Die Nacht, in der ich nicht schlafen konnte - Teil 3

Autor: sunny
veröffentlicht am: 13.08.2011


Hey ihr Lieben, danke für die vielen tollen Kommentare!!!! Das ist das erste Mal, dass ichw as veröffentliche, das so umfangreich ist. Klappt echt viel besser, als ich dachte!
Ich hoffe, euch gefällt die Fortsetzung... stecke momentan in Kapitel fünf, beeile mich aber, schnell weiter zu schreiben ;)

Kapitel drei
Sternstunden der Verletzlichkeit

Der Wind weht unerwartet heftig durch das geöffnete Fenster, und ich fluche leise und drehe mich so hastig um, dass ich fast gefallen wäre. Gerade noch rechtzeitig kann ich mich halten, schließe das Fenster und wende mich wieder Nikolas zu, der sich auf den Kissen zusammengerollt hat und mich schläfrig anblinzelt.
„Vorsicht“, murmelt er, „Fall nicht.“
Gegen meinen Willen schleicht sich kleines, müdes Lächeln auf mein Gesicht.
„Geh schlafen, Niki“, verlange ich, „Es ist schon…“ Ich werfe einen Blick auf den Wecker, „gleich halb eins, und du musst doch morgen früh raus.“
Niki blinzelt mich an. „Und was, wenn ich dich nicht alleine lassen will?“ Die letzten Worte klingen undeutlich, weil er gähnen muss.
„Du wirst mich alleine lassen“, meine ich. „Hier kannst du doch nicht schlafen.“
„Klar kann ich!“ Nikolas fährt auf und stößt sich prompt an einem der Balken. „Au!“
„Ich bin schon groß, Nikolas“, sage ich, „Ich muss allein damit klar kommen. Geh.“
Er will etwas entgegnen, gähnt aber erneut und verlässt schließlich gehorsam meine Nische.
„Schlaf gut, Monster.“ Er sieht mich an, und sein Blick umarmt mich.
„Du auch, Niks.“ Ich erwidere seinen Blick.
Als er die Tür hinter sich geschlossen hat, bin ich wieder allein mit der Dunkelheit und der Stille der Nacht. Ich versuche, an etwas anderes zu denken, aber es ist schwer möglich, jetzt, nachdem Niki mich dazu gebracht hat, mich zu erinnern.
Mag sein, dass er glaubt, reden würde helfen; ich aber glaube es nicht.
Es tut weh.
Genau wie ich dachte: Reden heißt erinnern, und erinnern tut weh. Es tut verdammt weh. Und der Schmerz hilft nicht… der Schmerz macht alles nur noch schlimmer.
Tränen treten mir erneut in die Augen, und selbst das macht den Schmerz nur schlimmer. Ich bin nur einen Fingerbreit davon entfernt, einen gequälten Schrei auszustoßen. Jack. Jack. Überall ist Jack. Wohin ich auch blicke, was ich auch tue; überall begegnet er mir.
Ich erinnere mich erneut. Erinnere mich an die Tränen; die ersten Tränen nach mehr als einem Jahrzehnt.
Aber das kam später. Viel später.



Am Tag, nachdem ich Jack das erste Mal getroffen hatte, schleppte Susan mich nach einem ausgiebigen Verhör zu einer Eisdiele in der Nachbarschaft. Sie schien sich in den Kopf gesetzt zu haben, sich um mich zu kümmern; glücklicherweise redete sie selbst zu viel, als dass Raum für Antworten auf ihre zahlreichen Fragen geblieben wäre. Die meisten beantwortete sie sich selbst; ob richtig oder nicht, interessierte sie kaum, und mir war es im Moment ebenso egal.
Anscheinend kannte Susan den Besitzer der Eisdiele; sie nannte ihn Fabrizio und redete tatsächlich solange auf ihn ein, bis er mich schon für den nächsten Tag eingestellt hatte. Ich würde nicht viel verdienen, aber fürs Erste musste es reichen. Immerhin; in einer Eisdiele hatte ich bereits einmal gearbeitet, und dieser Hauch von Vertrautheit war mir viel wert. Ich wusste im Groben, womit ich es zu tun hatte; ich wusste ungefähr, was von mir erwartet wurde. Das war gut.
Obwohl ich versuchte, Susan klar zu machen, dass ich kein Geld hatte und mir nichts leisten konnte, schleppte sie mich zu einigen Geschäften, die tatsächlich am Sonntag geöffnet hatten. Sie behauptete felsenfest, ich müsse ihr nichts zurück zahlen und es mache ihr Spaß, mein Zimmer einzurichten. Schließlich gab ich es auf und half ihr bei der Auswahl der Gegenstände.
Tagelang waren wir mit meinem Zimmer beschäftigt. Ich hatte nicht viel Zeit, schließlich hatte ich jetzt einen Job, bei dem ich von zehn bis achtzehn Uhr arbeiten war, aber Susan hängte sich richtig rein. An jenem Sonntag noch hatten wir gemeinsam geputzt, Nikolas hatte uns geholfen. Montags fing Susan an zu streichen. Ben half ihr dabei und Lars und Niki übernahmen die Suche nach einem neuen Bücherregal. In dem alten, improvisierten hatten bereits ein paar Bücher gestanden, die mit in das neue einzogen. Für meine Klamotten erstanden sie eine Kommode, aber da meine Garderobe nicht sonderlich groß war, holte Susan mich eines Abends von der Arbeit ab und schleppte mich durch die Geschäfte, bis ich vor Müdigkeit und Unlust fast im Stehen einschlief. Danach besaß ich einige ungewohnt freizügige Kleidungsstücke, von denen Susan entzückt war, die ich allerdings leicht gruselig fand. Ich war es einfach nicht gewohnt, so viel Haut zu zeigen. Abgesehen von meinen inneren Hemmungen waren auch meine blauen Flecken noch keineswegs verschwunden. Die jüngsten, die mein Bruder mir am Tag meiner Abreise zugefügt hatte, bekamen gerade erst eine richtig schön deutliche, bunte Färbung. Ich achtete streng darauf, sie niemandem zu zeigen.
Eine der besten Ideen war die Hängematte. An dem Tag, an dem wir sie erstanden, war Niki mit uns unterwegs. Er entdeckte die Hängematte in einem der Mittelgänge eines Supermarktes, bei den Sonderangeboten, und berührte sehnsüchtig die Verpackung.
„Oh, eine Hängematte…! Früher hatten wir auch so eine – meine Schwester und ich haben uns immer darum gekloppt, wer als erstes rein darf… Ah, wenn wir einen Platz hätten, wo wir sie hinhängen könnten…“ Er grinste auf diese gewisse Art und Weise, wie er es immer tat, wenn er eine seiner verrückten Ideen hatte. Die meisten davon nahmen wir nicht ernst, aber einige hatten tatsächlich Potential. „He, ich weiß was Verrücktes!“ Sein Blick durchbohrte mich. „Wir könnten sie in deine Nische hängen… Jaja, ich weiß, das findet ihr verrückt.“
Er hatte es scheinbar schon aufgegeben, aber Susan bekam ihren tatendurstigen Glanz in den Augen und entgegnete: „Dann hätte aber nur Monster was davon.“ Sie wandte sich mir zu. „Magst du Hängematten?“
Ich liebte Hängematten. Als Kind hatte ich nicht oft Gelegenheit gehabt, mit andreren Kindern zu spielen, aber eine der wenigen Freundinnen, die ich hatte, hatte in ihrem Garten eine Hängematte. Sobald ich da war, lag ich praktisch schon drin, und es war äußerst schwer mich von dort wieder fort zu kriegen. Schwer zu sagen, was ich an der Hängematte so mochte; aber irgendwie fühlte ich mich dort geborgener als sonst irgendwo, und ich liebäugelte sofort mit der Idee, eine eigene zu besitzen. Also nickte ich – und seitdem hing die Hängematte in meiner Nische.
Einige Tage, nachdem ich in die WG eingezogen war, ging Ben mit mir zur Bank und eröffnete ein Konto für mich. Das war nötig, damit mein Gehalt von dem Job in der Eisdiele überwiesen werden und ich selbst über mein Geld verfügen konnte. Da ich noch nie zuvor ein Konto gehabt hatte, war dieser Vorgang für mich gleichermaßen faszinierend wie gruselig. Irgendwie waren mir Banken und insbesondere die Kommunikation mit ihren Angestellten nicht ganz geheuer. Es war gut, jemanden wie Ben zur Unterstützung an meiner Seite zu haben. Notfalls konnte ich mich hinter ihm verstecken, ihn um Rat fragen.
Jack hatte ich all die Tage nicht mehr gesehen. Geträumt hatte ich auch nicht mehr von ihm, allerdings konnte ich das nicht mit Sicherheit sagen, da ich mich meist nach dem Aufwachen nicht mehr an meine Träume erinnerte. Dass ich träumte, daran bestand kein Zweifel, denn Morgen für Morgen waren meine Laken zerwühlt, die Decke ein einziges Knäuel, und nicht selten schmerzte mein Kopf, als hätte ein großer Druck auf ihm gelastet.
An meinem zweiten Mittwoch in Berlin, meinem freien Tag, wachte ich davon auf, dass Susan schrie wie am Spieß. Ohne nachzudenken, sprang ich aus meiner Hängematte, die schon zu meinem erklärten Lieblingsplatz geworden war, warf meine Decke beiseite und stürmte nach draußen in den Flur. Mit aufgerissenen Augen starrte ich Susan an, die…
Jack um den Hals gefallen war.
In ebendiesem Moment drehte sie sich zu mir um und fragte erschrocken: „Monster, was ist los?“
„Ich…“ Verwirrt starrte ich sie an. „Ich dachte, irgendwas Schlimmes ist passiert! Du hast so geschrieen!“
Überrascht sah sie mich an, aber noch bevor sie etwas sagen konnte, stieß Jack hervor: „Monster!“
Er klang schockiert, und mein Blick flog sofort zu ihm. Fassungslos starrte er auf meine Beine, die mit blauen Flecken übersät und mit einigen noch nicht verheilten Wunden bedeckt waren. Eine der Wunden hatte sich entzündet und eiterte, aber ich wusste nicht, was ich dagegen hätte tun sollen.
Reflexartig hielt ich beide Hände vor meine Beine, was sinnlos war, da sie erstens nicht annähernd alles bedeckten und zweitens sein Blick so auf meine nicht minder schlimm zugerichteten Arme fiel.
Als mir das klar wurde, stieg Panik in mir auf. Auf der Stelle drehte ich mich um, verschwand in meinem Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu. Schwer atmend lehnte ich mich dagegen, dann stieß ich mich ab, kletterte in meine Nische und versteckte mich hinter einem Berg aus Kissen und Decken und den verschlossenen Türen. Fest kniff ich die Augen zu.
Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt!
Wie hatte das passieren können? Wie konnte ich nur so dumm sein?!
In meiner Sorge um Susan hatte ich nicht daran gedacht, dass ich nichts als mein Schlafshirt und eine Unterhose trug, als ich aus dem Raum gestürzt war.
Verdammt! Und noch einmal: VERDAMMT!
Das hätte nie passieren dürfen! Weder Susan noch Jack – gerade Jack – hätten meine Wunden jemals sehen dürfen! Und momentan war ich auch viel zu verzweifelt, als dass mir eine plausible Ausrede eingefallen wäre, die ich ihnen hätte auftischen können. Ich dachte gar nicht so weit – meine Gedanken drehten sich nur unentwegt um den verflixten Umstand, dass sie es gesehen hatten. Vor allem Jack. Verdammt, Jack! Was sollte er nur von mir denken?
Wieso interessierte mich überhaupt, was er von mir dachte?! Ich kannte ihn doch kaum! Es sollte mir egal sein! Er sollte mir egal sein!
Überhaupt alles sollte mir egal sein!!!
Das war es aber nicht. Das war es ganz und gar nicht. Verdammt, das alles hier war mir schon viel zu wichtig geworden. Schon dass ich mir solche Sorgen um Susan machte, war irrational und völlig untypisch für mich. Früher hatte ich mir um niemanden solche Sorgen gemacht.
Vielleicht, weil sich früher auch niemand solche Sorgen um mich gemacht hatte.
Susan und die Jungs hatten sich um mich gekümmert und mich völlig bedingungslos in ihrer Mitte aufgenommen, als gehörte ich dazu. Es war wie… ich weiß nicht… vermutlich war es genauso, wie man sich im landläufigen Verständnis den Begriff „Familie“ vorstellte. Als wäre ich eine von ihnen.
Sie hätten das nicht tun sollen. Ich hätte allein bleiben sollen. Niemand macht sich Sorgen um mich und ich mache mir Sorgen um niemanden, genauso, wie es hätte sein sollen. Natürlich wäre ich sehr einsam, aber… Gott, ich kannte es doch gar nicht anders! Und wie viel einfacher es wäre!
Aber so war es nicht. Und so würde es niemals mehr werden. Das wurde mir klar, als es kurz darauf vorsichtig an meine Tür klopfte. Die Wände waren hier nicht so hellhörig wie zuhause bei meiner Mutter und meinem Bruder, daher hatte ich nicht mitbekommen, wie Susan und Jack sich unterhalten hatten, aber mir war klar, dass sie es getan haben mussten.
Ich wollte nicht reden, mit keinem von ihnen, und ich wollte auch keinen sehen, am liebsten nie mehr wieder, daher antwortete ich nicht, sondern vergrub mich nur noch tiefer in meinem Kissen- und Deckenberg. Ganz weit hinten an der Wand ließ ich mir ein Luftloch zum Atmen, dort, wo mich von der Tür aus keiner würde sehen können.
Am liebsten wäre es mir, wenn sie mich überhaupt nicht finden würden, aber das war natürlich Schwachsinn. Sie hatten mich beide hier herein rennen sehen, und es war nicht schwer zu erraten, wo ich mich versteckte. Vielleicht hätte ich ein Fenster öffnen sollen, damit es aussah, als sei ich weggelaufen… Aber erstens befand sich die Wohnung im dritten Stock, und zweitens war es dazu nun sowieso zu spät. Ich hörte, wie sich die Tür zu meinem Zimmer öffnete.
Vorsichtige, ruhige Schritte traten ein. Das war nicht Susan, auf keinen Fall.
Die Schritte hielten inne und ich hörte, wie die Tür wieder geschlossen wurde.
War das etwa Jack?
Angespannt und ängstlich wartete ich darauf, dass er etwas sagen würde, aber er schwieg. Ich hörte nur, wie sich langsame Schritte zielstrebig dem Wandschrank näherten. Jack war noch nie hier gewesen; aber die Jungs waren unterwegs und Susan war niemals so zurückhaltend. Fieberhaft ging ich alle Möglichkeiten durch, aber eigentlich bestand kein Zweifel. Es konnte nur er sein. Wahrscheinlich hatte Susan ihm von meinem Refugium erzählt.
Direkt vor dem Wandschrank hielten die Schritte inne. Es klopfte, vier mal, kurz und präzise. Als ich nicht reagierte, blieb es einige Zeit still. Dann klopfte es noch einmal, zweimal nur.
Wieder blieb ich still.
Vorsichtig und langsam wurde eine der beiden Türen geöffnet. Ich hörte genau, wie der Magnet nachgab.
Nach kurzer Stille hörte ich, wie jemand in die Nische kletterte und sich – gezwungenermaßen recht nah – neben mir niederließ. Anschließend schloss sich die Tür wieder.
Stille nahm den kleinen Raum ein zwischen uns, um uns herum, breitete sich aus und kroch in jede kleinste Ritze. Bald war sie so materialisiert, dass ich glaubte, daran ersticken zu müssen. Ich musste mich bewegen, mein Gesicht frei schaufeln.
„Monster“, sagte Jack auf die Bewegung hin; seine Stimme war nur ein Wispern, ein Hauchen. Ich erstarrte unter ihrem Klang, konnte aber nicht verhindern, dass eine Gänsehaut meinen Rücken hinaufkroch. Er war es tatsächlich. Jack. Er war hier, ganz nah bei mir.
„Als ich klein war“, begann er leise zu erzählen, „hatte ich eine Nachbarin in meinem Alter. Ihr Name war Linda. Ich mochte sie sehr, wir waren fast ständig zusammen, gingen in denselben Kindergarten, später in dieselbe Schule. Sie war meine beste Freundin.“ Er hielt kurz inne und ich lauschte angestrengt, was er noch sagen würde. „Linda war ein Einzelkind. Sie hatte kurzes dunkles Haar und immer irgendwelche blauen Flecken oder Schrammen, deren Ursprung ich nicht kannte. Wahrscheinlich hätte mir das komisch vorkommen müssen, wir waren schließlich fast immer zusammen. Aber ich war ein Kind, ich war naiv, ich dachte mir nichts dabei. Das war eben Linda. Ich kannte sie nur so.“ Wieder verstummte er kurz, und ich hörte, wie er tief durchatmete. „Dann kam der Tag, an dem Linda nicht zur Schule kam. Natürlich hätte sie krank sein können, und anfangs glaubte ich das auch, aber normalerweise rief sie dann immer an und sagte Bescheid. Diesmal hatte sie es nicht getan, und als ich am nächsten Tag immer noch nichts von ihr gehört hatte, begann ich, mir Sorgen zu machen.“ Es klang, als lese er die Geschichte aus einem Buch vor. Er erzählte, als sei das alles weit fort. „Nachmittags klingelte ich bei ihr zuhause, um zu fragen, was mit ihr war und ob ich helfen könne. Aber es machte keiner auf. Also ging ich ums Haus herum, um an ihre Fensterscheibe zu klopfen, wie ich es oft getan habe, wenn wir uns heimlich treffen wollten.
Aber sie reagierte nicht. Ich schleppte also einen alten Gartenstuhl herbei und stieg drauf, um durch das Fenster sehen zu können.“
Diesmal schwieg er so lange, dass ich schon dachte, er würde gar nicht mehr weiter erzählen, aber er tat es doch.
„Sie lag da drinnen, auf ihrem Bett, und sah mehr tot als lebendig aus. Blutig und halb nackt.
Ich rannte so schnell ich konnte nach Hause und erzählte meiner Mutter völlig aufgelöst, was passiert war. Sie rief sofort einen Krankenwagen.“
Seine Stimme wurde noch leiser. „Zwei Tage später war sie tot. Lindas Mutter war allein auf der Beerdigung; ihr Mann saß im Gefängnis, wegen schwerer Kindesmisshandlung und Totschlags. Er hat seine eigene Tochter zu Tode geprügelt!“
Sein Schweigen war so schwer und angespannt, dass ich die Decke zurückzog, bis ich ihn ansehen konnte. „Ich habe keinen Vater“, stellte ich klar.
Jack starrte mich unverwandt an. Seine Augen waren wieder so dunkel wie bei unserer ersten Begegnung, fast schwarz, keine Spur von dem warmen Braun, dass sie später gezeigt hatten.
„Wer hat dir das dann angetan, Monster?“, fragte er hart. „Und erzähl mir nicht, du wärst gefallen. Solche Wunden entstehen nicht durch einen Sturz.“
Verbissen kniff ich meinen Kiefer zusammen, zog die Stirn kraus und starrte neben mich an die Wand. Eine Weile konnte ich gar nichts sagen. Dann stieß ich bloß hervor: „Das spielt keine Rolle. Es ist vorbei. Ich bin hier, und es ist vorbei.“
Jack sah mich nur schweigend an.
„Natürlich spielt es eine Rolle“, entgegnete er schließlich, „Er hat dir wehgetan.“
Aber ich schwieg. Ich konnte nicht darüber sprechen; darüber sprechen war noch viel schwerer, als es zu erleben. Darüber sprechen bedeutete zuzugeben, dass mir das wirklich passiert war. Schwäche zuzugeben. Und das konnte ich nicht. Ich konnte und ich wollte nicht. Ich wollte stark sein, fehlerlos, und ich konnte kaum mir selbst eigestehen, dass ich das nicht war. Dass ich das keineswegs war. Ich war schwach, ein schwaches kleines Mädchen, noch immer, und ich konnte nicht einfach zugeben, dass sich nichts verändert hatte seit damals, seit immer.
Darüber sprechen hieß außerdem, sich zu erinnern, und erinnern wollte ich mich nicht. Alles, was ich wollte, war, das Geschehene hinter mir zu lassen, ganz weit hinter mir, und neu anzufangen.
Davon abgesehen hatte ich schreckliche Angst vor Jacks Reaktion. Davor, dass er sagen könnte: „Du hättest dich doch wehren können!“ oder „Warum hast du das auch zugelassen? Warum bist du so dumm? Es ist doch alles deine Schuld!“
Das war es, stelle ich heute fest. Das war der Kern meiner Ängste. Dass jemand feststellen könnte, dass es tatsächlich meine Schuld war. Dass ich für all mein Leid selbst verantwortlich war und dass mich dann keiner mehr mögen würde.
Dass Jack mich nicht mehr mögen würde.
Aus irgendeinem Grund war mir seine Meinung extrem wichtig. Ich wollte mich vor ihm nicht so entblößen, mich nicht so völlig offenbaren, so schwach und allein, wie ich war. Es war, als hätte er verlangt, mich nackt auszuziehen… oder etwas in der Art. Es weckte in mir den erneuten Wunsch, mich zu verstecken. Vor ihm und aller Welt.
Etwa zehn Minuten – eine gefühlte Ewigkeit! – saßen wir schweigend so und blickten uns nicht an.
Dann wandte Jack den Kopf und erneut traf mich die volle Wucht seines Blickes.
Seine Augen waren jetzt braun mit einem leichten Grünstich. Ich spürte, dass er ruhiger geworden war.
„Darf ich mir deine Wunden ansehen?“, fragte er sehr sanft. „Einige davon sahen ziemlich schlimm aus. Ich würde sie gern verbinden.“
Ich zögerte. „Wirst du jemandem davon erzählen?“
Jack schlug die Augen nieder, aber ich bemerkte noch, dass sie wieder dunkler wurden. Er atmete tief durch. „Nein“, sagte er, sehr sorgfältig, „Nicht, solange du es nicht erlaubst.“ Die Sorgfalt, mit der er sprach, machte mir klar, dass er es ernst meinte. Sofort wurde ich ruhiger.
„Danke.“
Dann fiel mir etwas ein. „Was ist mit Susan?“
Jack sah auf, dunkelbraun seine Augen. „Sie musste los, war verabredet. Ich hab sie gebeten, erst mal nichts zu erzählen.“
Dafür war ich dankbar, aber mich quälte noch etwas anderes. Ich kaute auf meiner Unterlippe herum.
„Was soll ich ihr sagen?“, fragte ich sehr leise.
Jack sah mir ernst in die Augen. Etwa eine Minute lang hielt er den Blickkontakt und ließ mich nicht wegsehen. Die Farbe seiner Augen schwankte zwischen hell und dunkel.
„Die Wahrheit“, sagte er dann, und bevor ich etwas erwidern konnte, hob er eine Hand. „Sie sorgt sich wirklich um dich“, erklärte er, „Sie hat dich gern, als wärst du ihre Schwester. Sie hat dich einfach so hier aufgenommen. Sie verdient nichts anderes. Wenn du ihr schon nicht die ganze Wahrheit sagen kannst, dann lüg sie zumindest nicht an.“
Er hatte Recht. Beschämt schlug ich die Augen nieder. Es stimmte – ich konnte Susan nicht einfach anlügen, ganz egal, wie schwer mir das fiel.
„Komm mit in die Küche“, unterbrach Jack meine Gedanken. „Lass mich deine Wunden versorgen. Bitte.“
Kurz zögerte ich, dann schob ich ganz langsam die Decke beiseite und rappelte mich in eine sitzende Position hoch.
Jack wandte den Blick ab und schnaufte einmal heftig durch die Nase. Dann öffnete er die Wandschranktüren und kletterte hinaus.
Unten streckte er mir auffordernd eine Hand entgegen.
Ich kroch bis an den Rand vor und ließ mich wieder auf meinen Po sinken. Ein, zwei Sekunden lang starrte ich seine Hand unsicher an. Dann – ganz langsam – streckte ich ihr meine entgegen.
Jack stand ganz still und wartete, bis ich seine Hand von allein genommen hatte. Erst dann schlossen sich seine Finger um meine.
Er hielt sie ganz fest, während ich aus der Nische rutschte und auf den Boden sprang. Auch dann ließ er sie nicht los, sondern hielt sie fest und warm, bis wir in der Küche waren. Er zog und schob mich nicht, sondern ließ mich das Tempo und letztlich auch die Richtung bestimmen. Erst, als wir vor dem großen Esstisch standen, löste er seine Finger aus meinen und sah mich an – nur in mein Gesicht, nicht auf meinen Körper. Er stand sehr dicht neben mir. Mein Herz schlug heftig, und ich redete mir ein, dass es nur wegen der vertrackten Situation war.
„Setz dich am besten auf den Tisch“, schlug er vor, seine Augen noch eine Spur heller als sonst. „Warte kurz, ich hole das Verbandszeug.“
Er drehte sich um und ging aus der Küche. Ich hörte seine Schritte im Flur und wie er die Tür zum Bad öffnete.
Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, tat ich, was er gesagt hatte, und kletterte auf den Tisch. Mit baumelnden Beinen saß ich da und wartete, dass Jack wiederkommen würde.
Er ließ mich nicht lange warten. Schon kurz, nachdem ich auf der Tischkante Platz genommen hatte, marschierte er zurück in die Küche, in der Hand einen kleinen weißen Koffer mit einem roten Kreuz darauf, den anderen Arm mit allerlei Tuben und Fläschchen beladen. Er legte alles neben mir ab und trat einen Schritt zurück. Erst dann hob er den Blick und sah mich an.
Ich erwiderte seinen Blick schweigend. Hinter unser beider Augen brodelten Gedanken und Gefühle, aber ich konnte seine nicht lesen und ahnte und hoffte, dass es ihm bei mir genauso ging.
Ganz vorsichtig streckte er seine Hand aus und nahm meine Hand in seine, senkte den Blick auf meinen Arm und kniff kurz die Lippen zusammen. Dann atmete er tief durch und setzte ein unbeteiligtes Gesicht auf. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich vor mich, griff nach einem der Fläschchen, einen Wattebausch und einer Pinzette. Stillschweigend und mit größter Konzentration machte er sich an die Arbeit. Erst den rechten Arm, dann den linken. Als er ihn behutsam hin und her wandte, um zu sehen, ob er eine Wunde übersehen hatte, entging ihm mein Zusammenzucken nicht. Die linke Schulter war diejenige, die Johannes am heftigsten erwischt hatte. Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, Jack merken zu lassen, dass sich nicht alle Wunden gut sichtbar auf Armen und Beinen befanden; aber er merkte es sofort, hielt kurz inne und hob dann den Kopf. Forschend sah er mir in die Augen, und noch während ich versuchte, den Blick möglichst unbefangen zu erwidern, wanderte seine Hand langsam an meinem Arm hoch, was mir eine Gänsehaut verursachte. Am Ärmel meines T-Shirts hielt er inne, lenkte seinen Blick auf seine Hand und versuchte dann vorsichtig, ihn nach oben zu schieben, um meine Schulter freizulegen.
Vor Schmerz kniff ich beide Augen zu und unterdrückte ein Keuchen. Grob schob ich seine Hände fort, schlang beide Arme um meinen Oberkörper und senkte den Kopf, bis ich den Schmerz wieder im Griff hatte. Schon mich umzuziehen, war jedesmal wieder eine Tortur. Berührungen von außerhalb konnte mein Körper noch nicht ertragen.
Jack tat gar nichts. Er sah mich nur an, behielt seine Hände bei sich und wartete, mit vor Sorge wieder dunklen Augen.
Dies war der Moment, in dem ich nachgab. Krampfhaft und ungeschickt und mit vor Schmerz verzogenem Gesicht zog ich mir das Shirt über den Kopf und legte es neben mich. Gott sei Dank trug ich einen BH darunter; so war es schon schwer genug. Ich zitterte vor Angst und Unsicherheit und Nervosität und umschlang mich fest mit beiden Armen.
Jack starrte mich an, und seine Augenfarbe schwankte von beige zu schwarz und wieder zurück. Als er meine Schulter erblickte, entwich ihm ein pfeifendes Keuchen.
„Oh Gott“, flüsterte er und vergrub sein Gesicht in seinen Händen, „Oh großer Gott.“
Dann stand er auf und nahm mich, bevor ich irgendetwas tun konnte, ganz sanft in den Arm. Seine Hände hielten meinen Kopf und betteten ihn an seine warme Brust, und er wiegte mich schwach hin und her. Ich konnte sein Herz schlagen hören. Es klang fast genauso unregelmäßig wie meins.
Ziemlich bald schon ließ er mich wieder los.
„Tut mir Leid“, entschuldigte er sich heiser, „Wenn ich dich überrumpelt habe. Es ist nur…“ Sein Blick glitt zurück zu meiner Schulter, und ich sah das Flackern in seinen Augen. „Ich hatte nicht erwartet, dass es so heftig ist“, endete er. Schwach ließ er sich wieder auf seinen Stuhl fallen.
„Kannst du… den Arm bewegen?“, fragte er, deutete auf meinen linken Arm und schüttelte noch im selben Atemzug den Kopf. „Natürlich kannst du. Ich hab’s ja gesehen. Es ist nur… oh, tut mir Leid, Monster, ich hab… nur noch nie… einen so… schwarzen…“ Er schluckte und beendete den Satz nicht. Stattdessen streckte er die Hand aus und berührte schmetterlingszart die Haut an meiner Schulter.
Der Bluterguss dort war riesig, und er hatte sich in den letzten Tagen nahezu schwarz verfärbt. Ich kannte das schon – die linke Schulter war eine der liebsten Anlaufstellen meines Bruders, abgesehen von Bauch und Rücken; und Fersen, die auch. Aber für Jack musste dieser Anblick neu sein und allem Anschein nach erschütternd. Seine Berührung ließ mich zurückzucken, aber nicht vor Schmerz, sondern vor dem merkwürdigen Kribbeln, das jede seiner Berührungen begleitete und mich nun stärker als erwartet überfiel. Fasziniert lauschte ich in mein Inneres. Irgendwie mochte ich dieses elektrisierende Gefühl.
Der BH-Träger, den ich notgedrungen viel zu lose eingestellt hatte, rutschte auf dieses Zucken hin von meiner Schulter, und ich schob ihn hastig zurück, was mich zwang, kurzzeitig meinen Bauch frei zu geben. Jack entdeckte die Narben darauf und hielt meine Hand auf, bevor sie sie wieder verdecken konnte. Langsam löste er meine andere Hand und schob sie beiseite.
Fassungslos glitten seine Finger an meiner bleichen, vernarbten Haut nach unten. Meine Muskeln zogen sich bei dieser Berührung empfindlich zusammen, und alle Härchen stellten sich auf. Johannes‘ letzten Angriff hatte mein Bauch relativ unbeschadet überstanden, Rücken und Schultern hatten diesmal den größten Schaden davon getragen, aber Jack fixierte meinen Bauch, als sei er bereits der Inbegriff aller Schrecklichkeit.
„Was haben sie dir angetan, Monster?“, flüsterte Jack, und zum ersten Mal merkte ich, dass ich gerne so genannt wurde. Von Jack wurde ich gern „Monster“ genannt. Bei ihm klang es irgendwie anders; wie alles, eigentlich. „Was haben sie dir nur angetan?“
Ich blickte auf die Narben, die er so fassungslos betrachtete.
„Das waren Zigaretten“, erklärte ich, „Ist schon lange her.“ Als er mich ungläubig anstarrte, fügte ich hastig hinzu: „Es ist nicht schlimm. Mein Bauch hat das letzte Mal wenig abbekommen. Ich kann ihn mittlerweile gut schützen.“
Jack nahm mit seinen Händen meine, krallte sich daran fest und senkte seinen Kopf darauf.
„Hör auf“, stöhnte er. Zum ersten Mal klang er heftig und nicht so sanft und zurückhaltend wie sonst. „Hör auf, davon zu reden, als sei es… als sei es… nichts! Es ist… das ist…“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist, als seist du behandelt worden wie ein verdammter Gegenstand!“ Jetzt brüllte er fast und seine dunklen Augen schienen Funken zu sprühen. Sie schimmerten merkwürdig, aber noch bevor ich mir darüber klar werden konnte, weshalb, hörten wir, wie ein Schlüssel sich im Schloss drehte und die Wohnungstür aufgestoßen wurde.
„Bin wieder daa!“, rief Niki und die Tür fiel wieder zu. „Monster? Bist du da?“
Da die Küche ziemlich direkt gegenüber der Wohnungstür lag, war es eigentlich nicht ungewöhnlich, dass er direkt hierher kam. In der Tür blieb er stehen. Wir starrten ihn beide an, wie er erst überrascht aussah, dann grinste und fragte: „Was geht denn hier a…“ Sein Blick blieb an meinem Körper hängen und er stockte. „Oh mein Gott!“
Ich fühlte mich mehr als nur unwohl. Hastig riss ich meine Hände aus Jacks Griff, rutschte von der Tischplatte und wollte fliehen, doch Jack fing mich ein und zog mich einfach auf seinen Schoß.
Ich hatte keine Chance. Er hielt meine Hände überkreuzt in seinen, umschlang mich sicher mit seinen Armen, die so viel stärker waren als ich.
„Lauf nicht weg“, verlangte er, „Nicht schon wieder.“
Niki trat in die Küche, schnappte sich einen Stuhl und ließ sich uns gegenüber nieder. Noch immer starrte er mich an.
„Das ist nicht erst gestern passiert“, stellte er fest.
Ich konnte gar nichts sagen, aber Jack platzte heraus: „Irgendjemand muss sie geschlagen haben, mehr als einmal, bevor sie hierherkam.“ Kurz schwieg er verbissen. „Sie will nicht sagen, wer.“
Ich wollte ansetzen, etwas zu sagen, irgendetwas, aber Jack zog mich noch fester an seine Brust. Merkwürdigerweise empfand ich keinen Schmerz, obwohl fast mein ganzer Rücken blau war und auch einige Wunden noch nicht ganz verheilt waren.
„Hilfst du mir, sie zu verarzten?“, fragte er Niki.
Niki starrte von ihm zu mir und wieder zurück. „Das ist… sie muss… können wird das überhaupt alleine? Muss sie nicht zu einem Arzt?“
Ich erstarrte, aber Jack schüttelte nur den Kopf, was ich irritierenderweise nicht sah, aber an meiner Schulter spürte. „Der würde auch nichts anderes tun als wir hier. Komm, hilf mir.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf und setzte mich auf den Tisch zurück, als sei ich eine Puppe. Verdutzt blieb ich erst einmal sitzen.
„Hast… du… ihren Rücken gesehen?“, fragte Niki unsicher und räusperte sich.
Schweigend drehte Jack mich herum, strich mein langes Haar beiseite und hielt meine Hände fest, die ihn hindern wollten.
Ich spürte, wie sein Blick über meinen Rücken glitt, aber er sagte nichts, sondern ließ bloß meine Hände los und streckte seine rechte nach dem Verbandsmaterial aus.
„Gib mir mal die weiße Salbe da, Nikolas. Nein, nicht die – die da… genau. Dankeschön.“
Ewigkeiten fuhrwerkten sie an mir herum, pflasterten mich mit Cremes und Verbandsmaterial zu, schoben mich hin und her. Gegen Mittag hatte ich mich fast an die vielen fremden Berührungen gewöhnt. Allerdings war es nach wie vor hauptsächlich Jack, der mich berührte. Niki führte meist nur seine Anweisungen („Halt mal hier“ – „Gib mir mal das“) aus. Zwischendurch stellte er das Radio an, und die Musik löste ein wenig die gespannte Atmosphäre und machte uns alle zugänglicher. Jacks Berührungen kribbelten immer noch, aber mittlerweile war ich darauf vorbereitet und konnte damit umgehen; zumindest versuchte ich es.
Als sie endlich fertig waren, sah ich aus wie ein Flickenteppich und bekam endlich die Erlaubnis, mich waschen und anziehen zu gehen. („Duschen noch nicht, um Himmels Willen! Die Salben!“)
Als ich sauber und versteckt in meinen langen Klamotten wieder in die Küche trat, fühlte ich mich wesentlich wohler. Niki stand am Herd und kochte irgendeine Gemüsepfanne, während Jack am Tisch einzelne Gemüsesorten in kleine Teile Schnitt und immer wieder mal etwas in die Pfanne warf, was diese mit einem scharfen Zischen kommentierte. Wortlos schnappte ich mir ein Messer, setzte mich zu Jack an den Tisch und half ihm, die Paprika zu zerkleinern. Niki drehte das Radio lauter und sang laut mit. Ich sah, wie Jack mit hellen Augen lächelte, und konnte nicht anders, als es ihm gleich zu tun.
Als wir alle drei am Tisch saßen und unser Gemüse mit ein paar aufgewärmten Kartoffeln vom Vortag aßen, ließ Jack plötzlich seine Gabel sinken. Intensiv sah er mich an.
„Wir müssen darüber reden“, verkündete er.
Ich hätte meine Gabel fallen gelassen, hätte sie nicht gerade sowieso auf dem Tellerrand gelegen. Niki hob den Kopf und sah ihn an.
„Es geht nicht, dass du es weiter vor allen versteckst“, fuhr Jack fort. „Du musst uns nicht die Wahrheit erzählen, aber lass zumindest deine Freunde wissen, wie es um dich steht. Wir können keine Rücksicht auf dich nehmen, wenn du nicht mit uns sprichst.“
Die Tatsache, dass er erst „Freunde“ und dann „wir“ sagte, jagte mir ein leichtes Kribbeln über die Haut. Unlogischerweise machte es mich glücklich, zu hören, dass er sich zu meinen Freunden zählte. Ich hatte noch nie wirkliche Freunde gehabt. Aber was er verlangte, konnte ich nicht tun.
„Ich… ich kann nicht…“, begann ich zögernd.
„Darüber reden?“, fragte Jack. Er klang wieder sanft. „Das musst du nicht, Monster. Niemand zwingt dich zu irgendetwas. Es ist nur eine Bitte, ein Rat von mir.“
„Aber ich kann nicht darüber reden!“, brachte ich hervor. Ich klang flehend, gegen meinen Willen.
Jack lächelte mich ganz vorsichtig, ganz zaghaft an. Es war das erste Lächeln, das er mir schenkte. Seine Augen waren hellbraun. „Du müsstest mir bloß erlauben, ihnen zu erzählen, was ich weiß“, schlug er vor. „Du könntest mich auch jederzeit unterbrechen. Du könntest selbst erzählen, was du selbst erzählen willst. Lass dir soviel Zeit, wie du brauchst. Aber es wäre wirklich besser, wenn du es ihnen erzählst.“
Eine Weile starrte ich ihn nur an. Jack, lächelnd. Ein lächelnder Jack. Ein hoffnungsvoller Jack. Seine hellen Augen. Seine feine Narbe, gekräuselt durch das Lächeln. Seine Lippen. Sein wirres Haar.
„Heute Abend“, entschied ich. „Erzähl du es ihnen.“
Ich klang anders als sonst, nicht so schüchtern, nicht so abweisend, ich merkte es selbst; ich veränderte mich, schon seit einer Weile. Die Veränderung hatte begonnen, als ich Jack das erste Mal traf, und heute hatte sie einen großen Schritt vorwärts gemacht.
Es machte mir Angst.
Aber es war auch gut.
War es nicht genau das, was ich gewollt hatte?
Ich hatte Veränderung gewollt… aber nicht total. Ich wollte die Kontrolle erlangen und behalten. Dass ich sie an Jack zu verlieren drohte, gefiel mir nicht. Ich beschloss, vorsichtiger zu sein. Mich nicht auf ihn einzulassen. Ganz egal, wie schön sein Lächeln war. Und seine Augen. Seine UNGLAUBLICHEN Augen.
Jack lächelte mich dankbar an, und ich vergaß meine Beschlüsse.
An was hatte ich nochmal grade gedacht? Es war wichtig gewesen…
Ach, egal. Wenn es so wichtig war, würde es mir schon wieder einfallen.
„Das schmeckt gut, Niki.“ Ich lächelte ihn an und konnte nicht fassen, dass tatsächlich ich es war, die das sagte.
„Danke“, erwiderte Niki erfreut. Er strahlte.
Was hatte ich bloß gegen Veränderung? Sie schien die Leute glücklich zu machen.
Irgendwie ging es mir gut.
Für den Moment.






Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 5 Teil 6 Teil 7 Teil 8 Teil 9 Teil 10 Teil 11 Teil 12 Teil 13 Teil 14


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz