht und an seinem Körper zeigten eine faszinierende Geschichte, die Frauen egal welcher Rasse, ob Mensch oder Dämon, unbedingt hören wollten. Er wusste allerdings auch, dass er keinesfalls im klassischen Sinne schön war. Seine Augenbrauen waren zu buschig, seine Wimpern waren kurze, schwarze Stacheln über seinen undurchdringlichen, grauen Augen. Seine Wangenknochen waren viel zu scharf und sein Kinn viel zu arrogant hervorgehoben. Er war beileibe nicht hässlich, aber es war schon vorgekommen, dass er auf einige weibliche Wesen keinen positiven Effekt hatte.





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