Ist es Liebe? - Teil 8

Autor: Sara
veröffentlicht am: 09.09.2011


Es dauerte noch ein paar Momente, bis das Gefühl vollkommen ablaute. „Das war's?", fragte sie und konnte die Enttäuschung nicht unterdrücken, die in ihrer Stimme mitschwang.

Er lachte leise und hörte sich tatsächlich gleich viel kräftiger an. „Das war es schon."

Dann habe ich mir ganz umsonst Sorgen gemacht, dachte sie noch, bevor ihr einfiel, wo sie war.

*

Grace hustete und drehte sich halb zur Seite, um nicht auf Alec zu spucken. In der ersten Nacht hatte er ihr angeboten, auf ihm zu schlafen, weil der Boden zu kalt war. Er hatte es in einem überraschend ernsthaften Tonfall gesagt, ohne jede Anzüglichkeit. Wie lange war das her? Ein paar Tage? Oder doch mehr?

Ihr Körper wurde vom nächsten Hustenanfall geschüttelt und sie schmeckte plötzlich Blut. Himmel, sie hatte sich zum Glück nur auf die Zunge gebissen. Schwach kuschelte sie sich wieder an Alecs Brust und lauschte automatisch. Natürlich hatte er keinen Herzschlag und nachdem sie sich daran gewöhnt hatte, hatte er sogar aufgehört zu atmen, wenn sie in der Nähe war oder ihn berührte.

Ihre Brust schmerzte bei dem nächsten Atemzug und zog sich qualvoll zusammen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis das Fieber stärker wurde und sie in einem Delirium versinken würde. Schon jetzt wurde sie von Hitzeeinbrüchen und Kälteschauern gebeutelt.

Alec hatte immer wieder versucht, sie zu überreden, dass sie ihm dieses Silberding aus der Wirbelsäule entfernte. Spätestens morgen würde er endlich aufhören. Denn dann wäre sie zu schwach.

Sie hatten viel geredet. Mit ihrem Stimmen hatten sie die Dunkelheit gefüllt und auch jetzt erzählte Alec mit ruhiger, leiser Stimme von einer längst vergangenen Zeit und von gesichtslosen Fremden, an die er sich erinnern konnte. Es gab ihr ein gutes Gefühl, ihn reden zu hören. Es war nicht nur wie ein angenehmes Nebengeräusch wie bei einem laufenden Radio; es war viel mehr. Es waren seine geheimsten Gedanken und Gefühle. Seine Erinnerungen. Und die teilte er mit ihr.

Er erzählte gerade von einem Stamm im heutigen Schottland, das er im dritten Jahrhundert besucht hatte. Sie war ziemlich enttäuscht gewesen, als er nichts aus dem alten Griechenland erzählen konnte. Zu dem Zeitpunkt hatte er lieber im heutigen Polen ein paar Städte dem Erdboden gleichgemacht. Diese Geschichten sollten sie erschrecken, doch das taten sie nicht. Vielleicht lag es daran, dass er vieles von dem bereute. Er hatte einmal sogar gesagt, dass dieses ganze Chaos, dieses Leid damals einfach anders war. Man veränderte sich, sagte er. Frauen waren damals unbeschadet aus Vergewaltigungen hervorgegangen, weil es zum Alltag gehörte. Krieg, Hunger, Plünderungen und Leid waren einfach normal. Er hatte nicht darüber nachgedacht, was es für die Menschen bedeutete. Heute dachte er anders darüber. Und deshalb empfand sie das auch nicht als so unglaublich schlimm. Es war gut, die Wahrheit zu wissen. Er machte ihr nichts vor. Er hatte noch ein paar Mal von ihr getrunken und jedes Mal war dieses berauschende Gefühl zurückgekehrt, doch seit sie Fieber hatte, fing er an sich ernsthaft Sorgen zu machen. Sie hörte es in seiner Stimme, wenn er versuchte sie zu wecken.

Sie hustete wieder und spürte das Brennen tief in ihrer Lunge und in ihrem Hals.

„...färbten sich gern zum Kampf die Gesichter ein, weil sie glaubten dadurch wie Dämonen auszusehen. Sie wollten ihre Feinde so ängstigen und sie in die Flucht schlagen", erzählte Alec und verstummte dann. „Grace?"

„Hm", machte sie schwach. Sie war nicht müde; das ständige Husten hielt sie zwar wach, aber auch seine fesselnden Geschichten.

„Tu mir das nicht an."

Sie richtete sich halb auf. „Was?", hustete sie leise und griff sich an die Brust, als das Ziehen schlimmer würde.

„Lass nicht..." Er räusperte sich. „Bitte Grace, lass nicht zu, dass ich dir einfach beim Sterben zuschaue."

Überrascht hob sie die Augenbrauen. Er hatte schon eine Menge Angriffe gestartet, um sie zum Operieren zu bringen: Er hatte versucht sie so zu verärgern, dass sie ihm fast den Tod wünschte, indem er all seine Grausamkeiten aufzählte. Er hatte es mit Schmeichelei versucht; er hatte ihr erotische Geschichten erzählt und immer wieder anklingen lassen, was er alles mit ihr tun würde, wenn er sich doch endlich bewegen könnte. Sie war einige Male in Versuchung geraten, doch sie wollte ihn nicht umbringen. Sie wollte nicht allein sterben. Vielleicht war es egoistisch, nicht allein sterben zu wollen, aber sie wollte ihn nicht umbringen und danach nur mit ihren eigenen grausamen Gedanken erfüllt sein.

„Bitte", flehte er wieder und ihr wurde klar, dass es ihm tatsächlich ernst war. Hier ging es nicht um eine mögliche Flucht. Hier ging es einfach um die Tatsache, dass er ihren Tod nicht miterleben wollte.

„Warum?", fragte sie deshalb.

„Ich will lieber sterben, als mitzuerleben, wie du dein Leben aushauchst..."

Schockiert von seinem Geständnis sah sie ihn an. Sie hatten beide in den letzten Tagen jede Menge Erinnerungen und Emotionen geteilt. Die Nähe zwischen ihnen war gewachsen und kleine Witze hatten ihr immer wieder gezeigt, dass er über einen wunderbaren Humor verfügte. Auf der anderen Seite war er natürlich eine ziemlich gebrochene, einsame Persönlichkeit, die oft versuchte sich hinter dem Deckmantel von Humor zu verschanzen. Sie kannte das. Sie machte es selbst oft genug, doch sie spürte auch, wann er einfach nur einen Scherz machte. Aber diese Vertrautheit hatte sie die ganze Zeit für einseitig gehalten. Und plötzlich erklärte er in einem erschreckend ernsten Ton, dass es ihm nicht völlig egal war, wenn ein weiterer Mensch in seiner Nähe starb. Er wollte nicht sehen, wie sie starb. Er wollte es im schlimmsten Fall einfach nicht miterleben und lieber selbst sterben.

„Lass mich nicht betteln", raunte er heiser.

Dieser Satz, dieser letzte Satz überzeugte sie schließlich völlig. Er war seit nahezu zwei Jahren in diesem Loch gefangen und er hatte sich nicht einmal beschwert. Nicht einmal um ihr Blut hatte er gebeten, obwohl sein Bauch aufgebläht war vor Hunger. Er hatte alles wortlos und klaglos ertragen. Und ihr Tod würde dies ändern.

„Wenn wir uns im Himmel begegnen, musst du mich aber vor den geistig Armen beschützen, okay?" Sie erhob sich schwerfällig von seinem Körper und wankte langsam zu dem Regal, das sie in der Dunkelheit nahezu auf Anhieb fand und die einzelnen Geräte hochhob. Sie wollte gar nicht darüber nachdenken, wie voll diese mit Keimen waren. Wenigstens war er gegen nahezu alle Krankheiten immun.

Sein Lachen klang angespannt und unendlich erleichtert gleichzeitig. „Weshalb glaubst du, dass wir in den Himmel kommen?"

„Ich werde Gott schon überzeugen. Ich hab eine Weile Jura studiert." Sie ging zurück zu ihm und breitete die Skalpelle und Klemmen sorgfältig vor ihr aus, um in der Dunkelheit immer sofort nach dem richtigen Instrument zu greifen. Fest packte sie nach ihren Schultern und drehte Alec schwerfällig um, bis er auf den Bauch rollte. „Geht's?"

Er grunzte leise. „Ich denke doch. Und... Grace? Danke."

Sie suchte nach der Stelle und tatsächlich fand sie zwischen seinen Schulterblättern eine deutliche Ausbeulung. „Dank mir besser später. Oder gar nicht. Oder so."

Er lachte leise, als sie den ersten Schritt durchführte. Eine seltsame Flüssigkeit lief über ihre Finger. Unwillkürlich fragte sie sich, ob sie sich durch eine kleine Fingerwunde an seinem... Vampirismus anstecken konnte. Nun, es spielte eh keine Rolle.

Vollkommen blind klemmte sie die Fleischlappen auf und fixierte sie fest. Trotzdem fühlte sie an ihren Fingerspitzen, wie sich die Wundränder schlossen. „Oh Gott, das ist so bescheuert", murmelte sie, während sie mit dem Finger in die Flüssigkeit stieß und fühlte, wie sie zwischen ihren Fingern aus der Wunde rann. Der Geruch von fischigem, faulem, käsigem, altem Eiter durchdrang selbst den Verwesungsduft des Raumes. Übelkeit regte sich in ihr, auch wenn sie schon schlimmere Abszesse in ihrem Studium gesehen und gerochen hatte. „Wahrscheinlich drücke ich dir jetzt gleich das Silberding durch die Wirbel und köpfe dich", flüsterte sie leise. „Das Ding ist von einer Eiterblase umgeben, die das Ding isoliert. Wahrscheinlich lebst du deshalb noch."

„Gut zu wissen", zischte Alec zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Plötzlich fühlte sie an ihren Fingern Blasen aufsteigen. Wie bei einem Getränk mit Kohlensäure. Sofort griff sie nach einer Pinzette. „Das ist vollkommen unmöglich", meinte sie im Plauderton. „Das Silber hat die kompletten Knochen zerfressen und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Nerven noch leben. Warum bist du nicht tot?"

„Magie", grunzte er.

Nun, von der Logik und dem Menschenverstand her war er definitiv tot, also... Weshalb kam sie dann mit solchen Fragen? Sie wusste es schließlich besser. Die Pinzette glitt durch die zähflüssige Feuchtigkeit und traf auf einen klingenden Widerstand.

Alec zischte, als sie verharrte. Aufatmend umfasste sie das kleine Plättchen und zog daran. Kleine Widerhaken hielten es einen Moment an der Stelle, bevor sie es entfernte und die Klemmen löste. „Alec?"

Er antwortete einen Moment nicht, bevor er langsam aufatmete. „Es wird besser."

Sie atmete erleichtert ein und wurde sofort von einem Hustenanfall eingeholt. Der Schmerz wurde schärfer und schien ihre Atemröhre zu verätzen, während Tränen in ihre Augen stiegen und sie nach Luft rang. Plötzlich fühlte sie eine Bewegung an ihrer Hand und spürte, wie sich seine Finger um ihre schlossen. Rau versuchte sie den Hustenreiz zu überwinden und atmete langsamer, doch der brennende Reiz wurde nicht besser. Wortlos drückte sie seine Hand und legte ihre andere über seinen Mund, wie so oft. „Trink, vielleicht geht es dann schneller."

Er zögerte eine Weile, bis sie von einem erneuten Hustenanfall geschüttelt wurde. Es war, als hätte sie während der schnellen, stümperhaften und vollkommen bescheuerten Operation den Husten unterdrückt, bis er nun sein Ventil fand. Sie fühlte nur schwach, wie sich diese wunderbare Wärme in ihren Körper ausbreitete, während er trank. Dabei rollte sie sich zusammen und griff nach ihrer Brust, um endlich wieder Luft zu bekommen. Er trank diesmal deutlich mehr, fiel ihr auf. Vielleicht kam es ihr auch nur so vor.

Ihre Lunge schien zu reißen, so schmerzhaft wurde jeder einzelne Atemzug. Trotzdem fühlte sie deutlich den Moment, als er aufhörte zu trinken und sich langsam erhob.

„Danke, Grace", sagte er leise und fasste nach ihren Schultern.

Seltsam weggetreten nahm sie wahr, wie er sich zu ihr beugte und sie gleichzeitig näher zu sich zog. Hatte er etwa vor sie zu beißen? Sie seufzte leise; selbst das tat weh. Er hatte sie wirklich nur manipuliert. Vielleicht würde es wenigstens schnell gehen, wenn er ihr in den Hals biss, statt in das Handgelenk. Distanziert fühlte sie, wie er ihr über den Hals leckte und dann den Kopf hob. Vorsichtig, nahezu nicht wahrnehmbar legten sich seine Lippen auf ihre. Er... Oh Gott! Er küsste sie!

Ungläubig schloss sie die Augen und genoss dieses leidenschaftliche Gefühl seiner Lippen auf ihren, bevor sie vom nächsten Hustenanfall geschüttelt wurde. Er strich ihr über den Rücken, bis sie sich beruhigt hatte.

Er küsste ihre Schläfe und drückte sie fest an sich, während er die Hände unter ihr Knie legte und sie mühelos hochhob. „Ich hol uns hier raus", wisperte er leise und sie drückte ihr Gesicht an seine vertraute Brust. Fast meinte sie einen Geruch an ihm wahrzunehmen, der verführerisch, statt ekelhaft war.

„Okay", meinte sie und versuchte ein Nicken.

Dann vibrierte plötzlich ihre Kopfhaut und ihr wurde klar, dass er gerade seinen Kräften freien Lauf ließ. Um sie herum begann die Luft zu schwirren. Es war, als würde die Luft aus Wasser bestehen, in der sich Zucker auflöste. Ein seltsam faszinierendes Bild.

Die Schwingungen breiteten sich aus und brachten die Wände zum Zittern. Das Jucken in ihrer Kopfhaut verstärkte sich und ihr Blick verschwamm, dabei hörte sie, wie um sie herum Betonbrocken auf den Boden fielen. Er sprengte offensichtlich den Raum.

„Warum hast du das nicht vorher getan?", nuschelte sie.

Seine Kraft verebbte kurz, als müsse er sich konzentrieren, um jetzt reden zu können. „Was hätte es gebracht, wenn wir von Gestein und Schutt bedeckt werden?"

Gutes Argument, dachte sie noch, bevor sie die Gewalt seiner Kraft traf. Ihr schwammen die Sinne, während das Jucken zunahm. Das war mit Sicherheit nicht unbedingt gesund, stellte sie noch fest. Dann umfing sie erleichternde Ohnmacht.

*






Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 5 Teil 6 Teil 7 Teil 8 Teil 9 Teil 10 Teil 11 Teil 12 Teil 13 Teil 14 Teil 15 Teil 16 Teil 17


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz