Théâtre Ombre de Lutèce - Teil 9

Autor: Ananas
veröffentlicht am: 17.10.2011


Die Straßenlaternen sind bereits gelöscht und allein das schwache Mondlicht lässt mich die Umrisse der Häuser erahnen, die an den Straßen stehen, die ich fieberhaft entlang renne. Meine Beine werden müde, meine Füße wund, meine Lungen tun weh, aber ich laufe weiter, biege immer wieder ab, bis ich schließlich selbst die Orientierung verloren habe. Schließlich stehe ich in irgendeiner Gasse, drücke mich an eine Steinwand und lausche in die Nacht. Bis auf den Atem der Stadt, ihre nächtlichen Seufzer und einem entferntem Lachen, das durch die Straßen schallt, ist nichts zu hören. Einen Moment lang glaube ich, dass ich mir das alles eingebildet habe, dass gar nicht passiert ist und dass es keinen Grund gibt mich zu fürchten. Aber ich stehe wirklich in dieser kalten Gasse, ohne Schuhe, mit der Angst im Nacken.
Nach einer Weile traue ich mich aus meiner Gasse heraus. Ziellos wandere ich die Straße hinab, immer noch fest mit einem Verfolger rechnend. Es dauert eine ganze Weile, bis ich mich ein wenig beruhigen kann. Schwer zu glauben, was da gerade passiert ist: Jemand ist in unser Haus eingebrochen, um mich zu finden. Ich wünsche mir so sehnlichst, dass Christel mir erklärt hätte, was los ist. Irgendwas geschieht. Man sucht nach mir, auch wenn ich nur vage erahnen kann, wieso. Ich weiß nicht mal, was mit meiner Tante geschehen ist. Das einzige, dessen ich mir jetzt sicher bin, ist die Tatsache, dass ich mich in Gefahr befinde.
Wo soll ich hin? Ich nehme mir fest vor, morgen früh zum Scotland Yard zu gehen, doch jetzt... Meine Füße frieren. Wie um alles in der Welt konnte ich zwar einen Mantel und meine Handtasche mit dem Geldbeutel mitnehmen, aber nicht daran denken, dass ich Schuhe brauche? Ich verfluche mich. So kann ich nicht draußen bleiben. Irgendwohin muss ich. In Gedanken gehe ich alle meine Londoner Bekannten durch und überlege, ob ich einen von ihnen aufsuchen kann. Aber mir wird schnell klar, dass ich bis auf die von Christel keine einzige Adresse weiß.
Adresse... Etwas fällt mir ein. Schnell durchsuche ich meine Handtasche und finde den Zettel, der mir im Scotland Yard raus gefallen war und den mir irgendwer zugesteckt haben muss. Ich habe dem Ding keine großartige Beachtung geschenkt, doch jetzt interessiert es mich brennend. Wer könnte mir das zugesteckt haben und wo? Ich bin mir ganz sicher, dass es im Gebäude passiert sein muss. Und da kommen eigentlich nur der Admiral und der rothaarige Polizist in Frage. Ich es vielleicht Connors Adresse? Es stand eine Uhrzeit darauf. Vielleicht wollte er sich mit mir treffen und irgendwas besprechen, was in Gegenwart des Admirals nicht möglich war. Ja, vielleicht kann Connor mir wirklich helfen.
Irgendwie erleichtert darüber, eine Idee zu haben, was ich tun soll, mache ich mich auf die Suche nach eine Droschke. Es ist gar nicht so einfach, in der Nacht eine zu finden, deren Fahrer nicht nach Schnaps riecht und halbwegs vertrauenswürdig aussieht. Doch schließlich werde ich fündig, zumindest denke ich das, und strecke dem Fahrer den Zettel hin. Er runzelt die Stirn, aber fährt los.
„Was will denn 'ne Lady wie Sie in so einer Gegend?“ fragt er, während er Richtung Osten, Richtung Easte End, abbiegt.
Ich habe ein mulmiges Gefühl im Magen und hoffe, dass Connor nicht zu weit in dieser Richtung wohnt. „Ich... besuche jemanden.“
„Na, wen Se wohl zu so später Stunde besuchen...“ murmelt er vor sich hin und ich bin erschrocken darüber, was er jetzt denkt. Aber solange er mich ans Ziel bringt, muss ich damit leben.
Nach einer Weile hält die Droschke, ich drücke ihm das Geld in die Hand und steige aus. Es ist kein gutes Viertel. Ich glaube, es ist nicht schlimm genug für Slums, aber ein anständiger Bürger würde sicherlich eine andere Unterkunft bevorzugen. Sieht so ein Arbeiterviertel aus?
Verunsichert darüber, wo ich eigentlich gelandet bin (und nicht zuletzt über Connors Ehrbarkeit), suche ich in den dunklen Backsteinreihen nach der richtigen Hausnummer. Die Häuser sind ziemlich hoch und ich vermute, dass es mehrere Wohnungen gibt. Die Tür steht einen Spalt breit offen, das Schloss sieht aus, als hätte es jemand aufgebrochen, sodass ich eintreten kann. Es gibt keinen Portier, der mir helfen könnte, Connor zu finden, oder der darauf achten würde, wer her ein und aus geht. Auf zwei Stockwerken scheinen Wohnungen verteilt zu sein und es gibt keinerlei Hinweis darauf, wer in welcher Wohnung lebt. Ich stehe unschlüssig in dem dunklen Gang im oberen Stock. Soll ich nach Connor rufen? Soll ich es in jeder Wohnung versuchen? Nein, das wäre viel zu gefährlich.
Während ich überlege, höre ich schwere Stiefel auf der Treppe. Sogleich beginnt mein Puls wieder zu rasen und eine Gestalt taucht im Dunklen auf. Ich bekomme Angst, doch kann mich nirgendwo verstecken.
„Nicky?“ fragt die Stimme. Sie ist rau, aber nicht tief genug für eine Männerstimme, was mich zumindest ein wenig erleichtert. „Nicky, bist du's?“
„Nein,“ antworte ich unsicher.
Mit schnellen Schritten nähert sich de Gestalt, ich weiche zurück, doch sie bleibt trotzdem erst dicht vor mir stehen. Sie holt etwas hervor und entzündet dann ein Zündholz, das mich blendet.
„Wer bist du und was machst du hier?“ fragt sie in strengem Tonfall, der mich unangenehm an Christel erinnert, und hält mir das brennende Streichholz ins Gesicht, um es besser erkennen zu können.
„Ich... mir... Ich suche einen Polizisten namens Connor,“ stammele ich. „Wohnt er hier?“
Die Frau sieht mich an und bricht in schallendes Gelächter aus. „Ein Polizist! Hier wohnen! Sicher doch!“ prustet sie, während die Flamme erlischt. Schnell zündet sie ein neues Streichholz an. Als sie sich beruhigt hat, sieht sie mich durchdringend an. „Und was willst du von ihm?“
„Ich... habe einen Zettel mit dieser Adresse bekommen. Ich dachte, er würde hier wohnen,“ erkläre ich kleinlaut. Vielleicht wäre es besser, ich würde einfach gehen, aber die Frau macht den Eindruck, als würde sie Connor kennen. Ich hole den Papierfetzen aus der Manteltasche und strecke ihn ihr entgegen.
Ihre Hand greift danach, sie sieht ihn sich an und schnalzt mit der Zunge. „Du solltest um fünf Uhr hier sein,“ sagt sie. Fünf Uhr ist die auf dem Zettel unterhalb der Adresse vermerkte Uhrzeit.
„Was soll das heißen?“ frage ich verwirrt.
„Warte,“ meint sie seufzend.
Dann entzündet sie ein drittes Streichholz und entriegelt mit einem Schlüssel das rostige Schloss einer Wohnungstür. Sie hält einen Finger an den Mund und bedeutet mit leise zu sein. Ihre Schuhe zieht sie aus, was ein Paar löchriger Wollstrümpfe zum Vorschein bringt, und öffnet vorsichtig die Tür. Sie winkt mir zu folgen und ich betrete zögerlich hinter ihr die Wohnung.
Tapsige Schritte kommen uns entgegen und jemand stürzt sich auf die Frau vor mir.
„Hast du sie gefunden?“ fragte eine aufgeregte Mädchenstimme.
„Nein, hab ich nicht.“
„Und wer ist das?“ Es ist dunkel, aber ich bin mir sicher, das Mädchen zeigt auf mich.
„Niemand.“
„Niemand?“
„Die Lady.“
„Oh! Mach Licht, ich will sie sehen!“ Ich kann hören, wie sie aufgeregt hüpft.
„Nein, leg dich schlafen, es is' spät.“
Das Mädchen seufzt daraufhin und verschwindet. Ich höre eine Tür knarren uns es ist still. Die Frau, die mich reingebracht hat, geht durch das Dunkel und entzündet eine Kerze.
„Mach die Tür zu, und sei ja leise,“ weist sie mich an und ich befolge stumm. Was bleibt mir denn anderes übrig?
Sie setzt sich auf einen Stuhl und beobachtet mich. Sie hat ein rundes Gesicht mit schmalen Augen und nach hinten gebundenes Haar, das an Weizen erinnert. Es ist golden, aber irgendwie stumpf und kraus. Nichts im Vergleich zu Christels Honig-Locken.
„Setzt dich,“ sagt sie und zeigt auf einen zweiten Stuhl. „Du bist Miss Temple, richtig?“ Ich nicke und setzte mich auf einen Stuhl gegenüber der Blondine.
„Und ich bin Lady Arla Hunter,“ sagt sie und ich höre ein Kichern hinter der Tür, hinter der das Mädchen gerade verschwunden ist. „Kannst mich aber einfach Arla nennen. Und das hinter der Tür ist die Herzogin von Wales, Kronprinzessin und zukünftige Königin von England, du verbeugst dich also lieber das nächste Mal, wenn du ihr über den Weg läufst,“ fährst sie fort und das Kichern wird zu einem Lachen im Halbdunkeln, in das Arla einstimmt.
„Gracie, meine Nichte,“ sagt sie schließlich leise, um das Spiel nicht zu zerstören.
Ich nicke und sehe zu, wie Arla sich eine Zigarette anzündet. Wie vulgär.
„Du wolltest also Fox treffen,“ meint sie und atmet Rauch aus. „Connor, meine ich,“ fügt sie hinzu, als ich sie meine Verwirrung bemerkt. „Fox is' sein Spitzname. Und nicht nur wegen der roten Haare, wenne verstehst.“
„Ja, sicher,“ antworte ich, obwohl ich gar nichts verstehe.
„Listig ist er nämlich auch noch, das ganze hier hinter dem Rücken von seinem Boss... Ich würde dir jedenfalls raten, mal gut drüber nachzudenken, ob du dabei mitmachst. Jedenfalls, du hast ihn natürlich lange verpasst, ich weiß also gar nicht, was du hier noch willst,“ schwatzt Arla drauf los, während sie das ganze Zimmer mit dem Rauch füllt. Sie hat einen breiten East End-Akzent und eine rauchige Stimme.
Ich frage mich, was die Frau alles weiß und was es mit der Sache auf sich hat, von der sie da redet. „Sagen Sie, was wollte Mister Connor denn genau von mir? Ich habe lediglich Adresse und Uhrzeit bekommen, keinerlei Information.“
„Oh, er hat's dir gar nicht gesagt?“ fragt Arla und lacht. „Na, dann warte, ich erklär's dir: Ich und der gute Fox sind alte Bekannte und er wollte, dass ich ihm bei einer Sache helfe, nämlich dieser Mordgeschichte da und er braucht dich dafür. Nur, das wär nicht so ganz simpel und sein Vorgesetzter wird das nie genehmigen und deine Leute schon gar nicht. Aber er ist schon länger hinter einer Sache her, deshalb wollte er sich mit dir in einem Plätzchen wie diesem hier treffen, verstehst du?“
Ich schüttele den Kopf. Das alles hat irgendwas mit Simon und Emma zu tun, soviel war von vorneherein klar, doch worauf genau Arla hinaus will, verstehe ich nicht. Sie seufzt. „Connor will Karriere machen und er ist schon lange etwas auf der Spur. Er will den Fall irgendwie ohne seinen Boss, diesen Davis oder wie er heißt, lösen, damit der nicht alle Lorbeeren einheimst. Und er meinte, da gäbe es diese Miss Temple, die irgendwas wüsste und sich als hilfreich erweisen könnte,“ erklärt sie.
„Ich... verstehe nicht ganz,“ murmele ich verlegen.
„Natürlich nicht. Ich werd bald mal mit Connor reden und ihm sagen, dass du doch hier warst, mehr kann ich aber nicht machen und es ist sowieso schon weit nach zwei, wenn nicht drei Uhr morgens, du solltest also zurück nach von-wo-auch-immer-du-dich-davongeschlichen-hast.“
Ich zwinge mich zu einem Lächeln und verberge die Verzweiflung darüber, wieder allein in die Kälte gehen zu müssen.
„Komm, ich bring dich noch raus, muss eh noch was erledigen. Kann dir zeigen, in welche Richtung du musst, um ne Droschke zu finden,“ meint Arla und steht auf. „Zieh deine Schuhe an, ich seh noch mal nach Gracie.“
Da ich keine Schuhe zum Anziehen habe, gehe ich bloß zur Tür und warte dort auf Arla. Ich kann sie im Dunkeln mit dem Mädchen flüstern hören.
„...Nicky nach Hause bringen,“ höre ich das Kind.
„Mach dir keine Sorgen, Kleines. Ich find sie schon.“
„Versprochen?“
„Ja, versprochen. Jetzt leg dich schlafen.“
Ich frage mich, wer diese Nicky ist, nach der Arla schon die halbe Nacht zu suchen scheint.
„He, hab ich nicht was von Schuhe anziehen gesagt?“ fragt sie, als sie wiederkommt.
Ich schlucke und antworte halblaut: „Ich habe keine.“
Arla zögert. „Du bist eine feine Dame, wie kannst du keine Schuhe haben?“
„Ich... habe welche. Ich hab nur vergessen, sie anzuziehen.“
Ein Lachen entweicht Arlas Kehle. „Hör mal, wenn du eine von diesen Verrückten bist...“
„Nein... Bei uns wurde eingebrochen... Ich bin weggelaufen,“ sage ich mit einiger Überwindung und versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie erschüttert ich bin.
„Was soll das heißen? Du bist ohne Schuhe weggelaufen? Bei der Kälte?“
Ich bin todsicher, dass mir bei der Antwort die Stimme versagen wird, deshalb senke ich schweigend den Kopf.
„Oh Mann...“ meint Arla. „Hör mal, ich würde dir ja gern helfen, aber ich kann dir weder Schuhe leihen, noch sagen, wo Connor wohnt oder was du jetzt machen kannst. Aber du kannst nicht hierbleiben, tut mir leid.“
„Bitte, ich weiß nicht, was ich sonst tun soll,“ sage ich und sehe sie flehend an.
Ihre Augen sind wie braunes Karamell, das langsam schmilzt, während sie mitleidig meinen Blick erwidert.
„Ich kann Gracie nicht hier mit dir allein lassen und ich selber muss mich noch um was kümmern,“ murmelt sie entschuldigend.
„Bitte, ich werde keinen Ärger machen, ich kann nirgendwo hin,“ flehe ich.
Sie hadert mit der Entscheidung, das kann ich deutlich sehen, aber schließlich seufzt sie und sagt: „Also gut. Du darfst bis zum Morgen hier bleiben. Aber wenn ich zurück komme, und mit Gracie ist irgendwas...“ Sie sieht mich ernst an, wie eine Löwin, die mir den Kopf abreißen und mich bei lebendigem Leibe verspeisen wird, wenn ich ihrem Kind nur ein Haar krümme. Schnell nicke ich.
„Ich versuch bald wieder da zu sein,“ sagt sie und zieht ihre Schuhe und einen dicken Schal an. „Du kannst dich dort hinlegen und schlafen“ - Sie deutet auf ein paar Decken, die in der Ecke liegen. - „Und mach niemandem auf,“ schärft sie mir ein und geht zur Tür.
„Arla?“ Ich warte, bis sie sich kurz umdreht. „Danke,“ sage ich und habe es selten in meinem Leben so ernst gemeint. Sie nickt knapp und ist sogleich verschwunden, sodass ich mir mit meiner Dankbarkeit fehlt am Platz vorkomme.
Nachdem sie gegangen ist, wickele ich mich in die Decken, auf die sie gezeigt hat, lehne mich an die Wand und ergebe mich dem Schlaf.





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