Nächtelang... - Teil 2

Autor: Sunny
veröffentlicht am: 21.11.2011


Alex wurde von seiner Mutter geweckt, die ihn zum Frühstück rief. Noch müde zog sich Alex die nächstbesten Klamotten an und ging nach unten.
„Heute Nachmittag musst du aber den ganzen Saustall im Wohnzimmer aufräumen! Und jetzt beeil dich, sonst kommst du zu spät zur Schule!“, ermahnte ihn seine Mutter. „Schon okay, Mum, mach ich! Ich bin ja schon fast fertig!“
Hastig schlang er ein Brötchen herunter und stürzte ein Glas Orangensaft herunter.
Dann rannte er nach oben, trug Deo auf und brachte seine Frisur in Ordnung. Er lief die Treppe runter, rief zu seiner Mutter: „Ciao Mum, bis heut Mittag!“, sprang auf sein Fahrrad und raste los.
In der ersten Stunde hatten sie Mathe, und mit Herrn Agrilla, seinem Mathelehrer, war nicht gut Kirschen essen, deshalb beeilte Alex sich.
Gerade noch rechtzeitig stellte er sein Fahrrad vor der Schule ab und hastete in den 1.Stock, wo sich sein Klassenzimmer befand. Er erreichte es kurz vor seinem Lehrer, der ihn nur flüchtig anschaute und dann den Raum betrat.
Erschöpft ließ sich Alex auf seinen Stuhl sinken und wollte sich erst mal ausruhen, wurde aber gleich von seinem besten Kumpel Toby angestupst. Toby war relativ klein, hatte leuchtend rote, lockige Haare und trug immer nur Markenklamotten. Seine Familie war sehr reich und wohnte in einer Villa in LaPer, die auf einem großen Grundstück zusammen mit einem riesigen Pool stand und mit teuren Antiquitäten und Bildern von berühmten Künstlern ausgestattet war.
Alex und Toby kannten sich schon seit dem Kindergarten und waren seitdem befreundet, auch ihre Familien hatten engen Kontakt zueinander und wohnten nicht weit entfernt voneinander.
Toby kannte Ale am besten und hatte gestern Abend natürlich gleich gemerkt, dass Alex an diesem Mädchen aus der Jahrgangsstufe unter ihnen Gefallen gefunden hatte.
„Na, ich musste ja leider schon früh gehen, also. Hast du noch mit der Kleinen rumgeknutscht oder nicht?“, fragte er grinsend, woraufhin Alex dunkelrot anlief: „Äh… Nein, wir haben uns nicht geküsst.“ Dann fing auch Alex an zu grinsen: „Und beim Thema Größe nennt sie ja gerade der Richtige klein. Mann, die ist einen Kopf größer als du!“ Lachend boxte Toby Alex in die Seite und fragte: „Und, stehst du auf sie?“
In dem Moment stand plötzlich Herr Agrilla vor ihnen und unterbrach ihr Gespräch: „Könnt ihr kleinen Machos vielleicht später über eure Frauengeschichten reden? Wir haben jetzt Mathe und nicht Sexualkunde.“
Toby fing unverschämt an zu grinsen und wollte etwas Freches darauf erwidern, wurde aber durch Alex gebremst, der ihm unter dem Tisch einen Fußtritt verpasste, um Schlimmeres zu verhindern.
Herr Agrilla warf beiden noch einen warnenden Blick zu und ging dann nach vorne zu seinem hässlichen, grauen Lehrerpult, wo er anfing komplizierte mathematische Gleichungen an die Tafel zu schreiben.
Nachdem er mehrere Dutzend davon an die Tafel geschrieben hatte, sagte er „Die Aufgaben löst ihr jetzt bis zum Ende der Stunde. Was ihr nicht schafft, löst ihr zu Hause!“ und setzte sich an sein Pult, um einige Schulaufgaben zu korrigieren.
Ein Aufstöhnen ging durch die Klasse. Herr Agrilla war der strengste und unbeliebteste Lehrer der Schule und bekannt für seine übertriebene große Menge an Hausaufgaben.
Während Alex sich sofort daran machte, die Aufgaben zu lösen, ließ Toby seinen Blick durch die Klasse schweifen. Zu Hause würde sein Privatlehrer die Aufgaben lösen, wenn er ihn bestach, darum musste er sich keine Sorgen machen.
Erst schaute er aus dem Fenster und beobachtete einige Unterstufler beim Sportunterricht, aber nach einiger Zeit wurde es ihm langweilig und sein Blick wanderte zu Herrn Agrilla. Dort verharrte er erstaunt: Was machte sein Mathelehrer denn da? Er streichelte ein dickes Buch beinahe schon zärtlich und führte mit seiner anderen Hand ein merkwürdiges schwarzes Gras an es heran. Doch was dann passierte, verschlug Toby endgültig die Sprache: Das Buch aß seinem Mathelehrer das Gras aus der Hand! Daran, wie das Buch überhaupt das Gras aufnehmen und verdauen konnte, konnte er sich später nicht mehr erinnern. Noch vollkommen in Trance stieß er Alex an. Als dieser ärgerlich, weil er gerade in einer schwierigen Rechnung gestört wurde, aufschaute, bemerkte Herr Agrilla, dass er bemerkt wurde und ließ sein Buch unter dem Tisch verschwinden. Alex schaute Toby nur verständnislos an und flüsterte genervt: „Was ist denn?“ , doch Tobi winkte nur ab: Er wollte nicht, dass Herr Agrilla wusste, dass er von dem Buch wusste.

Währenddessen saß Lilly ein Stockwerk weiter oben und versuchte sich verzweifelt an Enzyme und deren Eigenschaften zu erinnern. Ihre Klasse schrieb einen unangekündigten Biologie-Test, den niemand erwartet hatte, und selbst wenn jemand gelernt hätte, hätte es ihm nichts genutzt, da die Fragen zu kompliziert gestellt waren. Lilly hatte noch nicht mal einen Blick auf den Hefteintrag von der letzten Stunde geworfen, deshalb gab sie auf: „Immerhin hab ich keine Eltern, die sich über eine schlechte Note aufregen können“, dachte sie zynisch.
Ihre Mitschüler regten sich immer darüber auf, dass ihre Eltern viel zu streng waren und ihnen Hausarrest gaben.
„Ach, was würde ich dafür geben, noch Eltern zu haben“ , seufzte sie und um nicht noch trauriger zu werden, wanderten ihre Gedanken zu Alex. Was er wohl gerade machte? Ob er auch an sie dachte? Wahrscheinlich nicht, für ihn war es ja nur ein kleiner Partyflirt, mit dem er noch nicht mal rumgeknutscht hatte, gewesen. Was würde er auch sonst von ihr wollen? Vielleicht hatte er sogar von ihrem Schicksal er fahren und hatte Mitleid mit ihr.
„Legt bitte die Stifte weg, eure Zeit ist zu Ende!“ Lilly schreckte aus ihren Gedanken auf. Dann nahm sie ihr leeres Blatt und gab es ab. Als sie sah, dass die meisten anderen wie sie auch nicht viel darauf geschrieben hatten, war sie beruhigt: Wenn der Test zu schlecht ausfiel, wurde er nicht gewertet. Dies kam bei ihrem Biolehrer öfter vor. Er hieß Gropp, wurde aber von seinen Schülern Kiki genannt, da die Cicerostatue in ihrem Lateinbuch ihm verblüffend ähnlich sah und so war aus Cicero Kiki geworden. Meist war Herr Gropp sehr freundlich und half auch oft bei Problemen, aber bei Tests war er knallhart.
Da gongt es auch schon. Lilly stand auf und verließ schnell das Klassenzimmer, um in ihre wohlverdiente Pause zu gehen.
Als sie die Treppe Richtung Pausenhof herunterging, bemerkte sie, dass Toby, ein guter Freund von Alex, wie sie auf der Party mitbekommen hatte, am Fuße der Treppe stand und nach jemandem Ausschau hielt.
Als sich ihre Blicke trafen, fixierte er sie und kam ihr langsam entgegen.
Da Lilly keine Lust hatte, sich blöde Kommentare über Alex und sie zu hören, wollte sie rasch an ihm vorbeigehen, doch Toby war schneller. Er hielt sie am Arm fest und stoppte sie so. „Was willst du? Lass mich los!“, rief Lilly, sodass sich einige Schüler nach ihnen umdrehten. Toby war das sichtlich peinlich, trotzdem zog er Lilly einige Meter weiter, wo es nicht so voll war, und beruhigte sie: „Reg dich nicht auf! Es ist nichts über gestern. Es geht mehr um ein persönliches Anliegen: Eure klasse hat doch gleich Herrn Agrilla, oder?“ Lilly nickte perplex und sah ihn verblüfft an: Wieso wollte er denn das wissen? „Gut. Könntest du mir einen Gefallen tun?“ Lilly zögerte: Was wollte er denn bloß von ihr? Sie kannte diesen Toby ja gar nicht wirklich. Trotzdem sagte sie: „Theoretisch schon. Worum geht es denn?“ Toby sah sich vorsichtig um und beugte sich dann geheimnistuerisch zu ihr vor: „Erklär mich nicht für verrückt, aber ich habe vorhin etwas echt Merkwürdiges gesehen: Herr Agrilla hat einem Buch etwas zu essen gegeben. Ich weiß, Bücher können nicht essen, aber ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Könntest du mir bitte den Gefallen tun und ihn etwas beobachten? Es wird zwar wahrscheinlich nichts passieren, weil seit er gemerkt hat, dass ich ihn gesehen habe, vorsichtiger sein wird, aber…“ – „TOBY!“
Toby brach den Satz ab und drehte sich abrupt um: Vor ihm stand Alex, der bedrohlich auf ihn herunterschaute. Das Ganze hätte sehr lustig ausschauen können, wenn Alex nicht so wütend ausgesehen hätte: „Was machst du da mit Lilly? Verarschst du sie? Oder erzählst du ihr den Schwachsinn, dass du irgendwelche essenden Bücher gesehen hast?“ – „Ja, er hat mir von dem Buch erzählt. Aber was ist daran so schlimm? Herr Agrilla macht öfter merkwürdige Dinge!“ Alex verdrehte genervt die Augen: „Jetzt hat er dich auch schon mit dem Quatsch angesteckt! Bücher können nicht essen und Herr Agrilla ist ein ganz normaler Lehrer!“ Da mischte sich Toby ein: „Das glaubst du ja wohl selber nicht! Du hast doch selber oft beobachtet, wie er kaputte Dinge nur durch einen Blick reparieren konnte und weißt du noch, wie als Lena, als sie sich über ihn beschwert hatte, nachdem er sie berührt hatte, Bauchkrämpfe hatte oder…“ Alex trat einen Schritt auf ihn zu, packte ihn und schüttelte ihn leicht: „Zufälle! Du fantasierst! Nur weil deine Mutter gestorben ist, als sie bei Herr Agrilla…“ Alex stockte und wich geschockt über seine eigenen Worte einige Schritte zurück: „Entschuldigung, Toby, ich wollte dich nicht verletzen, ich, ich, …“
Toby stand mit funkelnden Augen tief getroffen da, während ihm die Tränen die Wangen herunterliefen. Dann drehte er sich um und flüchtete aufs Jungenklo. Alex blickte betreten zu Boden, bis Lilly anfing zu sprechen: „Du hast seinen wunden Punkt getroffen, wie es mir scheint. Lass ihn jetzt erst mal zur Ruhe kommen und entschuldige sich später bei ihm.“ Alex blickte ihr tief in die Augen: „Und du behältst das mit seiner Mutter für dich! Es ist eigentlich ein Geheimnis: Herr Agrilla hat damals eine hohe Summe dafür gezahlt, damit nicht herauskommt, dass Tobys Mutter in seiner Sprechstunde gestorben ist. Toby hat es mit trotzdem erzählt. Herzstillstand oder so, bei ihr absolut unwahrscheinlich, sie war noch jung und absolut gesund. Also erzähl es bitte niemandem, okay?“
Lilly sag betroffen Alex ins Gesicht: „Aber er hat doch eine Mutter, dachte ich?“ – „Sie ist seine Stiefmutter. Kurz nach dem Tod kam sie in die Stadt und Tobys Vater verliebte sich sofort unsterblich in sie. Eigentlich kann ich ihn verstehen, sie sieht echt gut aus und sie ist nett und…“ Lilly unterbrach ihn mürrisch: „Bleib beim Thema!“ Obwohl es ihr eigentlich klar sein hätte müssen, ärgerte es sie: Er sah in ihr eben doch nur einen Partyflirt! „…aber natürlich ist sie nicht so süß wie du!“, sprach Alex weiter und grinste. Lilly versuchte sich vergeblich ein Grinsen u verkneifen. Um davon abzulenken, drängte sie ihn weiterzureden.
„Also seine Stiefmutter ist eine Verwandte von Herrn Agrilla und auch wenn sie Toby verwöhnt und ihm alles erlaubt, hasst er sie. Er meint, sie wäre absolut böse. Naja, aber seit dem Tod seiner Mutter ist er etwas merkwürdig, aber ich kann ihn verstehen. Vergiss das mit dem Buch.“
Lilly grübelte: Wieso sollte Herr Agrilla soviel Geld dafür zahlen, dass der Tod geheim blieb? Alex zuckte nur mit den Schultern: „Hat wahrscheinlich was mit seinem Ruf oder Beamtenstatus zu tun, den er als anständiger Lehrer haben will. Hab ich nie drüber nachgedacht“, gab Alex zu.
Lilly wollte noch etwas erwidern, wurde aber vom Schulgong abgehalten. So umarmte die Alex nur und stieg dann die Treppe durch die Schülermasse hindurch nach oben zu ihrem Klassenzimmer. Alex blickte ihr verträumt nach: Sie war das wunderbarste Mädchen, das ihm je begegnet war; sie war hübsch, hatte intelligente Augen, war auch noch klug, war witzig und sie lief nicht wie die restlichen Mädchen, die er kannte, mit 3 Tonnen Makeup im Gesicht herum, sondern war vollkommen ungeschminkt. Das hatte ihn am meisten beeindruckt, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Und sie schien genau gewusst zu haben, was Toby brauchte, so als wäre ihr so etwas Ähnliches selber passiert… Bevor Alex den Gedanken zu Ende denken konnte, bemerkte er Toby, der ohne ihn zu beachten die Treppe hochgehen und verschwinden wollte. Alex fluchte und lief ihm hinterher.

Als Herr Agrilla am Klassenzimmer ankam, bemerkte Lilly das Buch unter seinem Arm. Es war braun mit goldenen Verzierungen und sah sehr alt und wertvoll aus. Es hatte keinen Titel, vorne war nur ein merkwürdiges schräges Dreieck und eine Schaufel mit Gold eingraviert.
„Was das wohl zu bedeuten hatte? Was konnte das bloß für ein Buch sein?“, fragte sich Lilly.
Nachdem der Raum aufgesperrt war, setzte sich Lilly auf ihren Platz und war zum ersten Mal froh darüber, in der 1.Reihe zu sitzen. Sie hatte Herr Agrilla in Latein und war bei ihm als Einzige Einserschülerin, allerdings konnte er sie aus irgendeinem Grund nicht leiden.
Herr Agrilla stellte seine braune Ledertasche auf das Lehrerpult, legte das Buch fast zärtlich daneben, holte das Lateinbuch raus und fing an Schüler aufzurufen, die übersetzen sollten, die jedoch alle daran verzweifelten, weil der Text viel zu schwer für sie war.
Lilly seufzte. Wie konnte man nur ein so schlechter Lehrer sein und nur darauf aus sein, Schüler zu schikanieren.
Aufopfernd meldete sie sich bei einem superschweren Satz. Herr Agrilla ließ grade seinen Blick durch die Reihen schweifen, um ein neues Opfer zu finden, sah Lillys erhobenen Finger, blickte ihr ins Gesicht und verzog sein Gesicht zu einer bedrohlichen Grimasse. Ein starker Scherz durchfuhr Lillys linke Hand, sie fühlte sich wie gelähmt an. Durch den Schmerz konnte Lilly ihre Hand nicht weiter in der Luft halten und ihr Arm prallte ungebremst auf den harten Holztisch. Sie schrie vor Schmerz laut auf. Einige ihrer Klassenkameraden sprangen auf und rannten zu ihr hin, aber die meisten blieben aus Angst vor Herr Agrilla auf ihren Plätzen und verzogen keiner Miene. „Lilly? Lilly! Alles okay? Was ist mit deiner Hand?“, fragte Marie, ein sehr nettes Mädchen aus ihrer Klasse, das jetzt neben ihr stand und besorgt ihre Hand begutachtete. Sie fing an Lillys Handgelenk mit Fingerspitzengefühl zu massieren und der Schmerz wurde weniger. Beeindruckt blickte Lilly Marie an. Die zwinkerte ihr nur zu und flüsterte leise, sodass nur Lilly es hören könnte: „Psst, verrat mich nicht. Sonst hetzt dir Herr Agrilla gleich wieder seinen bösen Blick auf!“ Jetzt war Lilly noch verblüffter: Was wusste Marie über Herr Agrillas Blick und woher wusste sie, dass er diesen Schmerz verursacht hatte? Sie beschloss sie nach dem Unterricht zu fragen.
„Setzt euch wieder auf eure Plätze, nur weil Lilly gerne im Mittelpunkt steht und sich als das arme Mädchen mit dem verletzen Handgelenk aufspielen will, heißt das nicht, dass ihr ihrem Theaterspiel zuschauen dürft.“ „Aber das stimmt doch…“, setzte Lilly an, wurde aber durch Maries Anstupser davon abgehalten. Diese schaute sie warnend an und legte den Finger auf die Lippen. Lilly verstand: Nicht sagen und es einfach ertragen, wenn sie nicht wieder Schmerzen haben wollte. Wie konnte er bloß allein durch seinen Blick so eine Reaktion hervorrufen? Das ging doch gar nicht. Lilly seufzte: Vieles was Herr Agrilla tat, war unmöglich, in dem Punkt hatte Toby Recht gehabt. Das mit dem Buch was wirklich merkwürdig, wenn es stimmte. Aus dem Gedanken heraus schaute Lilly zu dem Buch. Aber es lag nicht mehr auf dem Platz, wo Herr Agrilla es hingelegt hatte. Nein, nun hatte er es in der Hand und streichelte es. Lilly sah sich vorsichtig um, damit Herr Agrilla nichts von ihrer Aufmerksamkeit merkte: Alle andere aus der Klasse waren beschäftigt, entweder beugten sie sich über ihre Hefte oder blickten in die Luft, aber niemand schaute zu Herrn Agrilla. Lilly wandte ihren Blick wieder ihm zu, und sah gerade noch wie etwas in dem Buch verschwand. Ihr stockte der Atem: Hatte Toby wirklich Recht? Hatte ein Buch etwas gegessen? Nicht nur ein Buch: Herr Agrillas Buch!
Philipp schreckte auf: Was war passiert? Wo war er? Da fiel es wieder ein und er ließ sich zurück in den Sitz fallen. Er saß im Flugzeug und sie waren grad gelandet. Neugierig sah er aus dem Fenster: Was ihm der neue Ort wohl bringen würde? Würden sie ihn hier finden? Hier, mitten in der Pampa? Er hatte vor ihnen fliehen müssen, damit sie ihn nicht einsperrten, wie sie es mit allen getan hatten, die es gewusst hatten. Aber er musste auf Paul aufpassen. Er scheute auf den Platz links von ihm, auf dem Paul saß. Oder vielmehr lag, denn Paul hatte nichts von der Landung gemerkt und schlief seelenruhig weiter. Vorsichtig stupste Philipp ihn an: „Hey, Kleiner! Wir sind da!“ Langsam räkelte sich Paul, gähnte ausgiebig und rieb sich den Schlaf aus den Augen. „Was, schon da? Oh man, bin ich müde!“ Er setzte sich aufrecht hin und lugte an Philipp vorbei aus dem Fenster: „Hier gibt’s ja überhaupt nichts. Nur Wälder! Wieso mussten wir hier hin?“ Philipp seufzte und lehnte sich zurück: Er würde es ihm nicht erklären können, sonst wäre nicht nur er, sondern auch noch Paul in Gefahr. Und das wollte er auf keinen Fall riskieren. So schnallte er sich nur ab, nahm seinen Rucksack und verließ mit Paul das Flugzeug, um sein Gepäck abzuholen. Sie würden in einem kleinen Ort namens Hallor, etwa zwei Stunden mit dem Bus von hier, wohnen. Sie hatten von einer alten Dame gehört, die hier ein Haus hatte, in dem sie Waisenkinder beherbergte und ein Doppelzimmer bekommen, in dem sie einige Jahre umsonst leben konnte, zumindest bis sie mit der Schule fertig waren.
Philipp hielt, nachdem sie aus dem Flughafengebäude heraustraten, nach dem grünen Auto Ausschau, das sie abholen sollte. Der Fahrer war ein Bekannter der alten Dame und würde sie zu dem Haus bringen. Dieser kam nach einer halben Ewigkeit an und forderte sie mit einem Handwinken auf, ihr Gepäck in den Kofferraum zu tun, blieb aber selber sitzen. Philipp schüttelte den Kopf: Wenn es schon so losging, konnte es ja nur besser werden. Als sie alles verstaut hatten, setzen sie sich auf den Rücksitz und der Fahrer fuhr los. Während der ganzen Fahrt sprach keiner ein Wort, was Philipp als sehr unangenehm empfand. Er seufzte: Wieso konnte er kein normaler Junge sein, der normale Eltern hatte und zuhause lebte, dessen einziges Problem die Schulnoten waren.
Aber nein, er war Vollwaise und musste sich mit seinem kleinen Bruder zusammen durchschlagen. Noch dazu war er ein Halbgartenzwerg, da seine Mutter einen Gartenzwerg geheiratet hatte. Beide waren, als er 6 Jahre alt war, in einen Gartenzwergkrieg verwickelt gewesen und zusammen darin gestorben. Von da an hatte er bei seiner Tante mütterlicherseits gewohnt. Doch vor kurzem war Philipp sein Geheimnis vor seinen Kumpels rausgerutscht, die es gleich in der ganzen Stadt verbreitet hatten, so dass alle, die davon wussten, eingesperrt wurden. Nur Philipp hatte mit Paul entwischen können und nun mussten sie in einem anderen Land neu beginnen.

Lilly schaute zu Boden, um Herrn Agrilla nichts merken zu lassen und schielte nur immer wieder nach vorne. Doch es geschah nichts mehr, Herr Agrilla blätterte ein wenig in ihrem Lateinbuch und schikanierte einige Schüler, das Buch lag währenddessen verschlossen neben ihm.
Am Ende der Stunde packte Herr Agrilla seine Sachen schnell ein und verließ fluchtartig die Klasse. Noch immer verwundert folgte Lilly ihm. Was hatte er denn vor? Normalerweise überzog er immer und verließ den Raum immer als Letzter. Lilly musste sich beeilen, da sich der Abstand zwischen ihr und Herr Agrilla immer mehr vergrößerte, weil er aus irgendeinem Grund sehr schnell ging. Er stieg die Treppe hinab und durchquerte die Eingangshalle, wobei er sich nicht umblickte.
Er ging durch die Tür, die zum Pausenhof führte und blieb kurz von der Sonne geblendet stehen. Dann wandte er sich nach rechts und folgte einem kleinen Pfad, der zum Gemüsebeet der Schule führte. Dort hielt Herr Agrilla an und fixierte das Beet mit seinen Augen. Lilly wunderte sich: Was sollte er denn hier? Sich um die Pflanzen kümmern? Nein, dazu hätte er Gartenwerkzeuge mit gebracht, außerdem hatte er noch nie was mit dem Beet zu tun gehabt, soweit Lilly wusste. Oder hatte er hier weitere alte Bücher, die essen konnten, gelagert?
Sie wurde in ihren Gedanken unterbrochen, denn in dem Moment fing sich einer der Gartenzwerge, die im Gemüsebeet standen, zu bewegen. Beinahe hätte Lilly einen spitzen Schrei losgelassen, konnte diesen aber gerade noch unterdrücken.
Dann begannen die Augen der Figur zu leuchten und sie fragte: „Passwort?“ Herr Agrilla blickte sich kurz um, konnte jedoch Lilly nicht sehen, weil sich diese hinter einem Busch versteckt hatte, durch den sie hindurch linste. Sie war total aufgeregt, der ganze Vorgang war gespenstisch und unreal. Vielleicht träumte sie ja? Aber wieso hat ihr Arm dann von den Dornen des Busches weh? Also musste das hier wirklich sein. Was wohl noch alles Verrücktes passieren würde?
Beruhigt drehte sich Herr Agrilla wieder um und trat etwas näher an den Gartenzwerg heran, während er flüsterte: „nanus hortorum vulgaris! Mission MyWorld.“
Die Augen des Gartenzwergs erloschen und er klappte nach hinten weg. Unter ihm befand sich ein Loch, gerade große genug, dass ein Mensch hindurch passte und der Gartenzwerg trotzdem nicht hineinfiel.
Herr Agrilla setzte sich vor dem Loch auf dem Boden und kletterte mit den Füßen zuerst hinein, bis nur noch seine Arme seinen Körper über Erde hielten. Dann seufzte er, ließ sich fallen und verschwand. Während Lilly noch überlegte, was sie nun machen sollte, klappte der Gartenzwerg wieder nach vorne in seine vorherige Position und verschloss so das Loch.
Lilly grübelte: Hatte Herr Agrilla wirklich mit dem Gartenzwerg gesprochen? Und dann in diesem Loch verschwunden? Das konnte doch alles nicht sein!
Nach kurzem Warten, ob noch etwas geschehen würde, verließ Lilly ihr Versteck, trat an den Gartenzwerg heran und versuchte ihn hochzuheben: Keine Chance, stellte sie fest, der saß bombenfest! Vielleicht sollte sie es auf die gleiche Weise versuchen wie Herr Agrilla es getan hätte, überlegte sie, aber wie sollte sie den Gartenzwerg zum Sprechen bekommen? Einen versteckten Hebel gab es scheinbar nicht, zumindest konnte Lilly ihn nach kurzer Suche nicht entdecken. Vielleicht würde es auch reichen einfach das Passwort zu sagen? Das hatte sich Lilly gemerkt, denn manche Schüler aus oberen Klassen machten sich über Herr Agrilla lustig, indem sie ihn mit lateinischen Schimpfwörtern beschimpften. Und „Nanus hortorum vulgaris“ hieß Gartenzwerg. Passte ja, dachte Lilly, wenn dadurch der Gartenzwerg wegklappte. Wie Recht sie damit hatte, wusste sie jetzt noch nicht.
Sie setzte sich auf den gleichen Platz, wo Herr Agrilla noch vor einigen Minuten gesessen hatte, starrte den Gartenzwerg und spürte ein warmes Gefühl in ihren Augen, das sie nicht kannte. Wow, dachte sie, ich habe es geschafft, denn in dem Moment leuchteten die Augen des Gartenzwergs wie vorhin auf. Lilly überlegte: Hatte dieses Gefühl etwas mit dem Gartenzwerg zu tun oder hatte sie sich verändert?
Sie beantwortete die Frage mit dem richtigen Passwort und der Gartenzwerg klappte nach hinten weg. Nach kurzem Zögern, ob sie wirklich in das Loch steigen sollte, setzte sie sich davor und ließ sich vor sichtig hinein gleiten. Während sie noch vorsichtig nach dem Boden tastete, konnte sie sich nicht mehr halten, rutschte ab und fiel vollkommen in das Loch hinein. Es war tiefer als sie dachte, der Fall kam ihr wie eine halbe Ewigkeit vor. Was war wohl am Ende der Röhre, in der sie sich befand? Würde sie sich verletzen? Hatte Herr Agrilla überlebt, weil er dort unten abgefangen wurde oder weil er übernatürliche Kräfte hatte? Hatte sie auch solche übernatürliche Kräfte mit denen sie sich retten konnte? Sie konzentrierte sich fest darauf, weich zu fallen, doch nichts passierte. Als sie überlegte, was sie jetzt machen wollte, spürte sie eine eisige Kälte und zog sich zusammen, um sich zu wärmen. In dem Moment kam sie unten an, du es war gut, dass sie sich zusammengezogen hatte, denn die weiche Matte, auf der sie gelandet war, war nicht besonders groß. Trotz der hohen Geschwindigkeit, in der sie grade eben noch gefallen war, federte die Matratze sie gut ab, was eigentlich unmöglich war. Sie setzte sich vorsichtig auf und blickte sich um: Die Matratze lag in einem düsteren Raum, der aussah wie ein mittelalterliches Verließ, bloß ohne Folterinstrumente, der Raum war leer.
Es gab eine große hölzerne Tür, die geschlossen war und sich am anderen Ende des Raums befand. Neugierig stand Lilly auf und ging zu der Tür. Diese ließ sich ohne Quietschen öffnen. Vorsichtig spähte sie nach draußen: Hinter der Tür war ein langer Flur, der grau gestrichen war und ziemlich düster aussah. Was hier wohl war? Wieso gab es unter der Erde so ein… ja was war das eigentlich? Ein Gebäude? Ein Bunker?
Lilly trat aus der Tür heraus, schloss die Tür wieder leise hinter sich und wandte sich nach rechts.
Von dem Gang gingen alle paar Meter Türen ab, die alle gleich aussahen.






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