Die Nacht, in der ich nicht schlafen konnte - Teil 12

Autor: sunny
veröffentlicht am: 15.01.2012


Es war wirklich schwer, diesen teil zu schreiben, immer wieder bin ich im zähen Fluss der Worte stecken geblieben, aber sie pochten so lange an die Innenseite meines Kopfes, bis ich sie aufschrieb, also ist er letztendlich doch fertig geworden. Hoffentlich werde ich mit dem nächsten schneller fertig :)
Viel Spaß mit diesem Teil! Lasst mir ein paar Kommentare da! Oh, und es tut mir WIRKLICH Leid, dass es so lange gedauert hat!!! Ich hoffe, es sind keine Logikfehler aufgetaucht, wenn doch, sagt es mir bitte! :)


***


Kapitel zwölf
Bruderherz

Draußen höre ich die Vögel zwitschern. Verrückt.
Es ist bereits halb fünf am Morgen, und die Dämmerung hat schon begonnen; Sommer. Jedes Jahr finde ich es wieder überraschend, wie früh es im Sommer dämmert, aber umgekehrt genauso überraschend, wie spät es im Winter dämmert. Ich seufze. Seltsame Welt.
Einmal sollten wir in der Schule einen Aufsatz schreiben zum Thema, welche Jahreszeit wir lieber mögen, Sommer oder Winter. Ich habe geschrieben, den Winter. Ich weiß gar nicht mehr, welche Ausreden ich mir aus den Fingern gesogen hab; Tatsache war, dass ich ihn deshalb so mochte, weil ich mir im Winter weniger Sorgen um Entdeckung machen musste. Im Winter kümmerte es niemanden, dass ich immer mit langärmeligen, hochgeschlossenen Sachen zur Schule kam und auch im Sportunterricht nichts Kurzes trug. Im Winter war alles einfacher, ich musste nicht schwitzen und mich nicht so sehr verstecken, deshalb mochte ich ihn lieber.
Heute stelle ich fest, dass ich den Sommer eigentlich auch sehr gern mag.
Sommer… diesen Sommer…
Diesen einen, unglaublichen Sommer, mit all den verblüffenden Wendungen in meinem Leben, mit Susan und Niki und Lars und Ben; und natürlich mit Jack. Nicht zu vergessen mit Jack.
Leise seufze ich und lasse meinen Blick über die Häuser schweifen.
Noch schläft fast jeder.
Es ist früher Mittwochmorgen, ein recht kühler Morgen, fast ist der Sommer schon wieder vorbei; aber, mache ich mir selbst klar, noch setzt die Dämmerung so früh ein… Noch ist er da, der Sommer.
Irgendwer hat mal behauptet, dass alles zu Ende geht. Alles. Egal was. Jeder Schmerz, aber auch die schönen Sachen.
Während ich beobachte, wie zwei Rotkehlchen aufgeregt in den Zweigen eines Baumes im Nachbargarten hin und her hüpfen, stelle ich mir unwillkürlich die Frage, ob das stimmt.
Dass alles zu Ende geht, meine ich. Entspricht das der Wahrheit?
Ich denke, in meinem Leben ist schon so viel zu Ende gegangen, dass es eigentlich klar sein sollte… und trotzdem möchte ich es nicht glauben. Trotz allem will ich mir so gern den Glauben an das Gute im Menschen bewahren, an seine Kraft, Dinge aufrecht zu halten, sie n i c h t fallen und n i c h t zu Ende gehen zu lassen.
Ich möchte diese Kraft so gern haben.
Denn obwohl ich momentan in einer Phase des Leidens stecke, kann ich einfach nicht aufhören, an die chaotische Phase davor zu denken – diese Phase, die trotz allem eine Phase des Glücks war.
Ich denke, dass die Liebe nichts Rationales ist. Das war sie nie, und deshalb kann man sie auch nicht messen.
Diese vielen verschiedenen Arten der Liebe; wer bestimmt, welche gut und welche weniger gut sind?
Ich denke, am Wichtigsten ist es wohl, dass es gegenseitig ist. Und zwar absolut.
Was mich wieder und wieder zu ein und derselben Frage zurückführt.
Was ist mit meiner Familie?
Liebe ich sie?
Und wenn ja, WARUM???



„…Monster? Monster, komm zu dir, komm schon. Sieh mich an. Sieh mich an, Monster…“
Ich erkannte Bens Stimme, die besorgt durch den Nebel meines Schocks drang, meine Beine umwirbelte und sich an meinem Körper nach oben rankte, bis sie meine Ohren erreicht hatte. Es dauerte eine weitere Weile, ehe die Information mein Gehirn erreicht hatte und ich reagieren konnte. Langsam und schwerfällig hob ich den Kopf.
Meine Sicht flackerte.
Ich fragte mich, warum, verdammt nochmal, mich die Neuigkeiten so mitnahmen. Ich hatte doch fest geglaubt, mich von meiner Familie gelöst zu haben; von allem, was ich hinter mir gelassen hatte.
H a t t e ich es hinter mir gelassen?
Tja, das war die große Frage.
Ich hatte es versucht, so viel stand fest. Ich hatte fest versucht, mich von dem zu distanzieren, was bis zu jenem Tag vor… ich weiß nicht, wie vielen endlos langen, viel zu kurzen Wochen, mein Leben gewesen war.
Mein Leben.
Mein verdammtes Leben.
Oh, Hölle, das tat so weh. Es fühlte sich an, als wäre ich ganz auf mich allein gestellt in einem Ozean voller Feinde, in einer leeren Weite, die mich zu verschlingen drohte.
Mutterseelenallein.
Das Wort hatte ich nie verstanden, aber es schien besser zu passen als irgendein anderes.
M u t t e r s e e l e n a l l e i n.
Ja, genauso fühlte ich mich. Mutter-seelen-allein.
Ich versuchte, mir klar zu machen, dass ich das keineswegs war: Ben war schließlich bei mir. Er war ein guter Freund, einer meiner besten.
Aber er war nunmal nicht Jack.
Und außer Jack gab es nur einen einzigen Menschen, der mich jetzt trösten könnte.
„Frau Lehmann“, flüsterte ich rau, „Ich muss jetzt zu Frau Lehmann.“
Und zittrig begann ich, mich auf die Beine zu hieven.
„Äh…“, wandte Frau Schmidt zögernd ein, und es war der leicht nervöse Unterton in ihrer Stimme, der mich sofort aufblicken ließ.
Mit großen Augen erwiderte sie meinen forschenden Blick. „Äh… Frau Lehmann ist… sie wohnt nicht mehr hier…“
WAS?!
Schwankend stützte ich mich an der Wand hinter mir ab, starrte sie an, konnte nicht fassen, was sie mir da erzählte. Frau Lehmann sollte nicht mehr hier wohnen? Das war doch Schwachsinn. Warum sollte sie fort von hier gehen? Meine liebe, alte Frau Lehmann… Es sei denn… Nein, das konnte nicht sein. So viel Pech konnte nicht mal ich auf einmal haben. Oder?
„Was…“, begann ich, schluckte, räusperte mich und traute mich doch nicht, „Was ist passiert“ zu fragen. Stattdessen formulierte ich: „Wo ist sie?“
„Nun, sie… wurde in ein Pflegeheim gebracht.“ Ich atmete erleichtert aus, während Frau Schmidt kurz stockte und dann hinzu setzte: „Hat man mir gesagt.“
„W…“ Ich quälte die Worte über meine Lippen. „Welches Pflegeheim? Sie hat doch kaum Geld… und sie war doch glücklich hier…“
Hilflos hob Frau Schmidt die Achseln. „Nun, sie ist alt.“ Ein kleines, merkwürdiges Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Und sie hatte schließlich niemanden mehr, der ihr helfen konnte…“
Mag sein, dass ich es mir einbildete; aber ihr Blick kam mir beinahe lauernd vor.
Ich konnte es ihr nicht verdenken.
Kraftlos sank ich erneut in meiner Ecke zusammen.
Sie hatte ja Recht.
Es war ja wahr; Ich war fort gegangen. Ich war gegangen, ohne noch einen Gedanken daran zu verschwenden, was Frau Lehmann ohne mich tun würde…
*Aber sie hat doch immer gewollt, dass du gehst*, wandte eine kleine Stimme in meinem Kopf ein.
*Na und?*, widersprach ich sofort. *Was hat das denn damit zu tun?! Ich hab sie trotzdem zurückgelassen, hilflos wie sie war!*
*Du hättest sie ja wohl schlecht mitnehmen können*, spöttelte die Stimme, *Außerdem, hat sie nicht gesagt, sie fände jemand anderen…?*
*Nein.* Glasklar stand mir die Szene vor Augen. *Nein… das habe ich gesagt.*
Schuldbewusst aufkeuchend verbarg ich meinen Kopf in meinen Armen.
Wie hatte ich das nur tun können?
Wie konnte ich sie bloß allein lassen, einfach so…?
Einen Moment später wurde mir bewusst, dass noch nicht alles verloren war, und ich hob erneut den Kopf.
Ben sprach leise mit Frau Schmidt, aber ich dachte kaum darüber nach, worüber wohl; viel wichtiger war jetzt etwas anderes.
„Welches Heim?“, fragte ich erneut. „Welches Pflegeheim, Frau Schmidt? Wo ist sie?!“
Frau Schmidt zuckte die Achseln und sah mir abwesend dabei zu, wie ich mich erneut aufrappelte. „Das… das weiß ich doch nicht. Ich tippe mal auf das Sankt Louisen…“ Wie um Verzeihung bittend hob sie die Schultern und legte den Kopf schief. Flüchtig sah sie auf ihre Armbanduhr. „Wie du schon gesagt hast, sie hat ja nicht viel Geld.“
Ben sah mich abwartend an. „Sollen wir gehen?“, fragte er sanft.
Ich zögerte.
Einerseits – natürlich, ja, ich wollte gehen! Ich wollte… so schnell wie möglich zu Frau Lehmann! Aber… andererseits…
„Gehört…“, ich stockte kurz, „Gehört die Wohnung hier noch ihr? Oder ist sie… schon vermietet?“
Frau Schmidt hob die Schultern, dann bückte sie sich nach ihren Einkaufstaschen. „Soweit ich weiß, nicht“, teilte sie uns vorsichtig mit. „Hab zumindest noch niemand Neuen hier gesehen.“ Ihr Blick huschte wiederholt zu ihrer Armbanduhr. „Das Klingelschild ist auch noch das alte… aber… sicher bin ich mir nicht. Das Haus ist ja groß genug.“
Was für ein fadenscheiniges Argument. Hier kannte doch jeder jeden. Man hörte durch die Wände fast jedes Geräusch… Warum wollte sie bloß keine konkreten Angaben machen?
„Entschuldige, Monster, aber ich muss jetzt wirklich los.“ Demonstrativ hob Frau Schmidt beide Einkaufstaschen, dann wünschte sie mir noch alles Gute, nickte Ben zu und schnaufte die restlichen Treppenstufen nach oben zu ihrer Wohnung. Ben und ich schwiegen, bis wir hörten, wie die Tür hinter ihr zufiel. Obwohl das eigentlich auch nicht viel nützen sollte; wie schon erwähnt, die Wände hatten hier Ohren.
„Und jetzt?“, fragte Ben schließlich leise.
Mit schwerfälligen Bewegungen klaubte ich den Schlüssel vom kalten Boden, den ich dort hatte fallen lassen, als ich zusammengesunken war. Nachdenklich sah ich ihn an.
Sollten wir gehen?
Oder doch erst einen Blick in die Wohnung werfen?
Natürlich hatte ich das Bedürfnis, so schnell wie möglich zu Frau Lehmann zu kommen.
Auf der anderen Seite aber war ich hierher gekommen, um mir etwas innerhalb dieser Wohnung anzusehen; und ich wusste, ganz egal, wie der Besuch im Sankt-Louisen-Heim ausgehen würde, dass ich es wahrscheinlich kein zweites Mal schaffen würde, hierher zu kommen; in dieses Haus, auf diesen Treppenabsatz.
Also blieb mir doch nur eine Möglichkeit.
Mit zitternden Fingern hielt ich den Schlüssel, leicht und vorsichtig, als wäre er zerbrechlich, und hob ihn zaghaft ans Türschloss. Bevor ich ihn hinein steckte, zögerte ich erneut; sollte ich w i r k l i c h…? Aber schließlich tat ich es einfach, mit einer entschlossenen Bewegung, und drehte ihn entschieden herum. Einmal, zweimal: Klack-klack. Und die Tür sprang auf.
Einen Moment stand ich bloß unschlüssig auf der Schwelle, bevor ich sie ganz auf schob und vorsichtig einen tastenden Schritt ins Innere wagte.
Es war so still hier. Anders still als sonst – eine stumme Stille, eine Stille, die von Leere zeugte statt von Frieden. Ich mochte diese Stille nicht. Ganz und gar nicht.
Zaghaft, als erwartete ich, dass jeden Moment ein Monster aus einer der leeren Türöffnung springen könnte, tappte ich hinein in die beängstigende Stille, watete hindurch bis ins Wohnzimmer, wo sie immer gesessen hatte, in ihrem Schaukelstuhl, und mich mit einem freundlichen Lächeln begrüßte, wann immer ich kam.
Der Schaukelstuhl war weg. Das war das erste, was mir auffiel in dem matten Dämmerlicht, das von außen durch die schmutzige Fensterscheibe fiel… der Schaukelstuhl war nicht mehr da. Ob sie ihn wohl mitgenommen hatten? Ich betete darum, denn ich wusste, dass Frau Lehmann ihren Schaukelstuhl liebte.
Langsam glitt mein Blick durch das Zimmer. All die vertrauten Möbel. Der Geruch. Das Licht… alles war genau, wie ich es in Erinnerung hatte… bloß ohne Frau Lehmann. Ohne sie wirkte es irgendwie so leer hier. Leer… und tot.
Nein. Sofort widersprach ich mir und verdrängte das Wort energisch aus meinen Gedanken. Dieses Wort gehörte nicht hierher. Ich wollte es hier nicht haben. Punkt.
Mit neuer Energie trat ich in das Zimmer hinein, quer hindurch, schnurstracks zu dem Regal, in dem sie ihr Teeservice immer aufbewahrt hatte.
Es war noch immer da. Tasse für Tasse des feinen Geschirrs stand ordentlich aufgereiht hinter der gläsernen Scheibe des Holzschrankes. Ich fragte mich, was UM HIMMELS WILLEN mir Frau Lehmann damit bloß sagen wollte… warum, verdammt nochmal, hatte sie mir diese Nachricht geschrieben?! Warum hatte sie mich hierher bestellt… und was war so besonders an diesem Teeservice?
Zögernd streckte ich die Hand aus, berührte den Knauf. Hinter mir knarrte der Boden und ich zuckte zusammen, bevor mir einfiel, dass es bloß Ben war, der mir zögernd nachkam.
Ich wünschte, Jack wäre hier. Ach, wie ich wünschte, er wäre hier…
Egal. Frustriert schüttelte ich den Kopf, um den Gedanken abzustreifen. Jack war nicht hier und er würde sicher auch nicht plötzlich hier auftauchen, weil ich an ihn dachte. Also musste ich mich schleunigst auf das Hier und Jetzt konzentrieren.
Der Knauf fühlte sich vertraut an in meiner Hand, als ich ihn sicher umfasste und daran zog. Widerstandslos öffnete sich die Tür. Zaghaft löste ich die Finger vom Griff und streckte die Hand nach dem zarten Porzellan aus, strich behutsam über den Rand einer von Frau Lehmanns Lieblingstassen. Das detaillierte Blumenmuster auf dem Rand hob sich spürbar vom durchscheinenden Weiß des Untergrundes ab.
Aber außer Blumenmustern konnte ich nun wirklich nichts entdecken.
Bis mir die Schachtel einfiel.
Frau Lehmann besaß eine bestimmte Teekanne, die sie besonders schätzte, und damit sie auf keinen Fall zerbrach, hatte sie sie immer in ihrer Schachtel im Schrank aufbewahrt.
Fast schon hastig streckte ich die Hände nach der Schachtel aus und nahm sie aus dem Schrank. Ich war mir nahezu sicher, hier zu finden, wonach ich suchte.
Als ich den Deckel öffnete, durchströmte mich ein merkwürdiges Gefühl – oder eher, ein Gefühlsgemisch. Beinahe hätte ich innegehalten. Aber nur beinahe. Dann war der Deckel offen und ich spähte in das halbdunkle Innere der Schachtel.
Die Kanne stand noch immer darin, sorgfältig verwahrt wie gewöhnlich. Aber außerdem fanden sich einige Briefumschläge neben ihr an den Rand gestopft. Vorsichtig zog ich sie heraus, den Atem angehalten vor Anspannung. Meine Hände zitterten. Stumm und zuvorkommend nahm Ben mir die Schachtel mit der Kanne ab und stellte sie vorsichtig beiseite, während ich mit großen Augen und heftig schlagendem Herzen auf die Briefumschläge in meinen Händen starrte.
Vier weiße Umschläge in der gängigen Größe, alle vollgestopft und alle in bekannter schnörkeliger Schrift mit meinem Namen beschriftet.
Ich hatte das Gefühl, mein Herz raste. Und ich war mir so unsicher. Sollte ich die Umschläge wirklich öffnen? Wollte ich wissen, was sich darin befand? War ich bereit dafür? Und überhaupt wuchs mir die ganze Situation so langsam über den Kopf. Der übrigens schmerzte. Mit einer hastigen Bewegung hob ich die rechte Hand an meine Stirn, legte den Handrücken daran, um sie ein wenig zu kühlen. Und dann ging es plötzlich ganz schnell. Ohne noch ein weiteres Mal darüber nachzudenken, nahm ich die Hand herunter und öffnete den ersten Umschlag. Er war nicht zugeklebt und ging problemlos auf.
Ich registrierte sofort, dass es Fotos waren, die sich darin befanden, aber ich erlaubte mir nicht, inne zu halten und darüber nachzudenken, sondern zog sie einfach heraus. Den leeren Umschlag und die restlichen, noch verschlossenen, legte ich achtlos auf dem Schrank neben mir ab, dann betrachtete ich die Bilder.
Sie zeigten mich.
Genau genommen, nicht nur mich, sondern mich und meine Familie.
Der erste Stapel war, wie ich beim hastigen Durchblättern erkannte, ausnahmslos im Hinterhof des Hauses aufgenommen, von einem Fenster aus. Das oberste Foto zeigte mich, wie ich mit meinem typisch ausdruckslosem Gesicht in der Nähe der Tür stand, das Haar einmal nicht komplett vors Gesicht geschoben. Ich sah jemanden an, wen, erkannte ich erst auf dem zweiten Bild, auf dem Johannes neben mich trat, mit seinem scheinheiligen Grinsen, und den Arm um mich legte. Auf dem dritten Bild erkannte man deutlich, wie er mich unauffällig in die Schulter kniff und ich vor Schmerz zusammenzuckte. Die linke Schulter, ah, ja. Die hatte es immer abbekommen.
Fassungslos starrte ich auf die Bilder in meinen Händen, mir meiner Umgebung und meiner Gesellschaft überhaupt nicht mehr bewusst. Ich fragte mich nur, wo um Himmels Willen Frau Lehmann diese Bilder her hatte. Hatte sie sie selbst gemacht? Und wenn ja, wann? Und wenn ja, warum?
Die restlichen Bilder des Stapels waren an unterschiedlichen Tagen aufgenommen, die obersten waren die neuesten, auf den restlichen wurde ich immer jünger. Alle zeigten deutlich Situationen, in denen ich von Mama oder Johannes gequält wurde, über Jahre hinweg. Die jüngsten Bilder stammten vermutlich irgendwann aus der Zeit, in der ich in die zehnte Klasse ging. Einem Impuls folgend drehte ich das Foto um, und tatsächlich: Auf den Rückseiten der Bilder standen die blass gedruckten Daten, in der typischen altmodischen Weise. Frau Lehmann hatte diese Bilder hier entwickeln lassen. Wie bloß, ohne dass ich etwas davon mitbekam? Oder hatte sie… hatte i c h…
Mir wurde augenblicklich etwas klar.
Ich war es gewesen, die diese Bilder hatte entwickeln lassen.
Ich hatte sie für Frau Lehmann weggebracht und auch fertig entwickelt wieder abgeholt, bei dem kleinen Laden unten in der Stadt. Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, was wohl auf den Filmen zu sehen war, die ich für sie entwickeln ließ. Selbstverständlich hatte ich auch nie nachgesehen, das erschien mir wie ein Eingriff in ihre Privatsphäre, den ich nicht hätte rechtfertigen können.
Natürlich hatte ich deswegen auch nie gemerkt, was um Himmels Willen ich da transportierte… und wie viel Frau Lehmann wusste… und…
Mein Gott, ich hatte keine Ahnung, was ich mit diesen Bildern tun sollte.
„Lieber Gott“, flüsterte jemand, und ich zuckte zusammen und riss den Kopf hoch, starrte Ben an, mit großen Augen, bevor ich die Bilder instinktiv an meiner Brust vor seinen Blicken verbarg. Aber sein Blick sagte mir eindeutig, dass es zu spät war – er hatte längst gesehen, was nie irgendjemand hätte sehen sollen. Niemand – außer vielleicht Jack…
Ah, ich wurde noch verrückt in meiner Sehnsucht nach Jack! Und es war so albern. Es war einfach so albern…
„Willst du nicht nachsehen, was in den anderen Umschlägen ist?“, fragte Ben leise, und ich griff mit zitternder Hand nach ihnen und ließ mich auf den Boden sinken.
Da saßen wir einige Zeit später, Ben und ich, inmitten einer Flut aus Bildern, um uns verteilt. Ausnahmslos zeigten die uns umgebenden Fotographien schonungslose Zeugnisse von Grausamkeit, zurückgehend bis in die fernen Tage meiner Kindheit. Einige Bilder hielt ich in den Händen, und ich starrte sie an, als wollte ich sie auffressen, nahm jedes kleinste Detail in mich auf, s a u g t e sie ein, die unwichtigen Kleinigkeiten… es waren nicht viele, bloß vier Bilder, aber sie zeigten andere Szenarien als die restlichen. Es waren Bilder aus der Zeit vor meinem sechsten Lebensjahr, aus jener Zeit, an die ich mich nicht mehr erinnern konnte. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wo Frau Lehmann sie wohl herhaben könnte, denn dass sie sie selber gemacht hatte, war mehr als unwahrscheinlich. Auf einem der Bilder war ein kleiner Junge zu sehen, der mit merkwürdig leerem Blick direkt in die Kamera starrte, auf eine Art und Weise trotzig, die unheimlich wirkte. In seinen Armen hielt er ungeschickt ein kleines Baby, ein Säugling, der noch nicht in der Lage war, seinen Kopf selbst zu halten. Das Kind war zweifellos mein Bruder Johannes, die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen, und dem Datum nach musste ich das Baby sein, das er hielt. Was mich an dem Bild so schockierte, war sein Blick. Seine Augen, die etwas aussagten, das mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Eine Art verletzter Gefühle, die tiefer ging als alles, etwas, das sich anfühlte wie… Verachtung, ja beinahe Hass, einer schmerzerfüllten Wut ähnlich, die um Liebe bettelte wie um nichts sonst. Der Blick passte nicht ins Bild, er war doch noch ein kleines Kind, kaum älter als drei Jahre, wie konnte er da schon so schauen?
Sein Ausdruck erschreckte mich, denn er sagte genau das aus, was ich all die Jahre über empfunden hatte.
Was war bloß passiert? Was war bloß geschehen, dass Johannes geworden war, wie er war? Es war nicht das erste Mal, dass ich mich das fragte, aber es war das erste Mal, dass ich der Frage mit solch drängender Ungeduld gegenüber stand. Die Tatsache, dass meine Erinnerungen an diese Zeit hartnäckig verschüttet blieben, erfüllte mich mit einer aggressiven Unruhe, der ich kaum standhalten konnte.
Ich schob das Foto unter den Stapel und betrachtete das nächste, das zweite der vier Bilder.
Es war ein Familienfoto, meine Mutter neben einem Mann, dessen Blick auf das Kind in ihren Armen gerichtet war, ein kleines Mädchen mit rotblonden Zöpfen, großen fragenden Augen und einem riesigen Brötchen in den Händen. Das musste ich sein. Mein Blick reichte irgendwo ins Nirgendwo, meine Mutter sah mit gekünsteltem Lächeln in die Kamera, der Mann (mein Vater?) fixierte mich, und neben ihnen stand der kleine Junge von dem Foto davor – Johannes – der mit verletzter Miene den Mann anstarrte.
Das dritte Foto zeigte den Mann und Johannes, nebeneinander. Der Mann lächelte, er stand aufrecht da, seine Hand auf Johannes‘ Schulter. Johannes‘ Gesicht aber zeigte nicht das geringste Anzeichen von Fröhlichkeit, eher Leid und Trotz schienen seine Züge zu zeichnen, und ich hatte lange genug im Geheimen gelitten um sagen zu können, was er in diesem Moment empfand: Schmerz. Sowohl seelischen als auch körperlichen. Mein Blick wanderte zu der Hand des Mannes, die doch so väterlich auf der Schulter des Kindes zu liegen schien – der linken Schulter… und obwohl die Aufnahmen nicht sonderlich gut waren, meinte ich doch zu erkennen, dass seine Finger fester zudrückten, als sie müssten. Als sie sollten.
Eine Welle des Mitleids für Johannes überschwemmte mich. Ganz egal, was er mir angetan hatte, zu diesem Zeitpunkt war er noch ein unschuldiges Kind, nicht älter als sechs, sieben Jahre, und ich wusste genau, was er durchmachte.
Ich begann zu verstehen, warum mein Bruder mir wehgetan hatte.
Natürlich entschuldigte es nichts, und was ich dachte, waren auch nichts als Vermutungen, basierend auf einer Handvoll Fotos, kaum zuverlässig als Quelle. Dennoch konnte ich nicht umhin, sie in meinem Kopf zu einem Ganzen zusammen zu fügen, das Johannes eher zum Opfer als zum Täter machte, und er tat mir Leid.
Das letzte Bild war jenes, das mich am meisten faszinierte.
Es zeigte mich im ungefähren Alter von sechs Jahren, wie ich dem Mann von den vorherigen Fotos gegenüber stand, der offenkundig gealtert war, mehr, als er in dieser Zeitspanne hätte altern sollen. Seine Hände lagen auf meinen Schultern, und wir sahen uns an. Sein Blick war anders als auf den vorherigen Bildern, irgendwie intensiver, unheimlicher. Er weckte in mir den Wunsch, mich von ihm zu entfernen. Auch auf dem Bild sah ich ihn aufmerksam, mit deutlicher Vorsicht in den Augen an. Meine Hände hingen schlaff an beiden Seiten des Körpers herunter, ich trug ein Kleid, es war offensichtlich warm und meine nackten Arme und Beine waren unversehrt.
Es lag etwas Gruseliges in diesem Bild, sodass ich es schnell wieder hinter die anderen schob.
Etwas war passiert in meiner eigenen Vergangenheit, der Vergangenheit meiner Familie; etwas, das meine Leidensgeschichte der letzten Jahre begründete. Ich wusste es. Ich wusste nur nicht, was um Himmels Willen es war.
Und wie sollte ich es bloß herausfinden?
Ob Frau Lehmann wohl darüber Bescheid wusste?
Entschlossen stand ich auf, von den aufmerksamen Blicken des schweigenden Ben verfolgt, und trat über die vielen Fotos hinweg auf die Tür zum Flur zu.
„Wir müssen zu Frau Lehmann“, teilte ich ihm mit, aber noch bevor er antworten konnte, hob ich die Hand und deutete ihm, still zu sein.
Ich hatte etwas gehört, das mich beunruhigte, ein Geräusch von der Wohnungstür her. Verwirrt wandte ich mich in Richtung des Flurs um und sah noch, wie jemand aus der Dunkelheit ins Dämmerlicht des Wohnzimmers trat.
Er sah schlimm aus und im ersten Moment blieb mir fast das Herz stehen. Dünn war er, schmutzig, die Hände zu festen Fäusten geballt, der ganze Körper angespannt und sein Blick lauernd.
„Da bist du also, Monster.“ Seine Stimme klang undeutlich, irgendwie fremd. „Bist du also doch endlich nach Hause gekommen.“
„Johannes.“ Meine Stimme war leise, und ich hatte nicht mehr zu sagen. Ich wusste nicht, was ich empfand; genau gesagt, hatte ich keine Ahnung, was ich empfinden sollte. Mein Bewusstsein war angefüllt mit rotierenden Gefühlen, und alles, was dabei heraus kam, war eine Art lähmender Verwirrung, aus der heraus ich ihn bloß stumm und hilflos anstarren konnte. Johannes. Mein Bruder Johannes.
Wie lange hatte ich ihn nicht gesehen? Es kam mir vor, als seien es Jahre, dabei konnten es höchstens einige Wochen gewesen sein.
Er war wütend. Aus welchem Grund auch immer, Johannes sah wütend aus, und seine nächsten Worte an mich klangen auch ganz so; er schrie sie, schrie mich an. Etwas war eindeutig anders mit ihm; etwas war aus dem Takt geraten, von der Bahn abgekommen. Etwas in ihm schien die Kontrolle verloren zu haben.
„Da bin ich einmal nicht da“, grollte er, „Und das erste, was mir mein Kumpel Mike erzählt, ist, dass du wieder hier bist?!“
Ich zuckte zusammen. Hatten sie mich also doch erkannt, die Gestalten unten vor dem Haus. Verdammt.
Johannes machte einen wütenden Schritt auf mich zu. „Wie kannst du nur?! Wie kannst du wiederkommen, ohne mich sehen zu wollen? Wie konntest du überhaupt erst WEGLAUFEN?!“
Ich stolperte ungeschickt zurück, als er auf mich los wollte, schon längst wieder in meiner alten Rolle des Opfers versunken, wegsehen und ducken, ja nicht auffallen.
Da stellte sich plötzlich jemand zwischen uns. „Hey! Was fällt dir eigentlich ein?!“
Es war Ben, fiel mir ein, er war ja hier, wie hatte ich das bloß schon wieder vergessen können? Ben… und er klang aufgebracht. In drohender Haltung hatte er sich vor meinem Bruder aufgebaut.
„Wer bist du?“ Johannes klang abfällig, dann zuckte Ben zusammen und Johannes hielt auf einmal ein Messer in der Hand, und dann ging alles so furchtbar schnell.
Es war ein großer Tumult, Johannes stach und schlug um sich, Ben und ich stolperten durcheinander, und dann schlug plötzlich die Tür zu, ich hörte Ben aufschreien und registrierte mit aufgerissenen Augen, dass ich mit Johannes allein war.
Er war viel schneller, als ich denken konnte. Noch ehe ich irgendwie reagieren konnte, hatte er Frau Lehmanns Besucherstuhl unter die Türklinke geklemmt und sich, Bens Rufe und sein Schlagen gegen die Tür ignorierend, mir zugewandt.
Seine Augen funkelten in einem unheimlichen Glanz. Instinktiv wusste ich, dass er jetzt alle Hemmungen verloren hatte, und sein Messer zeigte genau auf mich.
Zuerst realisierte ich gar nicht, was passierte. Ich starrte ihn nur an, völlig überrumpelt.
„Wie konntest du nur“, fragte mein Bruder gepresst, „Wie konntest du nur abhauen?“
Ich realisierte, dass seine Hand zitterte, aber dann packte er das Messer fester und stach in meine Richtung.
Instinktiv wich ich aus und brachte Frau Lehmanns kleines Wohnzimmertischchen zwischen uns. Natürlich brachte es nicht viel.
Die folgenden Minuten waren ein einziges Chaos aus Keuchen, Krachen und Rennen, aus Beobachten, Ducken und ausweichen. Irgendwann währenddessen hörte Bens Klopfen und Rufen auf, aber ich verschwendete kaum einen Gedanken daran. Alles, was ich tat, war ü b e r l e b e n. So, wie ich es gewohnt war. So, wie ich es jahrelang getan hatte – nur dass diesmal etwas anders war. Diesmal ging es ums Ganze.
„Wie konntest du nur“, keuchte Johannes, und seine Stimme klang merkwürdig. Aufgeschreckt blickte ich auf, in seine Augen. „Wie konntest mich nur verlassen?!“
Ich erstarrte, als mir klar wurde, was es war, das seine Stimme so verzerrte.
Tränen rannen über seine Wangen, eine nach der anderen, und sie schienen kein Ende zu finden.
Verblüfft starrte ich ihn an.
Johannes w e i n t e.
Er weinte tatsächlich.
Stumm verharrte ich in meiner Position, unfähig, den Blick abzuwenden.
Es war das erste Mal, dass ich meinen Bruder weinen sah. Ich war schlichtweg zu überrascht, irgendetwas zu tun.
„Wie konntest du mich nur verlassen“, schluchzte er, das Messer in seiner zitternden Hand auf mich gerichtet, „Wie konntest du mich bloß einfach allein lassen?“
Ich hatte das Gefühl, dass seine Worte nicht allein an mich gerichtet waren, aber die nächsten waren es bestimmt, denn er sprach mich direkt an.
„Monster!“, schrie er mit tränennassen Augen, „Mona! Wie konntest du nur!!“
Und dann sauste seine Hand nach vorn und stach zu.
Im ersten Moment realisierte ich nicht, was geschehen war.
Ich spürte nicht einmal etwas.
Dann zog Johannes ganz langsam und keuchend seine Hand zurück und starrte sie mit großen Augen an. Sie war ganz rot. Sein Blick wanderte zu mir, er sah mir in die Augen, sein Blick wurde panisch und flehend, und er bettelte mit zitternder Stimme: „Verzeih mir. Verzeih mir, Mona… du bist meine Schwester… Ich liebe dich doch…“
Unterhalb meines rechten Schlüsselbeins wurde es merkwürdig warm, und ich tastete verwirrt nach der Stelle, fasste in etwas Feuchtes, hob die Hand vor meine Augen; jetzt war sie ebenso rot wie die meines Bruders.
Ich spürte Johannes‘ Hände, wie sie mich hielten, noch während ich nach vorn sackte. Er zog mich auf seinen Schoß, strich immer wieder durch mein Haar, und während mein Bewusstsein langsam im Nebel des Schmerzes versank, hörte ich ihn weinen. Etwas krachte laut, Schritte ertönten und Stimmen, aber Johannes rührte sich nicht.
„Bitte“, flüsterte er mit tränenerstickter Stimme, „Bitte, ich wollte das nicht. Ich wollte doch nie so werden… ich wollte doch nie so werden wie er…“
Dann unterbrach ihn eine harsche Stimme, und alles wurde schwarz.






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