Théâtre Ombre de Lutèce - Teil 4

Autor: Ananas
veröffentlicht am: 02.09.2011


So, hier der vierte und direkt hinterher der fünfte Teil (siehe Anmerkung unter Teil 5). Danke für die lieben Kommentare und viel Spaß beim Lesen :)





Ich liege allein in meinem Zimmer und fühle mich, als hätte mir einen schweren Backstein gegen den Magen geworfen. Mir ist speiübel und ich möchte mich am liebsten übergeben, wenn ich mich frage, wieso er das getan hat. Der Simon, den ich kannte... Ich schüttele den Kopf. Manchmal hatte ich das Gefühl, da wäre etwas an Simon, das ich nicht verstehen würde. Man könnte es als etwas ein wenig Trauriges beschreiben, aber in gewisser Weise machte das seinen Charme aus. Doch dass er so etwas tun könnte... Um Gottes Willen. Mein Magen dreht sich um. Ich fühle so einen Druck in mir, dass ich schreien und tagelang hysterisch durch die Straßen laufen und um mich schlagen und weinen will. Aber stattdessen bleibe ich wie betäubt in meinem Bett liegen, sinke tiefer in die Matratzen und Laken.
Zwischendurch kommt meine Tante Cassandra rein und ist jedes Mal aufs Neue entsetzt über meinen Zustand. Ich wette, sie hat bereits einen Beschwerdebrief an Davis\' Vorgesetzten verfasst. Sie bringt mir Tee, der unangerührt auf dem Nachttisch erkaltet.
Irgendwann schlafe ich ein. Meine Träume sind ein wirres Schauspiel aus Entsetzen und Erinnerungen, ein Toben aus verzerrten Bildern, in denen ich ertrinke und gegen die ich machtlos bin.

Als ich erwache ist mein Bett zerwühlt, ein paar der Decken liegen auf dem Boden. Es muss schon früher Abend sein. Der Tee ist von meinem Nachttisch ist durch neuen, noch warmen ersetzt. Unter einer Modezeitschrift liegt eine Zeitung. Die Londoner Abendnachrichten. Die Schlagzeile springt mir entgegen. „Amerikanischer Geschäftsmann Simon Doyle tot aufgefunden,“ prangt es dort schwarz auf weiß. Ich schlucke und lese langsam weiter. „In der Nacht vom 10. auf den 11. März wurde der Leichnam von Simon Doyle, dem Sohn eines New Yorker Geschäftsmannes, am Ufer der Themse...“ Der Text ist lang und irgendwann überfliege ich ihn nur noch und suche nach meinem Namen. Erleichtert stelle ich fest, dass mich der Artikel in keinem Wort erwähnt. Welche junge Dame will schon mit einem Selbstmord in Verbindung gebracht werden? Und doch kommt es mir so schäbig vor ausgerechnet jetzt um meinen guten Ruf besorgt zu sein.
Schließlich lese ich die letzten Sätze: „Besondere Anteilnahme gilt seinen Angehörigen ebenso wie seiner jungen Verlobten...“ Ich werfe die Zeitung an die Wand. Zwar will ich nicht zugeben, dass ich eifersüchtig bin, aber es macht mich wütend, dass die kleine Französin, die Simon heiraten sollte, in diesem vermaledeitem Artikel erwähnt wird. Ich funkele die auf dem Boden liegende Zeitung wütend an und lehne mich zurück.
Auf dem Nachttisch liegt noch etwas. Ein Brief. Kein Absender. Nach den Ereignissen der letzten vierundzwanzig Stunden sollte mich das überhaupt nicht wundern. Ich öffne den Umschlag und entfalte das Papier.


Beth,
ich hoffe du bist wohlauf, wenn dich dieser Brief erreicht. Leider muss ich dir mitteilen, dass wir uns in nächster Zeit nicht werden sehen können, da ich zu meiner lang geplanten Reise nach Frankreich aufbreche. Ich bin sicher, wir werden und im Verlaufe deiner ersten Ballsaison im Sommer wiedersehen. Vielleicht würde dir ein wenig Landluft auch gut tun. Ich wünsche dir von Herzen alles Gute,

deine Freundin Christel


Der Papier stößt kleine Schmerzensschreie aus, als ich es zerknülle. Ich bin wütend auf Christel und verwirrt. Sie verlässt also London. Warum? Von wegen lang geplante Reise. Man sieht schon an der Handschrift, wie hastig sie diese Notiz verfasst hat. Ich bin zwar irgendwie froh zu wissen, dass Christel alles überstanden hat, trotz ihrer dominanten Art ist sie meine Freundin, aber mir gefällt die Sache gar nicht. Die Andeutung, etwas Landluft könne mir guttun verstehe ich sehr wohl. Ich täte also gut daran Christels Beispiel zu folgen und die Stadt für ein Weilchen zu verlassen. Aber wieso? Mir dämmert, dass irgendwas im Gange ist. Und Christel ist wohl die einzige, die mir etwas darüber sagen kann.
Ohne weiter nachzudenken steige ich aus dem Bett und ziehe mich schnell an, werfe mir eine einfache Robe über und verlasse mein Zimmer. Im Salon sitzt meine Tante. Das wirre, halb ergraute Haar fällt ihr ins Gesicht, ihr Hände umklammern Stricknadeln und zu meinem überirdischen Glück schläft sie. Das ist zu einfach, denke ich mir kopfschüttelnd und schlüpfe in meine Schuhe.


Vor Christels Tür stehend und klopfend kann ich kaum fassen, dass ich mich erneut auf so verantwortungslose Weise davongestohlen habe. Wenn ich zurück bin, werde ich entweder mindestens zwei Köpfe kürzer sein oder die gute Cassandra wird bereits einen Herzinfarkt erlitten haben. Ich hoffe bloß, die Sache hat sich gelohnt und ich habe Christel nicht bereits verpasst.
Nach einigen Minuten des Wartens öffnet eine ältere Angestellte die Tür des Hauses, das Christel vermutlich von irgendeinem Onkel geerbt hat.
„Guten Abend, Miss,“ sagt sie in einem leicht verwirrten Tonfall. Sie ist überrascht eine junge Dame wie mich allein hier stehen zu sehen und das auch noch abends. „Sie wünschen...?“
„Guten Abend. Ich bin eine Freundin von Miss Abbot.“
„Ich bedauere, Miss Abbot ist gerade dabei abzureisen,“ erwidert sie und wartet ungeduldig darauf, die Tür schließen zu können.
„Ja, sicher, ich weiß. Aber ich muss sie unbedingt sprechen und mich nochmals von ihr verabschieden. Sie verstehen das doch sicher,“ meine ich lächelnd.
Sie seufzt. „Wen darf ich ankündigen?“
„Miss Elisabeth Temple.“
Etwas murmelnd geht die Frau davon und kommt bald darauf wieder zurück. „Miss Abbot ist bereits bei ihrer Kutsche. Sie kann Sie nicht mehr empfangen, ich bedaure,“ sagt sie in gelangweiltem Tonfall und will schon die Tür schließen.
In einem Anflug von Tollkühnheit und vor allem Dreistigkeit stelle ich meinen Fuß schnell in den Türrahmen und grinse der alten Schachtel frech entgegen. „Ich muss wirklich mit Miss Abbot sprechen. Es wäre doch so schade, wenn sie sich vor ihrer Abreise nicht von ihrer Freundin verabschieden könnte,“ sage ich während sich mein freches Grinsen in ein mildes, unsicheres Lächeln verwandelt. Um Himmels Willen, was habe ich mir dabei gedacht? Sie wird mir die schwere Tür vor der Nase zuschlagen und mir damit noch den Fuß abschlagen, wenn ich ihn nicht rechtzeitig wegziehe.
Die Dienerin rümpft die Nase und starrt mich böse an. Schließlich gibt sie nach. „Kommnse mit,“ murmelt sie seufzend.
Ich folge ihr in das Innere des Hauses, hinaus in den Hof, das Herzstück des Häuserblocks mit all seinen Ställen und Bediensteten. Ein paar schmutzige Kinder laufen über die Pflastersteine. „Da vorne,“ sagt die Dienerin udn deutet auf eine kleine Kutsche mit einem frischen dunkelgrünen Anstrich.





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