Ist es Liebe? - Teil 4

Autor: Sara
veröffentlicht am: 29.08.2011


„Du lebst?" Dann verstummte sie und fragte lauter: „Hörst du mich?"

„Klar und deutlich", murmelte er und spürte, wie seine Fangzähne aus seinem Kiefer schossen. Ihr Hals war unglaublich nah. Er konnte die Vibrationen des Blutes in ihren Adern an seinen Zähnen fühlen.

„Wie...?" Sie hob den Kopf und fühlte nach seinem Puls. „Was bist du?" Sie wich leicht vor ihm zurück. „Bist du wie sie?"

„Wie wer?", fragte er zurück, überrascht von ihrer zweiten Frage. Sie hatte schon Kontakt zu Dämonen gehabt? Sonst waren Menschen wahre Künstler darin, alles Übernatürliche einfach auszublenden. War sie doch kein Mensch? Das würde einiges erklären, aber... Sie roch so menschlich. Verführerisch. Sättigend. Und... Weiblich?

„Morgana", sagte das Mädchen. „Sie hat... auch keinen... Puls."

Alecs Augen schlossen sich für einen Augenblick. Morgana. Scheiße. Es gab auf der Welt kaum Vampire, die über zusätzliche Kräfte verfügten. Die meisten waren schon alt, unglaublich alt, wenn sie überhaupt bemerkten, dass sie über bestimmte... Talente verfügten. Morgana allerdings hatte von erstem Augenblick an über Gedankenkontrolle verfügt. Eine unglaublich seltene Gabe. Auf der Welt gab es nur drei, vielleicht vier Vampire, die dies beherrschten. Und dazu zählte Morgana, Quin Pao und er selbst.

Vielleicht war Morgana es gewesen, die den Kopf des Mädchens so manipulierte, dass nicht einmal er mehr an sie heran kam. Eine mögliche Erklärung war es immerhin.

„Ich bin auch ein Vampir", gab er zu. Trotzdem gefiel ihm der Gedanke nicht, in einen Topf zusammen mit Morgana geworfen zu werden. Morgana hatte einen kranken Verstand. Damon, ihr Erschaffer, hatte sie monatelang vor ihrer Verwandlung gefoltert und ihrem Verstand erheblichen Schaden zugefügt. Seither war Morgana eins der fürchterlichsten Monster der Vampirwelt. Nur ihrem Vater war sie treu ergeben. Obwohl dieser ihr jede Art von Grausamkeit zuteil werden ließ. Er hatte sie sogar von ihrem Vater vergewaltigen lassen. Und das über Monate hinweg. Immer und immer wieder.

Wahrscheinlich hatte Morgana dadurch einen seltsamen Familien- und Vaterkomplex. Die grausamsten Massaker von ihr waren immer an Familien begangen worden. Vielleicht lag es daran. Manche Bösartigkeiten fanden kein Darum. Manche wurden einfach begangen. Ohne Grund.

Er betrachtete das Mädchen und dachte an das Blut, dass sie bedeckte. Wahrscheinlich war sie eins von Morganas Spielzeugen gewesen. Sein Magen zog sich vor Bedauern zusammen. Zumindest glaubte er das zu fühlen.

„Kannst du..." Sie wich langsam vor ihm zurück. Angst färbte ihre Stimme. „Kannst du dich bewegen?"

Er lächelte zynisch. „Nein. Keine Sorge. Ich kann dir nicht schaden." Aus irgendeinem seltsamen Grund gefiel es ihm nicht, dass sie zurückwich. „Ich will dir auch nicht schaden", fügte er hinzu, um sie zu beruhigen.

Tatsächlich schien das zu funktionieren. Zumindest wich sie nicht weiter zurück, sondern blieb nun, wo sie war. Halb außerhalb seines Blickfeldes. Ihre Lippen bewegten sich stetig, während sie wohl versuchte ihre ersten Fragen zu stellen. Schließlich hatte sie sich entschieden: „Wo sind wir?"

„In einem kleinen Naturschutzgebiet, in einem alten Bunker."

Sie lachte plötzlich und schüttelte den Kopf. Das kurze, schnelle Lachen war ein voller, heller Laut, der ihm runter ging wie Öl. „Ich hab gedacht, die Frage sei klug, aber mit der Antwort kann ich eh nichts anfangen. Ich meine... Was ändert das schon, wo wir sind?" Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Und... Weshalb sind wir hier?"

Er seufzte leise. Das würde eine lange Unterhaltung werden. Doch wo sollte er anfangen? „Es geht um Politik", sagte er und hoffte, dass sie sich damit zufrieden geben würde.

Sie rümpfte die kleine Nase und rollte mit den Augen. „Ich bin wegen der Politik von einer Kranken gefoltert und in ein Dreckloch geworfen worden?" Sie schüttelte den Kopf. „Ich fass es nicht. Ich gehe nicht einmal wählen!"

Er lachte unwillkürlich. „Das ist nicht sehr demokratisch", sagte er dann tadelnd und erntete von ihr einen blinden Blick mit hochgezogener Augenbraue.

„Na, stell dir nur mal vor, was wäre, wenn ich wählen würde." Sie hob die Arme und wies auf den feuchtkalten Bunker. „Obwohl... Noch schlimmer kann's ja gar nicht werden, richtig?"

Er lachte wieder. Einfach so. Die ganze Situation war mehr als heikel, sogar lebensbedrohlich. Zusätzlich hatte sie wahrscheinlich ein übles Trauma hinter sich und jede Menge Schmerzen. Trotzdem riss sie Witze. Wenn auch wirklich schlechte.

Sie seufzte. „Okay. Erklär mir das von Anfang an. Ich denke nicht, dass es um menschliche Wahlbetrügereien geht, richtig? Ich bin auch kein Journalist, also kann ich mit Watergate nichts zu tun haben. Erklär es mir einfach."

Er räusperte sich leise. „Gut, es vereinfacht die Sache zumindest, dass du weißt, dass es Vampire gibt." Er runzelte die Stirn, um einen richtigen Anfang zu finden. Schließlich befand er, dass einer wie der andere beschissen war und begann. „Also, Vampire haben sich von Anbeginn der Zeit immer als Einzelgänger durchgeschlagen. Natürlich waren sie so leichte Beute für Vampirjäger. Deshalb haben sie vor langer Zeit begonnen, sich in kleinen Gruppen zusammen zu schließen."

Sie schnaubte. „Wir haben alle Hobbes gelesen."

„Was?"

„Egal. Erzähl weiter."

Er lächelte. „Das Problem war nur, dass Vampire nicht unbedingt gesellig sind. Sie sind von Natur aus einfach dazu gedacht allein zu sein. Dadurch verwischen eher die Spuren. Diese Gruppen hatten dementsprechend Probleme sich bei den einfachsten Sachen zu einigen. Und bei den Auseinandersetzungen gewannen natürlich die Starken und nicht die Klugen." Er fing ihren blinden Blick ein, der durch die Dunkelheit irrte. „Das führte natürlich zu Problemen, deshalb erwählten sie schließlich die Weisesten und Ältesten zu ihren Anführern. Die Arkaios." Er verstummte kurz, um zu sehen, ob sie ihm folgen konnte. Sie konnte es ohne Probleme. „Jeder muss sich den Anordnungen der Arkaios unterwerfen. Ein ganz einfaches System. Jeder musste einen Bluteid leisten und dem Anführer die Treue schwören. Wer gegen Anweisungen verstößt, kann durch den Bluteid gezwungen werden. Oder er wird einfach ausgelöscht. Der Bluteid zwingt Vampire dazu, zu gehorchen. Ansonsten kann die Verbindung den Arkaios dazu bringen, den Vampir auszulöschen."

Sie runzelte die Stirn. „Wie meinst du das? Einfach auslöschen?"

Alec suchte nach Worten. „Wenn ich zum Beispiel dir als Vampir den Bluteid leiste, nimmst du einen Teil meines Blutes in dir auf. Dadurch kannst du mich jederzeit finden. Und töten. Außerdem verschafft das Blut dir eine gewisse Macht über mich. Es... summt in dir und bringt mich um den Verstand, wenn du es... kontrollierst."

„Aha", machte sie unschlüssig.

Er fuhr fort. „Die Arkaios sind schon seit Urzeiten anerkannt und jeder neue Vampir muss den Bluteid entweder den Arkaios schwören oder seinem Erschaffer, der selbst den Eid geschworen hat."

„Okay", murmelte sie. „Aber wie bringt mich das in dieses Loch?"

„Ich bin der erste."

„Was?"

„Ich bin der erste. Der erste Arkaios. Alle Verbindungen führen unweigerlich zu mir."

„Oh", machte sie. Sie fuhr sich über die Stirn und massierte ihre Schläfen. „Und man hat dich hier eingesperrt, weil du zu mächtig bist? Moment! Wie kann man dich denn dann einsperren? Du kannst den Entführer doch einfach... Ich weiß nicht.... zum Summen bringen."

Er seufzte leise und leckte über seine Unterlippe. „Nun, das dachte ich auch. Ich bin ziemlich naiv von genau diesem Gedanken ausgegangen." Er holte tief Luft. „Vor ein paar Jahrhunderten ist allerdings ein Vampir aufgetaucht, der scheinbar keinen Erschaffer hat. Und nie einen Bluteid geschworen hat. Damon heißt er." Er zögerte. „Morgana ist seine Tochter."

„Reizende Familie", murmelte sie leise und setzte sich anders hin, um ihre Beine mit den Armen zu umschlingen.

Er grinste schwach. „Die beiden haben jede Menge Chaos angerichtet, deshalb wurden sie vor einer Weile nach Australien abgeschoben. Sie sind schließlich in Amerika gelandet. Damon hat sich ein ganzes Imperium aufgebaut von Vampiren, die alle keinen Bluteid geschworen haben. Nur ihm. Und plötzlich starb der Arkaios von Nordamerika. Sein letzter Puffer zwischen ihm und der Macht über dieses Land. Natürlich wollte Damon deshalb zum Arkaios erwählt werden."

„Und das wurde er nicht?", fragte sie verwirrt. „Ich meine... Ihr scheint ja allgemein keine netten Typen zu sein. Ein Massenmörder mehr als Oberhaupt macht da doch keinen Unterschied, oder? Oder hattet ihr Angst um eure Macht?" Plötzlich unterbrach sie sich und lachte. „Meine Güte, ich klinge wie ein... keine Ahnung. Ich rede von Macht und Oberhäuptern und... Himmel! Das ist alles vollkommen verrückt."

„Es ist nicht verrückt", brummte Alec ungeduldig. „Es ist die Realität. Ich wurde geschickt, um einen Arkaios auszuwählen, der Damon in Schach halten kann. Jemand, der mir direkt den Bluteid schwört und machtvoll genug ist, um Damon zu widerstehen. Nicht, weil er so machtvoll ist, sondern weil das System sonst in sich zusammen bricht. Das bedeutet Chaos und jede Menge tote Menschen."

Überrascht sah sie in seine ungefähre Richtung. „Ihr sorgt euch um uns?"

„Ihr sorgt euch doch auch um eure Nahrung."

„Nett", schnaubte sie.

Er lächelte kurz. „Wie du schon festgestellt hast, sind wir keine netten Typen."

„Also... Hat er dich überwältigt und hier eingesperrt", folgerte sie. „Und ich bin dein... zufälliges Fresschen, das Morgana ausgewählt hat? Spitze. Das passt einfach hervorragend in meinen Lebenslauf."

Er konnte mit diesem Begriff nichts anfangen, deshalb schloss er stumm die Augen und dachte an den Moment, als Damon ihn tatsächlich überwältigt hatte. Alec war gerade in seinem Büro gewesen, das im Anwesen von Damon für ihn frei geräumt worden war. Er hatte irgendeinen Papierkram erledigt auf der Suche nach einem geeigneten Kandidaten, damit er so schnell wie möglich aus Amerika wieder verschwinden konnte, um in sein kleines Nest in Prag zurückzukehren. Die meisten Vampire glaubten, dass er sich für gewöhnlich in London aufhielt. Selbst seine Schwester dachte das. Eine sinnlose Schutzmaßnahme, wie ihm jetzt klar wurde.

Der Schuss kam von hinten. Wahrscheinlich ein Traumwandlerdämon hatte auf ihn geschossen. Es gab noch andere Arten von Dämonen, die Alec beim besten Willen nicht fühlen konnte. Werwölfe zum Beispiel konnte er zwar wahrnehmen; ihre Anwesenheit war lebendig und pulsierend. Aber er konnte sie mental nicht beeinflussen.

Der Schuss hatte ihn in der Schulter getroffen und er war in sich zusammengesackt. Hier war er wieder aufgewacht. Ohne Orientierung, ohne Erinnerungen. Bewegungslos. Natürlich hatte Damon ihn entführen und unschädlich machen lassen. Er hätte damit rechnen sollen. Doch das hatte er nicht. Er hatte nicht einmal gewusst, dass es irgendein Medikament gab, das ihn einfach ausschaltete. Vielleicht eine Art Nervengift. Oder ein Blutverdickungsmittel. Er wusste es nicht. Und es spielte auch keine Rolle.

Das einzige, das wichtig war, war seine Anwesenheit hier. Und dass niemand sich darum zu scheren schien.

Wut brodelte in ihm hoch, als er an seine weit entfernten Lakaien und Untertanen dachte. Über den Ozean hinweg konnte er seine Macht nicht bis zu ihnen schallen lassen. Deshalb war er hier gefangen. Mit Sicherheit glaubten die Vampire, dass er sich der Pattsituation bewusst war und deshalb Nachsicht üben würde, weil sie keine Anstalten machten, ihn zu retten. Doch sie setzten zu viel voraus.

Er war in den letzten Jahrhunderten weich geworden. Er hatte sich kaum noch eingemischt und hatte sich aus dem gesellschaftlichen Leben der Vampire zurückgezogen. Schon früher hatte es ihm Unmengen an Anstrengung gekostet, dem Leben bei Hof beizuwohnen. Deshalb hatte er dankbar jeden Ausweg angenommen. Doch jetzt wurde ihm klar, dass die Vampire ihren Schrecken vor ihm verloren hatten. Sie glaubten tatsächlich, dass es am besten war, wenn diese Pattsituation blieb. Sie fürchteten offensichtlich seine Rache nicht.

„Es tut mir leid, dass du da hineingezogen wurdest", sagte er und überraschte sich selbst damit.

„Echt?", fragte sie so überrascht, wie er war. Sie räusperte sich und rutschte zu ihm. „Wenn ich dein Essen sein soll... Warum hat... Ich verstehe nicht, wie du von mir trinken solltest."

„Was?", fragte er verwirrt. Dann dämmerte es ihm. „Weil man dich nicht gefesselt hat und ich wehrlos hier rumliege?" Er lachte bitter. „Ich kann eigentlich den Verstand von Menschen beeinflussen. Du hättest es mir in einer Art Trance freiwillig gegeben."

„Eigentlich? Und warum tust du das nicht?"

Er verzog unbehaglich das Gesicht und war für einen Moment dankbar, dass sie ihn nicht sah. „Es geht nicht."

Für einen Moment war sie schockiert und starrte neben sein Gesicht in der Schwärze. Offensichtlich hatte sie mit dem Gedanken zu kämpfen, dass er schon versucht hatte, sich von ihr zu nähren. Dann schien sie zu verstehen. Sie nickte in der Dunkelheit. „Wahrscheinlich bist du zu sehr geschwächt."

Eine Erklärung war genauso gut wie eine andere. „Vielleicht."

Sie holte tief Luft und hob den Kopf. „Es sieht nicht so aus, als würden wir hier schnell rauskommen."

Er hätte gern mit den Schultern gezuckt, um sie nicht noch mehr zu beunruhigen, doch sie sah es eh nicht. Und er konnte es nicht tun. „Wir wären hier ziemlich schnell draußen, wenn ich nicht..." Er verstummte.

„Was ist passiert?"

Er seufzte vom Abgrund seiner Brust. „Mir wurde eine Silberplatte ins Rückgrad eingesetzt."

„Bitte... was?", keuchte sie schockiert.

„Vampire heilen sehr schnell. Wenn sie mich hier nur eingesperrt hätten, wäre ich innerhalb von Minuten wieder draußen. Mich halten Fesseln kaum auf, außer vielleicht sie sind aus massivem Silber, doch selbst diese Fesseln müssen irgendwo angebracht werden. Ich kann Verankerungen mit der Zeit aus allem Grundmaterial reißen." Er klang plötzlich ziemlich arrogant, wie ihm auffiel.

Auch sie schien es zu bemerken, denn sie lachte leise. „Höre ich da etwa Stolz?"

„Ein bisschen", gab er zu. Dann verebbte das Lächeln. „Damon musste mich also unschädlich machen, aber umbringen konnte er mich nicht. Sonst hätten meine Untergebenen einen Krieg begonnen." Sie hätten es tun müssen, denn die Wahren Familien, Alecs erste Riege an Untergebenen, mussten seinen Tod rächen, um ihre Macht zu legitimieren. Sie konnten nicht einfach wegsehen, wenn ihr stärkster Verbündeter durch die Hand von Feinden starb. Es wäre schließlich nur eine Frage der Zeit, bis Damon auch sie nacheinander ausschalten würde. Wer könnte ihn noch aufhalten? „Man kann mich nicht auf Dauer unter Drogen setzten, denn irgendjemand müsste für die Drogen sorgen und dieser Jemand musste sie von jemanden kaufen. Irgendwann würden Informationen durchsickern. Das wusste Damon. Deshalb hat er mich einfach ausgeschaltet." Er verzog das Gesicht. „Das Silber zwischen meinen Wirbeln im Nacken verhindert, dass mein Rückenmark dort heilt. Es ätzt ununterbrochen ein Loch in meinen Hals."

„Warum stirbst du dann nicht?" Sie fragte es aus unschuldiger Neugier. Offensichtlich war sie wirklich, wirklich froh, dass er hier war.

Er dachte besser nicht darüber nach, warum ihm plötzlich auf angenehme Weise warm wurde. „Ich bin sehr alt. Die überlebenswichtigen Nerven kämpfen ziemlich erfolgreich um ihr Bestehen." Und breiteten ihm unglaubliche Schmerzen.

Sie schwieg einen Moment und er konnte sehen, wie ausdruckstark ihr Gesicht ein paar Emotionen verarbeitete; Neugier, Ekel, Angst und Mitleid. „Wenn... Wenn das Ding also aus deinem Hals raus ist, würdest du einfach heilen und könntest uns hier rausbringen?"

„So in etwa." Er lächelte bei ihrem hoffungsvollen Gesichtsausdruck. „Aber es ist wahrscheinlicher, dass ich bei dem Entfernen umgebracht werde. Ich frage mich immer noch, wie sie so präzise arbeiten konnten."

Sie runzelte nachdenklich die Stirn. „Da gibt es viele Möglichkeiten. Vor ein paar Jahren hat man in Deutschland einen Führungsschienenaufsatz erfunden. Er hilft bei Hirn- und Rückenmarksoperationen die Tiefe nicht zu variieren. Dadurch ist eine unglaubliche Präzision möglich." Ihre Augen leuchteten plötzlich aufgeregt. „In Brasilien untersucht man seit Jahren die Nervenbildung und bildet künstliche Nervenstränge. Mit unglaublichem Erfolg! Und in Asien arbeitet man seit ein paar Monaten mit einem System, bei dem man nur noch Daten eingeben muss. Der Rest erledigt eine Art Operationsmaschine." Sie runzelte die Stirn. „Es gab da allerdings diesen Skandal mit dem Querschnittsgelähmten, der plötzlich wieder gehen konnte. Als rauskam, dass dieser Mann immer laufen konnte und nie behindert gewesen war, ist das in allen Zeitungen gewesen."

Er hatte davon nichts gehört. Allerdings kaufte er sich auch keine Zeitungen. „Woher weißt du so gut bescheid?"

Sie winkte ab. „Ach... Das ist Laienwissen. Ich bin nur eine Tittenärztin."

Er war überrascht, dass sie so ein Wort in den Mund nahm. „Eine was?"

„Plastische Chirurgin. Ich arbeite seit ein paar Jahren in Hollywood und verschönere die Schönen. Und Reichen." Sie lächelte selbstironisch. Dann seufzte sie. „Ich habe gerade genug Geld zusammen, um mir eine Auszeit zu gönnen. Ich wollte nach dem Besuch der Fosters ein Jahr nach Afrika. Ärzte ohne Grenzen."

Er hatte keine Ahnung, was das bedeutete, doch es klang nach etwas Selbstlosen auf das sie sich sehr gefreut hatte. „Du... operierst?"

Ihre Augen weiteten sich. „Nein. Nein!", fügte sie noch entschlossener hinzu. „Auf die Idee bin ich auch schon gekommen, aber ich bin auf Brustimplantate und -rekonstruktion spezialisiert. Das letzte Mal, dass ich etwas anderes gemacht habe, war eine Nasenoperation. Das ist ein ganz anderes Kaliber."

„Aber..."

„Nein." Sie schüttelte den Kopf. „Ich will nicht für noch einen Tod verantwortlich sein." Ihre Stimme brach für einen winzigen Augenblick in ihrer Kehle. „Du wirst doch auch so überleben, richtig?"

„Schon, aber..."

„...ich nicht", vervollständigte sie. Ihr Blick glitt für einen Moment traurig durch den Raum. „Zumindest habe ich nette Gesellschaft." Sie lächelte in keine bestimme Richtung.

Auch er lächelte. Auch wenn ihn ihr Geständnis überraschte. Was genau meinte sie mit der Verantwortung für noch einen Tod? Er öffnete den Mund, um genau das zu fragen, als er sah, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Offensichtlich kam sie sich in der Dunkelheit unbeobachtet vor, denn für einen Moment verschwand sogar dieses immerwährende, feine Lächeln, das sie wie eine Art höfliches Schutzschild zu tragen schien. Ihre Augen füllten sich mit unendlicher Trauer und sie legte den Kopf in den Nacken, während sie gegen die Tränen anblinzelte. Sie war demnach keine eiskalte Mörderin. Und auf keinen Fall gefühllos oder skrupellos. Doch welche Erinnerung konnte ein sonst so starkes Mädchen mit so einer Trauer belegen?

Wieder öffnete er den Mund und schloss ihn wieder. Änderte es etwas, wenn er fragte? Sie würde trotz allem hier drin sterben. Wen interessierte schon ihre Lebensgeschichte?

Ihn, stellte er überrascht fest. Ihn interessierte sie.

Vielleicht lag es einfach an der Tatsache, dass schon viel zu lange isoliert und allein war. Doch dann wurde ihm klar, dass er in seinem Anwesen in Prag nur eine nahezu unsichtbare Haushälterin hatte, die nur Tagsüber, wenn er schlief, durch die Räume streifte. Weshalb hatte er nach diesen letzten zweihundert Jahren plötzlich Interesse an überhaupt jemandem? Und besonders an ihr? Das ergab keinen Sinn. Nun, sie war nett. Und ihr Charakter war mit ziemlicher Sicherheit eine Zierde für die Menschen. Denn... Welcher Mensch, welches Wesen hätte zuerst nachgesehen, wie es ihm ging, bevor er sich um sich selbst Gedanken machte? Er durchforstete seinen erstaunlichen Erfahrungsschatz und konnte sich nur an vier Gelegenheiten erinnern, dass jemand vollkommen selbstlos gehandelt hatte. Sicher, sie war keine Mutter Theresa. Aber selbst in dieser abgefahrenen Situation hätte die Heilige zuerst überprüft, wie es ihr selbst ging. Oder zumindest, wie die Umgebung aussah.





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